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# taz.de -- Kurzgeschichte zum Valentinstag: Treffen zwischen 4 und E
> Am kitschigsten Tag sollte man nicht vergessen: Liebe entspringt den
> seltsamsten Orten. Eine fiktive Annäherung an die Banalität der Romantik.
Bild: Dieser Aufzug hat eigentlich Platz für zwölf Personen. Hier transportie…
Die Spitze ihres Stöckelschuhs streifte den E-Knopf des Fahrstuhls, der nun
aufleuchtete; woraufhin sie, die Spitze, wenige Sekundenbruchteile später,
an der Innenseite der äußeren Knopfumrandung hängenblieb; woraufhin der
daran, am Stöckel, am Schuh, hängende rechte Unter-, dann auch Oberschenkel
Frau Küchlers sich ruckartig verkrampfte, Frau Küchler aufschrie und Herr
Vidmar, der für sie bisher unbemerkterweise auch im Fahrstuhl stand, vor
Schreck kurz vom Boden abhob.
Man muss so ausgiebig beschreiben, denn das war ihre erste Begegnung. Dann
folgte sieben Monate gar nichts. Herr Vidmar war [1][DHL-Paketbote], davor
Billigfleischer bei [2][Wiesenhof] gewesen. Schlecht, immer diese kalten
Schweinehälften. Besser, diese mittelwarmen Pakete, jetzt. Vidmar hatte an
ausschnittsweise ausgiebig beschriebenem Tag seinen Kollegen vertreten.
Dessen Zustellbezirk umfasst einen Teil der etwas besseren Stadtteile und
ist daher etwas kleiner als die anderen. So erhalten die etwas besseren
Leute ihre Pakete etwas schneller und außerdem etwas zuverlässiger. Viele
der im Viertel befindlichen Häuser besitzen überdies einen Portier, der die
Pakete annimmt und verwahrt, falls die, für die sie bestimmt waren, mal
wieder in irgendeinem der Türme um die Ecke die Bildschirme aufflackern
lassen müssen; auch das machte Herrn Vidmar an diesem Tag die Arbeit
erheblich einfacher.
Herr Vidmar, 53, über dessen Innenleben kaum etwas bekannt ist, weil, was
ist schon ein Innenleben, war wahrscheinlich also gut gelaunt gewesen, oder
zumindest nicht missgestimmt, als er die Amalienhöfe an jenem Tag betreten
hatte. Das ist zwar völlig egal, soll aber trotzdem nicht unerwähnt
bleiben. Irgendwas muss man ja sagen. In die Amalienhöfe trug er ein auf
1,21 x 0,45 x 0,86 Meter dimensioniertes Paket mit einer
Artischockenleuchte, heruntergesetzt aus einem Online-Designoutlet. Nicht
für Frau Küchler, sondern für Frau Becher, die abgewirtschaftete Erbin
eines inzwischen abgewirtschafteten Tierfutterfirmen-Erbes.
## Unverzeihliche Sünden
Frau Küchler bestellt nichts online, nur Klamotten, Schmuck und wechselnde
Putzkräfte für ihre Fünfzimmerwohnung. Bei ihr lief es gut. Sie war 46
Jahre alt und seit sieben Jahren Chefin der Rechtsabteilung bei
Hoboken-Schweps. Das ist eine große Frankfurter Unternehmensberatung,
Spezialgebiet: Mittelstand, Business-to-Business, Beratung von
Unternehmensberatungen. Frau Küchler war als Jugendliche
Leistungsschwimmerin gewesen und einfach immer ein bisschen härter als die
anderen. Dann Jurastudium, Volljuristin, Einstieg bei Strittmatter,
Aufstieg; Glück, dass zur richtigen Zeit der Posten bei Hoboken frei
geworden war.
Was Herr Vidmar sich nicht verzeihen kann: einmal bei Nacht mit seinem
Lieferwagen einen Fuchs totgefahren zu haben. Füchse sind die Ritter des
Waldes. Was Frau Küchler sich nicht verzeihen kann: sich als Jugendliche in
der Achsel tätowieren lassen zu haben. Sie hatte das Tattoo – einen Schwan
mit Musiknoten als Kopf – zwar schon längst wieder wegmachen lassen, aber
seither tut ihr der Arm weh beim Heben.
Es ist in gewisser Weise eine Täuschung, beide so gleichberechtigt
auftreten zu lassen. Denn sicher hat Herr Vidmar seine Wege, mit nervigen
Kunden umzugehen: einfach mal einen Inkasso- oder Drohbrief, gibt’s im
Internet, in den Briefkasten legen, zum Beispiel. Nein, das könnte er sich
natürlich nicht erlauben, schließlich hat er nur sechs Stunden gleich viel
zu wenig Zeit für den, also den größeren wie den kleineren, Bezirk. Nur Wut
bleibt ihm, Nervosität, riskante Überholmanöver. Oder vielleicht hat er
auch Spaß an Letzteren. Ich weiß es nicht.
