# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Asymmetrische Berichterstattung | |
> Wenn Iran eine US-Drohne über dem Persischen Golf zerstört, warum | |
> hinterfragt kaum jemand die Legitimität der US-Militärpräsenz? | |
Bild: Schauplatz Persischer Golf | |
Man stelle sich vor, eine iranische Drohne würde über Florida abgeschossen | |
oder ein paar Kilometer vor der US-Küste. Niemand würde über den exakten | |
Abschussort diskutieren, vielmehr würden sich alle fragen, was diese Drohne | |
dort zu suchen hatte – 11.000 Kilometer entfernt von Teheran. | |
Als Iran am 20. Juni [1][eine US-Drohne zerstörte], knapp außerhalb der | |
Landesgrenze (Pentagon-Version) oder innerhalb des iranischen Luftraums | |
(Teheran-Version), fragte kaum jemand nach der Legitimität der | |
US-amerikanischen Militärpräsenz am Golf. Diese asymmetrische | |
Berichterstattung der westlichen Medien, die sich daran orientiert, ob das | |
Land, das internationales Recht verletzt, eine (gute) Demokratie oder ein | |
(böser) autoritärer Staat ist, bleibt heute völlig unwidersprochen. | |
Wenn man [2][in der aktuellen Eskalation] „Iran permanent als atomare oder | |
sonstige Bedrohung darstellt, vermittelt man die Botschaft, dass man das | |
Land angreifen müsse“, warnt Gregory Shupak. Für den Medienwissenschaftler | |
an der Guelph-Humber-Universität in Toronto ist das Gegenteil der Wahrheit | |
viel näher: dass nämlich „die USA Teheran bedrohen und nicht umgekehrt“. | |
Schließlich sei es die Regierung in Washington, die mit ihren Sanktionen | |
die iranische Wirtschaft zugrunde richtet und damit den Zugang der | |
Bevölkerung zu Nahrungsmitteln und Medikamenten einschränkt. Und die ihren | |
Gegner „mit Militärbasen sowie See-, Land- und Luftstreitkräften | |
eingekreist hat, wogegen Iran den USA nichts Vergleichbares angetan hat“. | |
## Der iranische Airbus als Jagdflugzeug | |
Diese ungleiche Wahrnehmung, die „spontan“ die Großmacht USA begünstigt, | |
stützt sich vor allem auf ein selektives Gedächtnis, ein Gemisch aus | |
politisch induziertem Vergessen und von Medien transportierten Lügen, die | |
auf Auslassungen basieren. Wer erinnert sich im Westen noch an Flug 655 der | |
Iran Air? Am 3. Juli 1988 zerstörte der Kreuzer „USS Vincennes“, während … | |
in iranischen Hoheitsgewässern patrouillierte, ein Linienflugzeug mit 290 | |
Passagieren an Bord, das auf dem Weg nach Dubai war. | |
Anfangs bestritten die USA, für den Abschuss verantwortlich zu sein; dann | |
erklärte Washington, die „Vincennes“ habe sich in internationalen Gewässe… | |
befunden und man habe den iranischen Airbus für ein Jagdflugzeug gehalten, | |
weil er bedrohlich auf den US-Kreuzer heruntergestoßen sei. Beides Lügen, | |
wie sich später herausstellte. Am Ende äußerte die US-Regierung ihr „tiefes | |
Bedauern“ über den Vorfall und zahlte 61,8 Millionen Dollar Entschädigung | |
an die Familien der Opfer. | |
Im Westen geriet diese Geschichte schnell in Vergessenheit, während ein | |
ganz ähnlicher Vorfall – obwohl früher geschehen – noch lange im | |
kollektiven Gedächtnis haften blieb: Am 1. September 1983 schoss ein | |
sowjetischer Suchoi-Jäger eine Boeing 747 der Korean Air Lines (KAL) ab, | |
die sich mit 269 Passagieren auf dem Weg von Seoul nach New York befand. | |
