# taz.de -- Theaterstück „Einer geht noch“: Ein Kampf auf Tod und Tod | |
> Der Schauspieler Mateng Pollkläsener hat Polyneuropathie. Er weigert sich | |
> aber, darunter zu leiden. Am Sonntag gibt er ihr auf der Bühne Saures. | |
Bild: Mateng Pollkläsener lässt sich nicht aufhalten auf dem Weg zur Bühne | |
BREMEN taz | Diesen Moment wird es also geben, im Stück. Irgendwann werden | |
die beiden ineinander verknäult und verbissen über die Bühnen rollen. Oben, | |
dann unten, dann wieder oben: Mateng Pollkläsener, der sich selbst spielt. | |
Und in ihn verhakt und verklammert: PNP, also die Polyneuropathie, die | |
seine ist. Eine erbarmungslose Klopperei ist das, wild und ohne Regeln, | |
kratzen, beißen, spucken, treten, alles, bis aufs Blut, im Stück „Einer | |
geht noch“, das am Sonntag [1][im Bremer Schauspielhaus Premiere feiern] | |
wird. | |
Längst hat Pollkläsener die Pappkrone verloren, und der rote | |
Samt-Imitat-Umhang trollt auf dem Boden, sein ganzes [2][König Ubu]-Kostüm | |
aus einer anderen Produktion, das der Schauspieler sich doch gerade erst | |
übergestreift hat auf der Probebühne, die ein bisschen abgeranzt ist, wie | |
jede Probebühne: Ein Lampenhalter mit blauer Glühbirne steht da, | |
Bierkisten, ein Beutelstaubsauger, manches ist Requisit, manches Schrott. | |
Die Prügelei zwischen PNP und Pollkläsener ist ein Kampf ohne Rücksicht auf | |
Verluste, ein Kampf um alles, um Leben und Leben, auf Tod und Tod. Denn | |
beide können ja ohne einander nicht sein: Erst wenn er selbst stirbt, ist | |
es auch mit Pollkläseners PNP vorbei, die ihn versucht unterzukriegen. | |
Solange Mateng Pollkläsener lebt, wird er auch diese tückische Krankheit | |
nicht besiegen können, diese unverwüstliche Diagnose oder lästige | |
Behinderung. | |
„Behinderung ist das bessere Wort“, sagt Walter Pohl, während die Regie mit | |
Pollkläsener über einen Gesichtsausdruck nachdenkt: Hier einen Moment des | |
Zögerns, ein Blick ins Publikum, gib ihnen den Zorn. | |
## Heilung gibt es nicht | |
Pohl wird, gleiches Baumfällerhemd wie Pollkläsener, gleiches klobiges | |
Schuhwerk, im Stück die PNP spielen. Krankheit würde ja meist mit dem | |
Gedanken an Heilung verknüpft, „die es hier nicht gibt“, sagt er. Und | |
Mateng Pollkläsener behindern, sein Sprechen hemmen, seine | |
Schauspielerkarriere stören, seine Bewegungen limitieren, das sei nun mal | |
genau, was er in seiner Rolle tue, als Polyneuropathie. | |
Polyneuropathie [3][steht im Lexikon] und selbstverständlich auch auf | |
[4][Wikipedia], und massig Fachliteratur existiert auch. Sie ist also kein | |
böser Bühneneinfall, sondern es gibt sie wirklich. Richtig schlau wird man | |
aus den Einträgen nicht: Das Bild ist diffus, Lähmungen, | |
Empfindungsstörungen gehören zu den Symptomen, Kribbeln in den Beinen | |
und/oder Armen, Muskelschwäche, Muskelkrämpfe und Lähmungen, Störungen der | |
Blasenentleerung, Verstopfung oder Durchfall. Manche haben dauernd | |
Schmerzen. | |
„Das habe ich nicht“, sagt Mateng Pollkläsener in der Probenpause. „Das … | |
mein Glück.“ Mitte der 1990er-Jahre hat er seine Diagnose bekommen. Bei ihm | |
fing es in den Beinen an. „Es war so ein komisches Gefühl unter den Füßen�… | |
