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# taz.de -- EU-BürgerInnen in Großbritannien: Wer durchs Brexit-Raster fällt
> Wer als EU-Bürger in Großbritannien Sozialhilfe benötigt, muss
> nachweisen, dass er im Land „ansässig“ ist. Das dauert lange, manchmal zu
> lange.
Bild: Momentan ist es für Migranten besonders mühsam, britische Sozialleistun…
London taz | „Sie haben mir Sozialhilfe drei- oder viermal verweigert und
behauptet, ich hätte kein Recht darauf.“ Nahezu mittellos lebt Natasja –
sie will nur unter ihrem Vornamen genannt werden – mit zwei Kindern in
einem Frauenhaus in England. Zweimal erlitt die 39-jährige Niederländerin,
die vor neun Jahren nach Großbritannien zog, häusliche Gewalt durch ihre
englischen Partner.
Nach britischem Recht hat sie als EU-Migrantin Anspruch auf Sozialhilfe
(Universal Credit – UC). Zwar hat sie eigentlich nicht lange genug
ununterbrochen gearbeitet, für Opfer häuslicher Gewalt gelten jedoch
spezielle Regeln. Die Verwalter ihrer Anträge beim Sozialamt ließen sie
dennoch durchfallen. Dabei hat Natasja nicht nur auf Grund ihrer
Erfahrungen ein Recht auf Sozialhilfe, sondern auch als Mutter und
Sorgeberechtigte zweier britischer Kinder.
[1][Es ist ein Fall unter vielen], bei dem in Großbritannien lebenden
Bürger*Innen aus Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) – die
anderen 27 EU-Mitglieder plus Island, Norwegen und Liechtenstein –
UC-Anträge abgelehnt worden sind, weil sie als „nicht ansässig“ eingestuft
werden. Da Großbritannien kein Meldewesen kennt, muss Ansässigkeit im
Detail nachgewiesen werden: ein Arbeitsverhältnis mit Mindestverdienst von
155 Pfund (166 Euro) die Woche oder glaubhafte Arbeitssuche oder
Beziehungen zu Briten oder Personen mit permanentem Bleiberecht. Wer fünf
Jahre ununterbrochen in Großbritannien gearbeitet hat, ist Einheimischen
gleichgestellt.
Wegen des Brexits gibt es nun für die geschätzt 3,5 bis 4,1 Millionen
EWR-Migrant*Innen ein neues Registrierungssystem, genannt settled status
(EUSS). Bis zum 30. Juni 2021 kann man dieses inzwischen kostenlose
Anmeldeverfahren für ein dauerhaftes Bleiberecht nutzen. Mit dem EUSS
könnte Natasja problemlos UC-Sozialhilfe beantragen.
Doch Natasjas niederländischer Reisepass, den sie für die EUSS-Anmeldung
benötigt, ist längst abgelaufen. Für einen neuen verlangt die
niederländische Botschaft 136,16 Euro sowie eine Bestätigung des britischen
Innenministeriums, dass sie nicht inzwischen in Großbritannien eingebürgert
wurde – eine „NQ-Bescheinigung“, die noch mal 260 Euro kostet. „Woher s…
ich so viel Geld nehmen“, fragt sie. Natasja steckt in der Falle: Ohne
gültigen Pass kann sie weder in Großbritannien ihren Status festigen noch
in die Niederlande zurückreisen.
Das Resultat? Natasja hat schon einmal in ihrer Verzweiflung versucht, sich
das Leben zu nehmen. Die Behörden hatten dafür keine Sympathie. „Bei einem
der Anträge, den sie ablehnten, war ich Rollstuhl-gebunden. Sie sagten mir,
wenn ich wirklich mittellos sei, würden sie mir mein Kind wegnehmen, weil
es britisch ist.“
## Dokumente werden nicht eingehend geprüft
In jedem Land ist es für Migranten mühsam und aufwendig, die nötigen
Unterlagen zusammenzuklauben, um vor einem Amt zu bestehen. Aber für
britische Sozialleistungen scheint es derzeit besonders schwer zu sein.
Laut Malgosia Pakulska vom East European Resource Centre (EERC) für
osteuropäische Migrant*Innen in Großbritannien haben 25 Prozent ihrer
Mandant*innen keine Sozialhilfe erhalten, weil sie fälschlicherweise als
nicht ansässig deklariert wurden.
