# taz.de -- Medienkritikerin Samira El Ouassil: Stimme der reinen Vernunft | |
> Mit scharfer Analytik kritisiert Samira El Ouassil den Journalismus. Und | |
> wie reagiert die Branche? Die liebt sie trotzdem noch. | |
Bild: Samira El Ouassil nennt sich selbst die „Cheerleaderin der Medienwelt“ | |
Samira El Ouassil hat ein Hasswort, es heißt „Klartext“. Sie hat aber auch | |
ein Lieblingswort. Es ist ein wenig sperriger und lautet: | |
„Ambiguitätstoleranz“. Und wenn man wissen möchte, was ihrer Ansicht nach | |
derzeit schiefläuft im Journalismus, dann sind diese beiden Begriffe schon | |
mal ein guter Anfang. | |
El Ouassil ist Medienkritikerin – jedenfalls neben vielen anderen Dingen | |
auch. Seit knapp einem Jahr schreibt sie eine wöchentliche Kolumne für | |
[1][Übermedien]. Ein Onlineportal, das für den Grimme-Preis nominiert wurde | |
und über das es einmal hieß, es sei das Medienressort, das sich die | |
etablierten Häuser nicht mehr leisten könnten. Oder sich womöglich auch | |
nicht mehr leisten wollten. | |
Medienjournalist*innen gelten hinter vorgehaltener Hand als | |
„Nestbeschmutzer“, der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen | |
Branche wird gerne das abwertende Etikett „Kollegenschelte“ verpasst. | |
El Ouassils Texte aber liest die Branche aufmerksam, geradezu erleichtert. | |
Beinahe so, als würde hier endlich mal jemand Ordnung in dieses ganze | |
Schlamassel aus widersprüchlichen Handlungsmaximen bringen, in dem sich der | |
Journalismus spätestens seit Migrationsdebatte und AfD wähnt. | |
Was macht die 33-Jährige, die ein Kollege jüngst als „intellektuelle | |
Influencerin mit Kultstatus“ bezeichnete, bloß anders? | |
## Fetisch eines Porträtjournalisten | |
Wer das herausfinden will, wird unweigerlich zum Teilnehmer in einem | |
kleinen journalistischen Metaexperiment. Schuld daran ist ihr Text „Porträt | |
eines Porträt-Journalisten“. Es geht darin um Reporter in Cafés, denen kein | |
Klischee zu peinlich ist. Man könnte auch sagen: Es geht um den | |
Bedeutsamkeitsfetisch des modernen Journalismus. | |
Und jetzt sitzt man also selbst El Ouassil im Café gegenüber und versucht | |
tapfer, nicht in diese Klischee-Falle zu tappen. Man würde lügen, würde man | |
nicht zugeben: Es ist nicht leicht. | |
Dabei muss man sich ja bloß einmal den Lebenslauf der Münchnerin anschauen. | |
Schauspielerin im seichten Vorabendprogramm („Sturm der Liebe“), | |
Kanzlerkandidatin der Satiriker von „Die Partei“ („Es muss ein Rock durch | |
Deutschland gehen“), Kommunikationswissenschaftlerin, Mitglied beim | |
Hochbegabten-Verein Mensa, politische Ghostwriterin. | |
Wer hier eine geordnete Erzählung finden will, ist immer nur ein | |
willkürliches Gegensatzpaar vom Klischee entfernt. El Ouassil sagt: „Das | |
fällt mir eigentlich erst auf, wenn du das jetzt so aufzählst.“ | |
## Die fatale Macht von Symbolbildern | |
Durch diese Wolke des selbstironischen Understatements blickt man bei ihr | |
nie ganz durch. Dabei weiß sie natürlich ganz genau um das Dilemma ihres | |
Gegenübers. Wie soll man sich als Journalist*in überhaupt noch einer Person | |
annähern, wenn hinter jeder Interpretation der vorhergesagte | |
küchenpsychologische Abgrund lauern könnte? | |
El Ouassil lächelt über solche Bemühungen einfach hinweg – und liefert | |
einem während des Gesprächs dann doch noch eine Selbstbeschreibung, die | |
wirkt, als habe sie ihre Funktion im späteren Text gleich mit gedacht: | |
„Cheerleaderin der Medienwelt“. Was zwar lustig klingt, aber angesichts der | |
Akribie und der analytischen Kraft, mit der El Ouassil ihre Themen | |
bearbeitet, dann doch maßlos untertrieben ist. | |
In ihrer Kolumne „Wochenschau“ schreibt sie über die fatale Macht von | |
Symbolbildern, die Risiken falsch verstandener Ausgewogenheit oder eben den | |
Zwang von Porträtjournalisten, jeder profanen Alltäglichkeit tiefe | |
Bedeutung verschaffen zu wollen. El Ouassil will Strukturen offenlegen, | |
Wirkzusammenhänge erläutern. Der hämische Fingerzeig auf einzelne Personen | |
ist überhaupt nicht ihr Ding. | |
Heraus kommen dabei meist lange, bewundernswert kluge Texte, voll mit | |
Verweisen auf Medientheoretiker*innen und Philosoph*innen. | |
Übermedien-Mitbegründer Stefan Niggemeier erzählt über sie, manchmal komme | |
mitten in der Nacht vor dem Abgabetermin noch eine Mail: „Wird später, ich | |
