# taz.de -- Filmfestspiele mit Émile Zola und Joker: Von Anfang bis Ende begei… | |
> Dreyfus als Drama, der Superschurke Joker als fragiler Underdog und eine | |
> narzisstische Tänzerin als Verführerin bei den Filmfestspielen von | |
> Venedig. | |
Bild: Regisseur Pablo Larrain mit seinem „Ema“-Cast: Mariana di Girolamo un… | |
Erste Überraschung: Roman Polanski kann mit seinem Beitrag zum Wettbewerb | |
der 76. Mostra überzeugen. Mit einem Kostümfilm über die Dreyfusaffäre, | |
die trotz penibler Ausstattung und akribischer Rollenbesetzung praktisch | |
keinen Staub angesetzt hat. „J’accuse“, nach dem berühmten offenen Brief | |
Émile Zolas benannt, in dem sich der Schriftsteller 1898 gegen die | |
französische Militärführung und ihre Rolle bei der unrechtmäßigen | |
Verurteilung des Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen vermeintlichen | |
Landesverrats wandte, greift in seiner Demonstration der tiefsitzenden | |
antisemitischen Ressentiments, in diesem Fall der französischen | |
Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts, eine wieder sehr aktuelle Stimmung | |
auf. | |
Polanski konzentriert sich in seiner Verfilmung des Romans „Intrige“ von | |
Robert Harris besonders auf die Prozesse, die in dieser Angelegenheit | |
geführt wurden und die sich mehr und mehr zur Staatskrise weiteten. Seine | |
Hauptfigur ist dabei weniger Dreyfus, gespielt von Louis Garrel, sondern | |
der Offizier Marie-Georges Picquart, Dreyfus’ Vorgesetzter, der sich, trotz | |
seines persönlichen Antisemitismus, zum Verteidiger des Verurteilten macht, | |
sobald er entdeckt, dass jemand anderes der Verräter sein muss. | |
Jean Dujardin gibt diesen mit spitzem Schnauzbart geschmückten Soldaten mit | |
steifer Würde, als Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit aus | |
Pflichtgefühl seinem eigenen Berufsstand gegenüber. Picquarts | |
Unbeirrbarkeit nutzt Polanski als Motor für die passgenau inszenierte | |
Zuspitzung, zu der er sein streng an den Fakten entlang erzähltes | |
Justizdrama führt. Klassische Mittel, höchst effektiv eingesetzt. | |
Die Jury-Präsidentin Lucrecia Martel hatte sich schon im Vorfeld zu | |
Polanski geäußert mit den Worten, dass sie „den Menschen nicht von seiner | |
Kunst“ trenne. Dass der wegen Vergewaltigung verurteilte Polanski | |
seinerseits die eigene Geschichte von diesem Film trennt, ist tatsächlich | |
unwahrscheinlich. Vielleicht sollte man ihm dennoch nicht den Gefallen tun | |
und es ihm gleichtun. Sein Film steht so deutlich stärker da. | |
## Das unkontrolliert meckernde Lachen | |
Zweite Überraschung: der Wettbewerbsfilm „Ema“ des Chilenen Pablo Larraín. | |
Eine Geschichte über eine Tänzerin gleichen Namens, die ihren Adoptivsohn | |
zurückgegeben hat, nachdem sie und ihr Mann Gastón sich als Eltern | |
überfordert gezeigt hatten. Zwei Personen, die nicht unbedingt sympathisch | |
erscheinen, narzisstisch in sich eingefaltet alle beide. | |
Doch wie die Titeldarstellerin Mariana Di Girolamo und Gael García Bernal | |
als Gastón diese beiden zugleich ätzenden wie anhaltend faszinierenden | |
Figuren ausgestalten, die allein mit ihren Blicken verzaubern können, wie | |
die Kamera eine unerschöpfliche Vielfalt an Farben aus der Stadtkulisse | |
Valparaísos schöpft und wie sich die Handlung in verwirrender, doch nie | |
selbstverliebter Weise auf ihre so nicht erwartete Auflösung im | |
Zickzackkurs hinbewegt, ist von Anfang bis Ende begeisternd. Dazu ein | |
wunderbar zwischen melancholisch-diffus, bedrohlich und ekstatisch befreit | |
gearbeiteter elektronischer Soundtrack des chilenisch-amerikanischen | |
Musikers Nicolas Jaar. Der beste Films des Wettbewerbs so weit. | |
Dritte Überraschung: Joaquin Phoenix als Comic-Superschurke „Joker“, | |
Batmans Gegenspieler. Dass man von ihm eine besondere und stark körperliche | |
Darbietung des bösen Clowns mit dem sehr breiten Lächeln erwarten durfte, | |
war sehr wahrscheinlich. Dass er seine Aufgabe dann aber so überragend | |
erledigen sollte, war ein weiterer Höhepunkt des Festivals bisher. | |
Von seinem anfallartigen, unkontrolliert meckernden Lachen bis zu grandios | |
entrückten Tanzeinlagen inkarniert Joaquin Phoenix die Entwicklung des | |
fragilen Underdogs Arthur Fleck hin zu seiner Rolle als Joker psychologisch | |
gründlich und abgründig. Von der massiven Filmmusik der isländischen | |
Komponistin Hildur Guðnadóttir zudem würdig unterstrichen. | |
2 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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