Schon im Februar legte der britische Verband der
Sozialhilfeberatungsstellen (Nawra) die Erfahrungen ihrer 260
Mitgliederorganisationen einem Parlamentsausschuss vor. Demnach sind
UC-Sachbearbeiter oft unzureichend mit den Ansässigkeitsregeln vertraut.
Sie würden relevante Dokumente oft nicht annehmen und nicht einmal
Informationen aus dem eigenen Amt einsehen, die auf die Vorgeschichte der
Antragsteller*Innen hindeuten könnten. Und: „Wenn Sozialhilfe abgelehnt
wird, wird die Akte geschlossen. Antragsteller*innen können sich danach
nicht mehr darauf beziehen, selbst wenn darin wichtige Dokumente und Belege
enthalten sind.“
So werde sogar Opfern von Menschenhandel Hilfe verweigert. Das Resultat
dessen lässt sich leicht ausmalen: [2][Völlig unnötiges Elend] – nur weil
die Betroffenen aus EWR-Ländern kamen. Vor Monaten stieß die taz in der
Stadt Peterborough auf den obdachlosen 46-jährigen Slowaken Frank K., einen
ehemaligen Lieferanten, dem seine Dokumente geklaut wurden, wie er sagte,
und der deshalb nirgendwo mehr arbeiten konnte, dem deshalb die Mittel für
neue Dokumente fehlten und der deshalb keine Aussicht auf UC oder settled
status hat.
[3][„Universal Credit“] – eine als Vereinfachung gedachte Zusammenführung
der vielen unterschiedlichen Sozialleistungen in Großbritannien – ist
ohnehin umstritten. Auch Briten, die von bisherigen Zahlungen auf UC
umgestellt werden, stehen oft schlechter da als vorher. Hinter
vorgehaltener Hand sagen manche Berater der taz, es sei oft wie Absicht –
man warte, dass Betroffene Einspruch erheben. Die Erfolgschance liegt dann
bei 70 Prozent, weiß Daphne Hall, stellvertretende Nawra-Vorsitzende.
Die EU-Kommission teilt mit, EWR-Bürger müssten Einheimischen bei
Sozialleistungen gleichgestellt sein. Bereits 2011 warnte sie die britische
Regierung, es dürfe keine zusätzlichen Tests für EU-Bürger bei Anträgen auf
Sozialleistungen geben. Die Ansässigkeitsprüfung ist aber durchaus eine
zusätzliche Hürde. Daphne Hall: „Mit der landesweiten Ausweitung des
Universal Credit seit etwa 2017 und insbesondere seit letztem Jahr haben
die Fälle signifikant zugenommen, auch weil alle vorherigen Bewilligungen
auf Sozialhilfe dann neu überprüft werden.“ Die Prüfer vom Amt seien zwar
„Spezialisten beim Feststellen der sozialen, physischen und mentalen
Umstände, nicht aber in Fragen des Einwanderungsstatus.“
Vor einem Jahr berichtete das britische Arbeitsministerium, das Universal
Credit verwaltet, 28 Prozent aller bisherigen UC-Bewerbungen seien zunächst
abgelehnt worden. Ein Drittel davon, 9 Prozent aller Anträge, fielen
aufgrund des Ansässigkeitstests HRT oder wegen zu hohen Eigenvermögens
durch – weiter aufgeschlüsselt wurde das nicht. Gegenüber der taz teilt das
Ministerium mit, es könne keinen Anstieg an Klagen erkennen, in denen es um
Fragen des HRT ging. Für Daphne Hall widerlegt das gar nichts: „Oft werden
nach dem Widerspruch die Fälle von erfahrenen Beamten überprüft. Den
Beschwerden wird dann rasch nachgeben, bevor es zur statistisch erfassten
Anhörung kommt.“
Manche Betroffenen nehmen die erste Ablehnung hin. „Wenn sie dann doch eine
Überprüfung verlangen, gibt es noch nicht mal eine Frist, bis wann ein Fall
überprüft sein muss“, klagt Pakulska. Sie berichtet von Arbeitsnachweisen
für über sechs Jahre und Belege der Zahlung von Einkommensteuer in
Großbritannien von sogar acht Jahren – und trotzdem Ablehnung.
