# taz.de -- Der Hausbesuch: Politisiert bis in die Haarspitzen | |
> Kaja Schwab ist 15 und dank ihrer Eltern demoerfahren. Sie hat den ersten | |
> Schulstreik von Fridays for Future in Hannover organisiert. | |
Bild: Hört jetzt andere Musik als vor 6 Monaten: Kaja Schwab in ihrem Zimmer i… | |
Als Kaja Schwab zum ersten Mal das Video von Greta Thunbergs Rede bei der | |
UN-Klimakonferenz in Kattowitz sieht, ist die 15-Jährige so beeindruckt, | |
dass sie mit zwei Freundinnen den ersten Schulstreik von Fridays for Future | |
in Hannover organisiert. Fünf Monate später demonstrieren vor der | |
Europawahl 12.000 Menschen in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Zu | |
Besuch bei einer Schülerin, deren Alltag durch die Klimaproteste auf den | |
Kopf gestellt ist. | |
Draußen: Ein Mehrfamilienhaus in Hannovers Südstadt. Dunkler Backstein. | |
Viel Familien wohnen hier. Allein sieben Spielplätze gibt es, nach Kajas | |
Zählung, in der Nähe. Kürzlich hat neben dem Dönerladen um die Ecke ein | |
Café aufgemacht, der Flat White kostet 3,60 Euro. Mit dem Rad ist der | |
Maschsee keine zehn Minuten entfernt. | |
Drinnen: Hellblaue Vorhänge säumen die Fenster des Wohnzimmers in der | |
Altbauwohnung im ersten Stock. Über dem Klavier DVDs – die gesammelten | |
Werke von Loriot –, der Wäscheständer steht in der geöffneten Zwischentür | |
zum elterlichen Schlafzimmer. Noch mehr getrocknete Klamotten liegen | |
zusammengelegt auf den Stühlen um den großen Esstisch. Im Radio läuft | |
Deutschlandradio Kultur, an der Wand hängt Papas türkisfarbene | |
Akustikgitarre. | |
Kinderzimmer: Über der Bettdecke mit Faultieren auf dem Bezug hängt ein | |
Wandtuch mit Mandala. Auf dem Fenstersims leere Mate- und | |
Berliner-Luft-Flaschen, die als Kerzenständer fungieren, daneben zwei | |
Kakteen und das Sachbuch „Wer den Wind sät“. Hinter Apple-Computer und | |
MacBook auf dem Schreibtisch ist ein Konzertticket von Kraftklub an die | |
Korkwand gepinnt. Den direkten Balkonzugang nutzt Kaja eigentlich nur zum | |
Frühstücken. Ihre Mutter rauche dort manchmal, sie nicht. „Von meinen | |
Freunden raucht eigentlich fast niemand.“ | |
Tagesschau: Politik war früh ein Thema bei den Schwabs. Schon in der | |
Grundschule schaute Kaja Nachrichten, zuerst bei Kika, ab der dritten | |
Klasse die „Tagesschau“, wie ihre Mutter stolz erzählt. Das politische | |
Engagement hat Tradition: Kajas Großeltern in Polen standen der | |
Gewerkschaft Solidarność nahe. Ihre Mutter ist SPD-Mitglied. Die Bemerkung | |
sorgt bei Kajas kleiner Schwester Lenja, zwölf Jahre alt, für genervtes | |
Aufstöhnen inklusive Augenrollen. | |
Lautis: Als Kaja ihren Mitschüler*innen das erste Mal von der Idee eines | |
Schulstreiks in Hannover erzählte, wurde sie belächelt. „Dann kamen 3.000 | |
Menschen zur ersten Demo.“ Aus Häme wurde Respekt. Kaja grinst, wenn sie | |
sich an die chaotischen Anfänge erinnert. „Wir haben den ersten | |
Schulstreik innerhalb von drei Wochen organisiert, niemand von uns hatte | |
davor schon mal eine Demo angemeldet oder wusste, wie das geht.“ Die | |
„Lautis“, die Lautsprecher, seien viel zu klein gewesen. Mittlerweile leiht | |
sich die Gruppe Boxen bei einer Eventagentur. | |
Das erste Mal: Kaja war fünf bei ihrer ersten Demo gegen Atomkraftwerke. | |
Damals saß sie auf den Schultern ihres Vaters. Viele, die zu den | |
Fridays-for-Future-Protesten kommen, sind „das erste Mal auf einer Demo“. | |
Es gab welche, die aus dem Umland kamen, und den jungen Leuten aus der | |
Organisation schrieben: „Unser Zug hat Verspätung, können wir die Demo | |
später starten?“ Oder: „Ist es okay, wenn ich fünf Minuten später komme?… | |
erzählt Kaja und lacht. | |
Generation Instagram: Die Facebook-Seite der Gruppe hat keine tausend | |
Likes. „Niemand von uns kennt sich wirklich mit Facebook aus“, sagt Kaja. | |
Mit Abstand die meisten Leute erreicht die Gruppe auf „Insta“: Fast 5.000 | |
Menschen folgen dem Account, der seine Follower mit Terminen, Demo-Routen | |
und Videos versorgt. Zwar existiere auch ein Twitter-Profil, aber das wurde | |
nicht vom Organisationsteam eröffnet. „Wir haben schon mehrfach versucht, | |
die Person zu kontaktieren, aber haben bisher keine Antwort bekommen.“ | |
Schwänzen: Da Fridays for Future in Hannover nur etwa einmal im Monat | |