muss nochmal in die Bibliothek und diese eine Studie nachschlagen.“ Sie | |
versuche ja letztlich nur ein Problem aufzudröseln, sagt sie selbst. | |
Vielleicht ist es genau das, was sie zu dieser besonderen Stimme der | |
deutschen Medienlandschaft macht. Diese Lust am „Aufdröseln“, an der auch | |
mal ausschweifenden Analyse, an der mühsamen Differenzierung. Als einmal | |
ein [2][Twitter-Streit zwischen der Standupperin Enissa Amani und der | |
Journalistin Anja Rützel] in heftige Rassismusvorwürfe mündet, | |
identifiziert El Ouassil einen „diskursiven Clusterfuck“, nur um | |
anschließend in einem 20.000-Zeichen-Essay drei grundlegende miteinander | |
kollidierende Diskursebenen freizulegen. Ein Shitstorm mit Mehrwert. | |
## Einsam und isoliert | |
„Ich mache keine Meinungskolumnen, sondern abwägende Texte“, sagt El | |
Ouassil. Und schaut man sich die vielen dankbaren Reaktionen auf ihre Texte | |
an, scheint genau das Leser*innen in den meisten Medien zu fehlen. | |
Aber kann man wirklich derart aus reiner Vernunft bestehen? El Ouassil | |
wirkt wie ein lebendiges Abbild ihrer Texte. Nicht nur, weil sie selbst am | |
Café-Tisch über komplexeste Dinge so gestochen scharf sprechen kann, wie | |
sie auch schreibt. Sondern weil sie ständig in einem Modus der prüfenden | |
Analyse unterwegs zu sein scheint. | |
Tatsächlich, erzählt sie, habe ihre Art zu denken und zu reden sie an der | |
Uni isoliert. Sehr einsam habe sie sich oft gefühlt – oder wie sie es in | |
Anlehnung an eine Theorie des Soziologen Harmut Rosa nennt: Sie habe keine | |
Resonanz gespürt. Erst später an der Schauspielschule habe sie dann | |
gelernt, Gefühle wirklich auszuhalten – Herzensbildung für einen | |
Kopfmenschen. | |
## Ausgeruhte Fehlerkultur | |
Es ist einer der ganz wenigen Momente, in denen einem El Ouassil einen | |
kurzen Blick auf mögliche biografische Schlüsselmomente gewährt. Also auf | |
das, was der von ihr beschriebene Porträtjournalist in einem | |
alchemistischen Akt dann in Bedeutsamkeit verwandelt. | |
Warum jetzt aber Medienkritik? Da sei sie ganz idealistisch, sagt El | |
Ouassil. Der Journalismus sei schließlich ein sinnstiftendes Element der | |
Gesellschaft. „Viele Menschen verstehen doch gar nicht, was | |
Journalist*innen eigentlich so machen. Und das ist auch der Grund für ihr | |
Misstrauen.“ Deshalb brauche es vor allem mehr Transparenz und eine offene | |
Fehlerkultur. | |
Womit man wieder bei „Klartext“ und „Ambiguitätstoleranz“ wäre. Auf d… | |
einen Seite ein Kampfbegriff, der Vorurteile als heroische | |
Wahrheitsverkündungen verkauft. Auf der anderen Seite die mühsame | |
Fähigkeit, bei der täglichen Auseinandersetzung mit der Realität auch | |
Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten auszuhalten. Das sei es, was | |
der Journalismus heute mehr als alles andere brauche, sagt El Ouassil. | |
El Ouassil weiß sehr gut, wovon sie spricht. Während der aufgeladenen | |
Migrationsdebatte bombardierten sie rechte Trolle in den sozialen | |
Netzwerken mit Hassbotschaften. So wurde El Ouassil selbst zur Zielscheibe. | |
„Ich habe keine identitätspolitische Agenda, aber Identitätspolitik macht | |
mich natürlich zum Thema“, sagt sie. | |
## Journalistische Selbstreflexion | |
El Ouassil thematisiert das auf ihre ganz eigene Art. An einem Augustabend | |
steht sie in einem Saal des Potsdamer Museums Barberini. Das | |
medienkritische Projekt „Floskelwolke“ feiert Geburtstag, El Ouassil soll | |
einen Impulsvortrag halten. „Mein Name ist Samira El Ouassil“, begrüßt sie | |
die Kolleg*innen. „Ich hoffe, ich habe das jetzt richtig ausgesprochen.“ | |
Ein paar Wochen später, im Café, stoppt man schließlich die Aufnahme und | |
fragt sich, ob sie mit ihrem Text über den Porträtjournalisten recht | |
behalten wird. Ob man also bloß „eine nachdenkliche Mischung aus den | |
vermuteten Vorurteilen der Leser, gemischt mit ein paar Interpretationen, | |
welche diese Erwartungen brechen“, schreiben wird. | |
Und dann beginnt man plötzlich zu verstehen, dass Samira El Ouassil damit | |
ihr Ziel bereits erreicht hat. Wo Reporter*innen beginnen, auch über die | |
eigene Unzulänglichkeit nachzudenken, fängt besserer Journalismus an. Und | |
mehr will sie eigentlich ja gar nicht. | |
8 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Graf | |
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