sagt er. Damit geht er zum Orthopäden. Der schickt ihn dann zum Neurologen. | |
Was bei PNP passiert, ist, dass sich die Nervenzellen abbauen, aus dieser | |
oder jener Ursache. Mal ist ihr Myelin betroffen, also die Hülle, mal ihr | |
Axon, über das die Reize in den Kern geleitet werden. Es sind diejenigen | |
Nervenzellen betroffen, die nicht im Rückenmark und Hirn sitzen, sondern an | |
den Extremitäten, aber welchen, bleibt unbestimmt. Sie ist erblich, man | |
kann sie aber auch erwerben. | |
Das Ganze ist ein weitgehend unverstandener Prozess, und erfolgreich | |
behandeln lässt er sich nicht, geschweige denn stoppen. Nicht gerade toll | |
für jemanden, der Schauspieler ist, wie Mateng Pollkläsener. Nein, kaum aus | |
Film und Fernsehen bekannt oder Werbespots – hätte ihm das die PNP | |
vermasselt? – und auch nur ein paar Spielzeiten lang am Bremer Theater fest | |
engagiert. | |
Aber ein großer Schauspieler ist er ganz sicher, wenn Unverwechselbarkeit | |
Größe bedeutet in der darstellenden Kunst. „Ich bin Autodidakt“, sagt | |
Pollkläsener, als wäre das noch wichtig nach etwas über 35 Jahren | |
Bühnenleben, von denen „Einer geht noch“ handelt und in dem er König Ubu | |
war, der Vorgriff des 19. Jahrhunderts auf den 45. US-Präsidenten, und | |
Käpt'n Ahab. | |
Das Stück geschrieben hat Hans König. Es ist, das ergibt sich fast | |
zwangsläufig, eine Revue, eine Ein-Personen-Revue mit lauernder Allegorie. | |
Und es ist angemessen verrückt: Der Kunstgriff, die PNP zur Bühnenfigur zu | |
machen, halb Stalkerin, halb Teufelin, mephistophelische Geliebte, ist | |
einer des Mysterienspiels, in dem im Mittelalter, Tugenden, Laster und | |
Todsünden durch die Vorstellungen tanzten. Surrealismus und Dada haben | |
diese Praxis Anfang des 20. Jahrhunderts wiederbelebt, möglicherweise auch | |
das Fin de Siècle, Hugo von Hofmannsthal et al. | |
Aber Dada ist schon das richtigere Stichwort: Mateng Pollkläsener und Hans | |
König bilden zusammen mit Wolfgang Suchner das [5][Theatre du Pain], sie | |
haben es gegründet, und das muss hier kurz erklärt werden, auch wenn das | |
Stück keine Theatre-du-Pain-Produktion ist. Dieses Ensemble kann mit Fug | |
und Recht als neodadaistisch bezeichnet werden. Von Bremen aus hat es ab | |
1984 fröhlichste Bedeutungsverweigerung betrieben: Albern, fäkal, brachial, | |
schamlos und verzweifelt, wie echte Komik immer. | |
Denn es sind metaphysische und logische Probleme, vor die das Absurde die | |
unerbittlich sinnvoll geordnete Welt stellt. Und in einem bekloppten Lied | |
über Leberwurst, die etwas für den Durst wäre, schwingt eben doch auch die | |
Skepsis mit, „ob die Dinge, die man uns aufs Brot schmiert, wirklich die | |
Dinge sind, für die wir sie halten“, wie Hans König, der Dichter und | |
Regisseur das mal gesagt hat. | |
Die Probe ist am Abend, die Pause draußen, schmaler Gang vom Vorgarten zur | |
Haustür, Platz für Fahrräder und Mülltonnen. Eine Amsel hasst vor sich hin, | |
die Sonne ist perdu. „Einer geht noch“ sei „kein Stück über Krankheit o… | |
Behinderung“, erläutert König. „Es ist ein Stück über den Umgang damit.… | |
Das mag wohl so sein. | |
Es ist aber zugleich auch ein Stück über Mateng Pollkläsener, und zwar fast | |
