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# taz.de -- Sachsentour: Die Kirche der Flüchtlinge
> Die Herrnhuter Brüdergemeine ist bekannt für ihre Weihnachtssterne. Die
> Freikirche positioniert sich in Sachsen gegen Rechtspopulismus.
Bild: Herrnhut: Umgeben von Wald, geprägt von Religion
Herrnhut taz | Das Konzert des Posaunenchors im Park fällt aus. Am
Nachmittag hat es geschüttet, jetzt scheint die Abendsonne, aber auf dem
Plakat steht: „verschoben“. Ein paar Leute, die nichts von der Absage
wussten, unterhalten sich. Ja, sagt eine zierliche Frau mit grauen Haaren,
sie sei „brüderisch“. So nennen sich hier Frauen und Männer, die zur
Herrnhuter Brüdergemeine gehören, einer evangelischen Freikirche, die sich
nach ihrer alten Schreibweise ohne „d“ schreibt.
Wie wird man denn „brüderisch“? Bei ihr liege das in der Familie, sagt
Sabine Küchler, ihr Vater sei vor dem Krieg Missionar in Tansania gewesen,
danach Pfarrer in Thüringen, wo sie aufgewachsen ist. „Wollen Sie nicht
mitkommen zu meinem Bruder? Der kann Ihnen das alles genauer erzählen.“
Herrnhut, 90 Kilometer östlich von Dresden, ist eine Kleinstadt, die tief
von Religion geprägt ist. Nach ein paar Metern zeigt Küchler auf eine
Glocke. Sie wird nur einmal im Jahr geläutet, immer am Abend des 17. Juni.
Dann erinnert sich die Brüdergemeine an ihre Geburtsstunde.
Der Zimmermann Christian David fällte am 17. Juni 1722 in der Nähe den
ersten Baum, um ein Haus zu errichten. Er war ein Anhänger des
tschechischen Reformators Jan Hus und mit Glaubensbrüdern aus dem
katholischen Mähren geflohen. Graf Nikolaus von Zinzendorf gab den
Flüchtlingen Land, so entstand Herrnhut. Die Brüdergemeine schickte bald
Missionare in alle Welt. Heute zählt sie 1,3 Millionen Mitglieder und ist
vor allem für die Weihnachssterne bekannt, die in einer Manufaktur in der
Stadtmitte gefertigt werden.
Es ist eine Gründungsgeschichte, auf die man in Herrnhut stolz ist, aus der
die Gemeinde aber auch eine Verantwortung ableitet. „Wir sind eine
Flüchtlingskirche“ – den Satz hört man hier oft.
Der Bruder von Sabine Küchler lebt im Erdgeschoss des „Witwenhauses“, ein
Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Heinz Küchler, Nickelbrille und weißer
Haarkranz, öffnet sein Fenster zur Straße. Ja, klar, bitte reinkommen.
Seine Frau Heidrun setzt sich dazu.
Zwei Themen treiben die Brüdergemeine besonders um. Zum einen, was es heute
bedeutet, eine Flüchtlingskirche in einer Gegend zu sein, die wie die
Oberlausitz eine AfD-Hochburg ist. Zum anderen hat die Gemeinde mit
religiöser Konkurrenz im Ort zu kämpfen. 1999 gründeten einige Brüderische
das „Christliche Zentrum“, eine charismatische Gemeinde.
„Das ist ein Bruch, der durch die Familien ging“, erzählt Heidrun Küchler.
Allerdings, sagt sie, habe es Charismatiker hier auch schon zu DDR-Zeiten
gegeben. Gläubige also, die einen direkteren Zugang zum Heiligen Geist
suchten, die Bibel sehr wörtlich lesen und die Kindstaufe ablehnen. Heidrun
Küchler kommt aus einer Brüdergemeine-Familie im Ort, ihre Vorfahren
missionierten in Labrador, Kanada. Ihre Schwester schloss sich dem
Christlichen Zentrum an. „Das war sehr schwierig.“ Mittlerweile habe sich
das Verhältnis zwischen Brüdergemeine und Christlichem Zentrum etwas
entspannt, bei Gottesdiensten bete man manchmal zusammen.
## Das Kirchenasyl
Heftige Diskussionen gab es auch, als die Kirchenleitung im Juli 2016
entschied, einer irakischen Großfamilie Kirchenasyl zu gewähren. „Da
reagierten viele sehr zurückhaltend“, sagt Heinz Küchler. Die verschiedenen
Stimmen, die es der Gesellschaft gebe, habe man auch in der Gemeinde. Er
selbst gehörte zum Unterstützerkreis des Kirchenasyls. „Wir haben sogar
Nachtwachen organisiert, damit nicht mitten in der Nacht abgeschoben wird.“
Heute lebt die Großfamilie mit subsidiärem Schutz im Ort.
In der Gemeinde haben sie Tischgespräche eingeführt, für Menschen
unterschiedlicher Meinungen. 30 Minuten, vier Leute, ein Tisch, eine Frage.
Zum Beispiel: Menschenrechte – nur eine leere Floskel? „Bisher war einmal
einer da, der der AfD nahesteht“, sagt Heidrun Küchler.
Ende 2018 hat die Brüdergemeine eine „[1][Erklärung gegen
Rechtspopulismus]“ veröffentlicht. Eindeutig positionierte man sich „gegen
jede Form von Nationalegoismus und Eurozentrismus“. Und: „Wir
widersprechen, wenn das Sterben von Tausenden Menschen im Mittelmeer
bagatellisiert wird.“
Michael Schmorrde von der Kirchenleitung sagt: „Die Erklärung haben wir
verabschiedet, weil das in den Gemeinden gewünscht wurde.“ Man ziehe da
auch die Lehren aus der Vergangenheit, in der man sich zu sehr rausgehalten
habe, im Ersten Weltkrieg dem Militarismus nicht widersprochen habe, im
Nationalsozialismus mitgelaufen sei. Gab es deshalb Anfeindungen?
„Eigentlich nicht. Man kennt uns hier ja. Das war keine Überraschung.“
Gästepfarrerin Erdmute Frank sagt, sie können nicht einschätzen, ob die
Rechtspopulisten nur eine laute Minderheit sind oder die Mehrheit in
Sachsen: „Wir leben hier in Herrnhut schon auf einer Insel.“ Sie will noch
den Friedhof zeigen, den Gottesacker. Mehr als 6.000 Gräber, die Frauen
rechts, die Männer links, chronologisch angeordnet seit dem 18.
Jahrhundert. Jedes Gemeindemitglied ist aufgefordert, rechtzeitig einen
Lebenslauf zu schreiben, alle werden im Archiv gesammelt. „Das Bewusstsein
für die Vergangenheit ist uns sehr wichtig“, sagt Frank. Es gehe aber immer
auch um die Frage: Was ist für die heutige Zeit das Richtige?
24 Aug 2019
## LINKS
[1] https://www.ebu.de/fileadmin/media/Dokumente/Erklaerung_gegen_Rechtspopulis…
## AUTOREN
Jan Pfaff
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