Mitten im Kalten Krieg war das Flugzeug nachts aus Versehen von seiner | |
Route abgekommen und in den sowjetischen Luftraum eingedrungen, direkt über | |
sensiblen Militäranlagen. Der Kreml erklärte, man habe die zivile Maschine | |
mit einem Spionageflugzeug verwechselt. Beide Dramen, sowohl der Abschuss | |
des koreanischen wie des iranischen Flugzeugs, sind ausreichend | |
dokumentiert, also gut zu vergleichen. Deshalb kann uns die | |
unterschiedliche Berichterstattung über die Flüge KAL 007 und Iran Air 655 | |
Aufschluss darüber geben, wie stark ideologisch beeinflusst die westliche | |
und insbesondere die US-Presse ist, obgleich Letztere in der ganzen Welt | |
als Vorbild gilt. | |
Am Tag nach dem Abschuss der Boeing 747 durch die russische Luftwaffe hieß | |
es im Editorial der New York Times (2. September 1983) unter dem Titel | |
„Mord in der Luft“: „Es kann keine Entschuldigung geben, wenn ein Land – | |
ganz gleich, welches – ein harmloses Linienflugzeug abschießt.“ Fünf Jahre | |
später, nach dem Abschuss des Iran-Air-Flugzeugs durch die „USS Vincennes“, | |
war eine solche Entschuldigung auf einmal möglich: „Auch wenn das Ereignis | |
schrecklich ist, es war ein Unfall“, hieß es im Editorial derselben Zeitung | |
am 5. Juli 1988. „Man kann sich nur schwer vorstellen, wie die Navy ihn | |
hätte verhindern können.“ | |
Die New York Times lud ihre Leser zu einem waghalsigen Gedankenexperiment | |
ein: Man möge sich an die Stelle von Captain Rogers versetzen, der den | |
Abschussbefehl gegeben hatte. Dem könne man schwerlich einen Vorwurf | |
machen. Vielmehr liege die Verantwortung, so die große liberale | |
Tageszeitung, auf beiden Seiten: „Auch der Iran ist verantwortlich, wenn er | |
zivile Flugzeuge in der Nähe eines Kampfgebiets fliegen lässt, zumal er | |
diese Auseinandersetzung selbst begonnen hat.“ | |
## Zweierlei Maß für zwei irrtümliche Abschüsse | |
Drei Jahre nach diesem Abschuss erschien eine vergleichenden Studie des | |
Politikwissenschaftlers Robert Entman, der die unterschiedliche | |
Darstellung beider Fälle in den US-Medien herausarbeitete. Im Fall des | |
sowjetischen Angriffs „betonten sie den moralischen Bankrott und die Schuld | |
der Nation, die den Schuss abgefeuert hatte, im zweiten Fall redeten sie | |
dagegen die Schuld klein und betonten die Komplexität von | |
Militäroperationen, bei denen moderne Technologie eine Schlüsselrolle | |
spielt“. | |
Dass mit zweierlei Maß gemessen wurde, wird auch daran deutlich, wie | |
wichtig das jeweilige Ereignis genommen und mit welchem Vokabular es | |
dargestellt wurde und was man über die Opfer lesen konnte. Über das | |
koreanische Flugzeug berichtete die Presse in den ersten beiden Wochen nach | |
dem Abschuss zwei- bis dreimal häufiger als im Fall des iranischen | |
Flugzeugs: auf 51 Seiten in Time Magazine und Newsweek KAL, auf 20 Seiten | |
über Iran Air; 286 Artikel in der New York Times über KAL, 102 über Iran | |
Air. | |
Nach dem sowjetischen Angriff überschlagen sich die Schlagzeilen vor | |
Empörung: „Mord in der Luft. Ein unbarmherziger Hinterhalt“ (Newsweek, 13. | |
September 1983); „Schießen, um zu töten. Gräueltat in der Luft. Die Sowjets | |