stattfindet, sei das mit dem Unterrichtsausfall halb so wild, sagt Kaja. | |
Ihre Eltern sehen das ebenfalls entspannt. Da die Demos am späten Vormittag | |
stattfinden, entfallen nur die letzten beiden Schulstunden. Im ersten | |
Halbjahr war das Chemie, nicht gerade Kajas Lieblingsfach, dann Spanisch. | |
„Den Stoff hole ich nach“, sagt die Zehntklässlerin. Die meisten Lehrer und | |
Lehrerinnen „sind damit okay“, die Schulleitung des Gymnasiums ist | |
„zwiegespalten“. Kajas Noten leiden nicht. „In den Fächern, auf die ich | |
Lust habe, Politik und Deutsch, bin ich sogar besser geworden.“ | |
Michael Kors: In ihrem Jahrgang gebe es nicht viele andere, die politisch | |
aktiv und links seien. „Manchmal komme ich mir schon etwas fremd vor, | |
zwischen den Stone-Island-Pullis und Michael-Kors-Taschen.“ Dafür wohnt | |
ihre beste Freundin im selben Haus, aber sie war drei Monate im Ausland, | |
als das mit Fridays for Future losging. „Ich bin froh, dass sie jetzt | |
endlich mit dabei ist.“ Mittlerweile hängt Kaja fast nur noch mit Leuten | |
von Fridays for Future ab, sie ernährt sich vegetarisch und geht zu den | |
Treffen der Aktiven Kreativen Linken. | |
Charts: Ihr Musikgeschmack hat sich auch geändert: „Ich kann keine Charts | |
mehr hören.“ Auf dem Konzert der Indie-Newcomer Giant Rooks in Hannover war | |
sie, sonst läuft halt viel „Antifa-Musik“ wie Feine Sahne Fischfilet oder | |
Kafvka. In der Küche hört sie trotzdem immer N-Joy, den Jugendsender des | |
NDR. Auf ein Genre lässt sich Kaja nicht festnageln. Aktueller | |
WhatsApp-Status: „Techno ist wichtiger als Deutschland.“ Abends feiern geht | |
sie seltener, „weil ich häufig am nächsten Tag produktiv sein will“. Oft | |
chillt sie mit ihren Freunden und Freundinnen am Küchengarten, einem | |
Betonplatz in Linden. „Da, wo immer die Skater abhängen.“ | |
Zirkus: Akrobatik, Aerial-Ring, Jonglierkeulen: Kaja ist seit vier Jahren | |
im Kinder- und Jugendzirkus Salto. Dreimal in der Woche ging sie zum | |
Training, seit Fridays for Future schafft sie das nicht immer. Über einen | |
Kontakt dort lernte sie zwei Mädchen kennen, mit ihnen organisierte sie die | |
ersten Schulstreiks. Die beiden Abiturientinnen sind schon länger bei | |
Amnesty International, und als Kaja von Fridays for Future erfuhr und dort | |
einstieg, waren sie sofort dabei. „Das Soziale im Zirkus hat mich sehr | |
geprägt“, sagt Kaja. Die drei sind jetzt die Delegierten der Ortsgruppe | |
Hannover. | |
Im Fokus der Medien: Mit Amnesty International hat Kaja im Juni bei einem | |
Flashmob vor dem Brandenburger Tor mitgemacht. Anlass war die Europawahl. | |
Das Engagement bei Amnesty ist ihr sehr wichtig. „Welche Bedrohung der | |
Klimawandel für die Menschenrechte darstellt, kommt in den Medien oft zu | |
kurz. Dabei sind die Menschenrechte auf Leben, Nahrung, Wasser und Wohnen | |
gerade im globalen Süden extrem bedroht.“ Viele Aktionen von Amnesty | |
erreichen nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie die Klimabewegung. „Mit | |
Fridays for Future stehen wir gerade voll im Fokus.“ Fast wöchentlich gebe | |
es Anfragen von Medien. Das heißt auch, dass „gefühlt jeden Tag Fridays for | |
Future ist“. Eine Stunde pro Tag gehe mindestens für Besprechungen drauf, | |
ein Plenum der Gruppe dauert schon mal drei bis sieben Stunden. „Wir | |
versuchen immer, alles ohne Hierarchien demokratisch auszudiskutieren.“ | |
Zukunft: Kaja kann sich gut vorstellen, später in die Politik zu gehen, | |
vielleicht wird sie mal bei einer Nichtregierungsorganisation arbeiten. | |
Parteien findet sie nicht veraltet, „die Bewegung hat aber gezeigt, dass | |
man auch außerhalb von Parteien erfolgreich Politik machen kann“. Wenn sie | |
mit der Schule fertig ist, möchte sie erst einmal verreisen, nach Indien | |
und Südostasien, aber nicht mit dem Flugzeug. Über ein eventuelles Studium | |
macht sie sich noch wenig Gedanken, druckst herum, sagt: „Eigentlich will | |
ich schon in Berlin studieren.“ Hannover sei aber auch eine schöne Stadt | |
und für Demos praktisch. Allerdings hat sie sich das „so genau noch nicht | |
überlegt. Ich habe ja noch drei Jahre bis zum Abi.“ | |
8 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Simon Wörz | |
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