gar nicht den Privatmenschen, der kommt nur in seiner Bestimmung als | |
gewesenes Kind und geborener Ostwestfale zur Sprache. Sondern über den | |
Schauspieler Mateng Pollkläsener, den die Polyneuropathie mit einem | |
bizarren Gang begabt hat, der so komisch aussieht, dass die Leute darüber | |
lachen müssen. | |
## Der Anzugträger mit Kettensäge | |
Und weil es ein Stück ist über Mateng Pollkläsener, den Performer, ist es | |
notwendigerweise auch eins über das Theatre du Pain, denn „für mich ist es | |
das Elixier“, sagt er. Und umgekehrt fungiert er als dessen Kraftquelle: | |
weil er ja den Wahnsinn leben kann auf der Bühne. Den fröhlichen ebenso wie | |
den bedrohlichen. | |
Wahrscheinlich wäre Pollkläsener das auf jeder Bühne, weil er so explosiv | |
seine Rollen ausfüllt: Er bringt, scheinbar mühelos, einander | |
entgegengesetzte Extreme zusammen und lebt sie aus. Das macht ihn so | |
unberechenbar. Er kann ein Anzugträger sein, der plötzlich, aus einem | |
wortlosen inneren Beschluss heraus, die Kettensäge anlässt, durchs Publikum | |
wankt und auf der Bühne mit dem Mordinstrument Eier zerteilt. | |
Er kann der Steinzeitmensch sein, der sich gestisch und mimisch wie das | |
Abziehbild eines Cromagnon-Manns verhält, sich kratzt, sein Gegenüber | |
beriecht und sich selbst, und diesem in wohlgestanzten Phrasen eines | |
hochakademischen Diskurses über die Frühzeit berichtet: „Angst ist das | |
Agens schlechthin“, belehrt er den Fragesteller in religionspsychologischer | |
Manier: „Mythen sind nichts anderes als der Versuch, fundamentale Ängste zu | |
mildern“, doziert er, knackt einen Floh, den er an seinem Bauch entdeckt | |
und steckt ihn in den Mund. | |
„Einer geht noch“ lässt Pollkläsener diese Bravourstücke noch einmal | |
aufführen, gibt ihm Raum für sein Repertoire. Aber wenn er sich austobt, | |
kommt doch die PNP und unterbricht ihn dabei: „Aber wie soll das | |
weitergehen?“, fragt sie ihn dann. „Wo werden wir in fünf Jahren sein, mein | |
Lieber?“ Was gemein ist, denn bei aller Unsicherheit: Dass die PNP | |
voranschreitet, so viel ist gewiss. „Gibt’s denn genügend Regisseure, die | |
mit Versehrten arbeiten?“ Sie ist böse, diese Diagnose. Sie kann hemmen, | |
trübe Gedanken bereiten. | |
König geht jetzt rein, muss telefonieren. Draußen Gespräch mit Pollkläsener | |
auf der Holzbank, an der frischen Luft, ob ihn das bewegt, diese Frage mit | |
den fünf Jahren, der Zukunft? „Vielleicht“, sagt Mateng Pollkläsener, „… | |
das eher die Ängste von Hans.“ Er selbst habe die so nicht. „Ich“, sagt … | |
„lasse es auf mich zukommen.“ Dass die PNP gerne mehr Beachtung fände, ist | |
schließlich ihr Problem. Nicht seins. | |
12 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://theaterbremen.de/de_DE/kalender/einer-geht-noch.16127702#termine | |
[2] https://fr.wikisource.org/wiki/Ubu_roi_(1896) | |
[3] https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/polyneuropathie | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Polyneuropathie | |
[5] http://www.theatredupain.de/2010/sites/index.html | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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