schießen ein ziviles Flugzeug ab“ (Time Magazine, 13. September 1983); | |
„Warum Moskau das tat“ (Newsweek, 19. September 1983). | |
Bei der tödlichen US-Rakete klang das dann ganz anders: Von einer Gräueltat | |
war nicht mehr die Rede, schon gar nicht von einer absichtlichen Tötung. | |
Der Modus wechselte vom Aktiv ins Passiv: „Warum es geschah“, titelte | |
Newsweek am 18. Juli 1988. So als gebe es für die Tat keinen Urheber. Das | |
Time Magazine setzte lieber die russische Marsmission auf die Titelseite | |
und berichtete nur auf den Innenseiten über den Abschuss. Unter der | |
Überschrift: „Was am Golf schiefging“. | |
## Brutal und kriminell oder tragisch und verständlich? | |
In der Washington Post und der New York Times lauteten die häufigsten | |
Adjektive über den Sowjet-Abschuss: „brutal“, „barbarisch“, „absicht… | |
„kriminell“. Der Abschuss durch ein US-Kriegsschiff war dagegen: | |
„irrtümlich“, „tragisch“, „verständlich“, „gerechtfertigt“. S… | |
Blick auf die Opfer war je nach dem trauerumflort oder neutral. Im einen | |
Fall waren „unschuldige Menschen“ oder „geliebte Menschen“ mit | |
„ergreifenden persönlichen Geschichten“ umgekommen, im anderen Fall waren | |
„Passagiere“, „Reisende“ oder „Menschen“ gestorben. | |
Solche journalistischen Automatismen tragen ebenso viel zur Desinformation | |
bei wie eindeutige Lügen. Nur dass eben die Analyse transatlantischer | |
Vorurteile längst nicht so hip ist wie die von Fake News. Iran zu hassen | |
und die Lügen des Pentagon zu verbreiten, hat bisher noch keiner | |
Journalistenkarriere geschadet: „Die Perser lügen wie die Teppichhändler“, | |
schrieb Richard Cohen, Leitartikler der Washington Post, am 29. September | |
2009. Und Bret Stephens, der das Atomabkommen mit Iran für „schlimmer als | |
München“ befunden hatte (The Wall Street Journal, 25. November 2013), ist | |
seit 2017 Kolumnist der New York Times. | |
Selbst als der Washington-Post-Kolumnist Jamal Kashoggi, im Oktober 2018 | |
mit einer Säge zerstückelt wurde, hatten die Lobhudeleien an die Adresse | |
der Saudis, der Erzfeinde Irans, kein Ende. Sogar im öffentlich-rechtlichen | |
Sender PBS, wo es als anrüchig gilt, den aktuellen US-Präsidenten besser zu | |
finden als seinen Amtsvorgänger, wird diese Regel missachtet, sobald es um | |
Teheran geht: „Präsident Obama hatte gehofft, Iran werde sich mäßigen und | |
ein anständiges Mitglied der Völkerfamilie werden. Er hat sich vollkommen | |
getäuscht“, hieß es in einem Kommentar vom 11. Mai 2018. | |
Der Satz stammte von dem Starkolumnisten David Brooks, dem Iran als der | |
„völkermörderischste Staat der Erde“ gilt der Gewalt und Terror auf der | |
ganzen Welt verbreite. Deshalb befand Brooks: „Trump hat recht, wenn er | |
dagegenhält. Vielleicht versteht er solche Leute besser als es Leute mit | |
einer tollen akademischen Karriere tun.“ | |
Das hat durchaus seine Logik: Wenn man die öffentliche Meinung auf einen | |
Krieg vorbereiten will, ist es besser, nichts von der Geschichte oder | |
Zivilisation des betroffenen Landes zu verstehen. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski. Wir danken Chloé Bonnafoux für | |
ihre Recherchen zu diesem Thema. | |
10 Aug 2019 | |
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