Andererseits hatten beide – Frau Küchler vor der Arbeit, Herr Vidmar bei
der Arbeit – nun mal im Aufzug gestanden, beide atmend, beide elektronisch
belüftet und beliftet. Zwei Körper, zwei Gehirne, zwei Hosen, vier Schuhe,
die man an der Aufzugbürste saubermachen könnte (der Aufzug hat eine eigene
Schuhbürste). Vidmar war im fünften Stock eingestiegen, Küchler im vierten;
das Haus hat sechs Stockwerke, der Aufzug Platz für zwölf Personen, max.
1.430 Kilogramm.
Das Unglück, das aus Küchlers morgendlich-täglicher
Ich-krieg-das-Bein-noch-so-hoch-Routine hervorgegangen war, geschah
irgendwo zwischen 4 und E wie Erdgeschoss. Sie hatte Vidmar, wie gesagt,
zu diesem Zeitpunkt gar nicht bemerkt, was ihr fast zu denken gegeben
hätte. Wäre da nicht der alles überstrahlende Beinschock gewesen.
Sieben Monate später ist Frau Küchler ein paar einschneidende Kilometer in
Richtung Alles-Verloren-Hausen gefahren. Es wäre zu einfach zu denken, das
alles habe mit dem Krampf im Aufzug begonnen.
Nein: Sie hatte einfach ein paar mal zu oft den Kürzeren gezogen in
irgendwelchen rhetorischen Stellungskriegen in Meetings, ihren jungen,
dynamischen Stellvertreter, Herrn Dunguins, unterschätzt, sich mit ihren
Einschätzungen zur Übernahme von Habelstrater und Beine verkalkuliert und
war dem Hund des Vorstandsvorsitzenden aus Versehen auf den Fuß, also die
Pfote, getreten, der daraufhin einen Trümmerbruch erlitten, sich im
Hundekrankenhaus einen Krankenhauskeim eingefangen hatte und gestorben war.
Zumindest ist das die Version der Geschichte, die man sich in gewissen
Kreisen mittags am Suppenschalter im Biomarkt erzählt.
Sieben Monate später ist Herr Vidmar noch immer DHL-Paketbote und würde das
hoffentlich noch ein paar Jahre bleiben, bevor er mit mickriger Rente in
einem selbst ausgebauten Blockhaus im Harz verkümmern und, um die
Verkümmerung etwas aufzuhalten, ab und zu mit einem sehr gebrauchten
Lieferwagen noch immer Pakete ausfahren würde, wodurch er seine mickrige
Rente außerdem aufbessern könnte.
## Symbiotische Beziehung mit der DHL
Einer seiner Lieblingsfilme ist ja „The Transporter“ mit Jason Statham.
Daraus entnimmt er die unerschütterliche Gewissheit, niemals das Paket zu
öffnen. Daran hält er sich, noch immer. Eine symbiotische Beziehung, denn
die DHL ist schon durchaus froh, wenn jemand so zuverlässig mitarbeitet.
Sieben Monate später ist Herr Vidmar wieder im Zustellbezirk seines nun
ehemaligen Kollegen unterwegs, und zwar dauerhaft. Dem hat bei einer
Vollbremsung ein lose herumliegender Schraubenzieher die Schädeldecke
eingeschlagen. Das macht Herrn Vidmars Leben, wie gesagt, etwas angenehmer;
jetzt dauerhaft. Frau Küchler hat sich zwanzig Packungen Kombucha bestellt,
sie hatte einfach Lust darauf.
Der Portier leiht Herrn Vidmar widerwillig eine Sackkarre, mit der er
zweimal sieben und einmal sechs Packungen Kombucha vier Stockwerke nach
oben fährt, dann in Frau Küchlers Wohnung rollt, wieder zurückrollt und
runter fährt, dann von Neuem. Wiederum weiß ich nicht, was dann genau
geschieht. Jedenfalls sitzt Herr Vidmar nach der Auslieferung
verbotenerweise auf Frau Küchlers Seidensofa, eine halbe Stunde lang.
Er fragt, ob er ihr Bad benutzen darf, weil er tatsächlich wahnsinnig
dringend muss. Normalerweise pinkelt er in eine Flasche, scherzt er, im
Auto. Das macht Frau Küchler neugierig. Herr Vidmar vergisst in der Eile,
die Badezimmertür abzuschließen. Frau Küchler guckt durchs Schlüsselloch
und öffnet die Tür, gerade als Herr Vidmar spült. Sie haut ihm auf den
Arsch und wickelt dann seinen Unterleib in Paketband ein. Als sie fertig
ist, ist das Paketband aufgebraucht und sie muss neues bestellen. Wie gut,
dass sie Herrn Vidmar hat.
Am nächsten Tag kündigt Herr Vidmar seinen Job und zieht in eines der fünf
Zimmer bei Frau Küchler. Frau Küchler kündigt auch. Sie hat noch
dreieinhalb Millionen auf dem Konto. Vielleicht gründen sie einen
Online-Versandhandel. Für Paketboten. Mal sehen.
14 Feb 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Adrian Schulz
## TAGS
Liebe
Beziehung
Literatur
Valentinstag
Kolumne Bei aller Liebe
Analog-Hipster
Frankfurt/Main
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