## Crowdfunding für Essens- und Heizkosten
Eine Hilfsstelle für Polen in der Nähe von Liverpool berichtet der taz, ein
polnischer Arbeitsmigrant, der unter dem alten Sozialhilfesystem
Niedriglohn- und Wohnzuschüsse erhielt, wurde bei der Umstellung auf UC
abgewiesen. „Er starb an Krebs, bevor das Resultat seines Widerspruchs
eintraf“, sagt Beraterin Justyna McMahon. Der Deutsche Fürsorgerat (German
Welfare Council) in London bestätigt, dass auch Deutsche falsch eingestuft
wurden, solange sie noch keinen settled status beantragt hatten.
Buchautorin Elena Remigi, die in ihrem „In Limbo Project“ Erfahrungen von
EU-Migrant*Innen mit dem Brexit dokumentiert, legte der taz anonyme
Aussagen über Verweigerung von Leistungsansprüchen vor, darunter auch von
Deutschen. „Wir haben für ein paar der Betroffenen sogar Crowdfunding
durchgeführt, als sie ohne Heizung und Essen für Kinder dastanden.“ Remigi
erzählt von vergeblichen Versuchen, dies in die britischen Medien zu
bringen. Es gab bisher lediglich einen knappen Bericht im Guardian, der
keine Details ausführte.
Bei Vertretungen von EU-Staaten in London gibt es kaum Informationen über
all dies. Die deutsche Botschaft teilt auf Anfrage mit, sie habe „keine
relevante Zahl von Problemfällen erhalten“. Aber sie sei sich „über
verletzliche Bürger*Innen bewusst, wie beispielsweise ältere Mitbürger und
Menschen in abgelegenen Wohngebieten, auch Witwen von ehemaligen britischen
Soldaten“. Bezüglich der Anträge für EUSS schreibt sie: „Manche sind sich
möglicherweise nicht der Tatsache bewusst, dass sie selbst aktiv werden
müssen, um einen Antrag zu stellen und nachher nicht mit ‚illegalem
Aufenthalt‘ dazustehen.“
Die deutsche Botschaft hat bereits mehr als 35 Informationsveranstaltungen
zum settled status in verschiedenen Städten in ganz Großbritannien
durchgeführt. Von den 126.000 bis 300.000 in Großbritannien lebenden
Deutschen haben bislang laut Innenministerium in London aber lediglich
29.700 EUSS beantragt – von allen EU-und EWR-Bürgern sind es nur insgesamt
909.300. Drei Viertel fehlen also noch. 65 Prozent von 805.500
abgefertigten Anträgen wurden bisher bewilligt, beim Rest wurde der Status
der Vorstufe erteilt, meist wegen zu geringer Aufenthaltsdauer.
## Die Behörden bemühen sich zu wenig
Das Innenministerium gibt sich proaktiv. Es hat nach eigenen Angaben ein
Zentrum mit über 1.500 Angestellten aufgestellt, um bei EUSS-Anträgen zu
helfen, darunter ein „digitaler Hilfedienst“ an 300 Orten. Bis zu 9
Millionen Pfund stünden für 57 Hilfsorganisationen landesweit bereit, „um
den auf 200.000 Personen geschätzten verletzlichen und gefährdeten
EWR-Bürger*Innen zur Seite zu stehen“. Das Arbeitsministerium betont, es
gebe beim Universal Credit keine Veränderungen wegen des Brexits. Der
settled status (EUSS) werde jegliche Unklarheiten beseitigen.
Malgosia Pakulska lässt das kalt. „Ich habe einen Mandanten, der zunächst
abgewiesen wurde – zu Recht. Inzwischen hat er jedoch den settled status,
weil seine Lebenspartnerin hier ansässig ist. Er wurde dennoch wieder
abgewiesen. Die Behörde hat sich einfach nicht bemüht, die neuen Dokumente
richtig anzuschauen. Wir haben Widerspruch eingelegt und warten auf das
Ergebnis.“
Kurz vor Veröffentlichung dieses Artikels erhielt Natasja ein NQ-Formular
vom britischen Innenministerium – gratis. Nun kann sie einen neuen Pass
beantragen. Nach jahrelangem Warten ist sie fassungslos und glaubt, es
könnte mit den Fragen der taz an die Behörden zu tun haben, obwohl ihr
spezifischer Fall dabei nicht erwähnt wurde.
Read the english version [4][here].
14 Aug 2019
## LINKS
[1] /Britisches-Brexit-Chaos/!5610824
[2] /Sozialleistungssystem-in-Grossbritannien/!5545077
[3] /Staatliche-Leistungen-und-Brexit/!5559731
[4] /EU-citizens-in-the-UK/!5618487
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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