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# taz.de -- Der Hausbesuch: Religionslehrer gegen rechts
> Mit seinen Schülern kratzt Wolfgang Rall in Angermünde Nazi-Sticker weg.
> Er klärt auf, gegen rechts – und erhält Drohungen. Angst hat er nicht.
Bild: Im Gaumen liegt die Heimat, findet Rall. Seine Vorfahren stammen aus Bess…
Er ist Religionslehrer und kämpft mit seinen Schülern gegen rechts. Zu
Besuch bei Wolfgang Rall in Angermünde in Brandenburg.
Draußen: An einer Durchfahrtstraße liegt ein Wohnblock. In den Fenstern
stehen Kakteen, Geranien, manche Vorhänge sind zugezogen.
Drinnen: Der Tisch ist schon gedeckt: Plätzchen und Kuchen auf einer blauen
Tischdecke. In Wolfgang Ralls Zimmer ein Fernseher, davor ein Sessel. Bis
zur Decke Bücher: „Meditieren für Dummies“, Schulbücher und eine
zweireihige DVD-Sammlung: „Für meine Frau wäre es unerträglich, meine Filme
zu sehen.“ Sie hat ihr eigenes Zimmer, jeder ein Telefon für sich.
„Juden-Rall“: Wolfgang Rall muss überlegen, wenn man ihn fragt, wie alt er
ist, „57“. Er trägt eine silbern gerahmte Brille und Karohemd, die
Armbanduhr baumelt um die linke Hand. Die Schüler kennen ihn als
engagierten Religionslehrer. Für die Rechten in der Kleinstadt ist er der
„Juden-Rall“. „Ein Gutmensch“, sagen sie, wie eine Beleidigung. Zugezog…
und trotzdem stadtbekannt. Er ist selbst in einer Familie von
„Flüchtlingen“ aufgewachsen, erzählt Rall und geht in die Küche: „Kaff…
Die Vorfahren: In der Küche steht ein Tisch mit zwei Stühlen. Der
Kaffeekocher brodelt für „ostdeutschen Kaffee“, ohne Filter. Heute sage man
ja eher „türkischer Kaffee“, sagt Rall. Im Regal steht eingemachtes Gemüs…
Daneben ein Rezeptbuch seiner Vorfahren aus Bessarabien. Ralls Großeltern
hatten sich mit deutschen Kolonisten dort am Schwarzen Meer angesiedelt.
Eine Gegend, in der sich russische, arabische und deutsche Traditionen und
Essen vermischten („multikulti, bevor es den Begriff gab“). Rall deutet auf
seinen Gaumen: Dort liege Heimat.
Aufgewachsen: Rall wächst auf einem DDR-Bauernhof in Rhinow im Havelland
auf. Der Großvater, der mit 30 erst nach Deutschland kam, brachte den
bessarabischen Dialekt mit und die Gastfreundschaft. Wenn jemand an der Tür
klingelte, wurde am Esstisch einfach ein Stuhl dazugestellt, und kein Tag
verging ohne Kuchen. Essen sei einfach nur ein Format gewesen, um zu reden,
sagt Rall und nimmt ein Stück Rhabarberkuchen. Er sei groß geworden mit
Dingen, die anders sind.
Theologie: Mit 16 Jahren zieht Rall aus. Er will Theologie studieren.
Damals habe ihn die Frage des aufrechten Gangs umgetrieben. Und Hannah
Arendt: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Das Studium war seine Antwort
auf das DDR-Regime. Ralls Klappstuhl quietscht, wenn er davon erzählt. In
der Kirche engagiert er sich in der „unabhängigen Friedensbewegung“, er
pflanzt Bäume für den Umweltschutz. Nebenbei arbeitet er als Filmvorführer,
in der Pflege und als Reinigungskraft.
Die Wende: Rall geht für ein Jahr in die USA („ohne die Kinder wäre ich nie
zurückgekommen“). Als er zurückkommt, suchen sie gerade Religionslehrer in
Brandenburg. Ob er nach Angermünde möchte? Er sagt zu. Er macht einen
Schnellkurs für Lehrer und wohnt Montag bis Freitag in einer
„Urlauberwohnung“. Es sei damals schon ein eher „ungemütlicher Ort“ ge…
mit einer „rechtsextremen Front und einer linken Szene mit Literaturcafés“.
Sein Lehrauftrag: Rall baut ein Lehrformat auf, in einer Gegend, in der es
seit 1940 keinen Religionsunterricht gab. „Handelnder Unterricht“, sagt
Rall vor seinem Computer mit Rotstich. In seinem YouTube-Kanal Videos von
Schülergruppen beim Putzen von Stolpersteinen, beim Restaurieren von
Gedenktafeln und Besuch von Gedenkstätten. Rall möchte klarmachen, was ihn
ängstigt: zu was der Mensch imstande ist. Er organisiert Veranstaltungen
und tritt einem Bürgerbündnis für eine gewaltfreie, tolerante und
weltoffene Stadt bei.
Sein Auftrag: Rall wünscht seinen Schülern „in einem Dschungel von
Meinungsangeboten eine Machete“. Er pausiert, und es hört sich an, als
würde er predigen: „Nein, das wäre manchen Leuten wieder zu extrem, mit der
Machete. Sagen wir: Geländer.“ Demokratie funktioniere nur, wenn ein
Gleichgewicht von oben und unten bestehe. Was passiert, wenn nicht, sehe
man an diversen populistischen Strömungen, die auf „Stimmenfang“ gingen.
Der Zuzug: 2015 zog Matthias Fischer, Vizepräsident des III.Wegs, einer
rechtsextremen Kleinpartei, nach Angermünde.Rall nickt aus dem Fenster. Ein
Nachbar sei einer von ihnen. Sie seien hier, „um den Osten zu
missionieren“, und eine Partei könne man nur schwer verbieten. Eloquent
seien sie und international vernetzt. Davon weiß Rall aus ihren Tweets, den
Facebook-Posts („fünf bis zehn täglich“) und dem Verfassungsschutzbericht.
Rechte Hetze: Eines Tages hätten sie Hunderte Papierschnipsel verteilt.
Darauf Aufschriften wie: „Kein Asylantenheim in unserer Nachbarschaft“,
erzählt Rall. „Die Schnipsel bleiben im Gras hängen, die rutschen
überallhin.“ Mit seinen Schülern hebt er alle auf. Der III. Weg beklebt
auch Dachrinnen und Briefkästen mit Stickern („900, ich habe sie alle
fotografiert“). „Juristisch bekommen wir die nicht weg“, sagt er – aber…
Wasser, Spülmittel und Nagellackentferner. Auf Demos steht er auf der
anderen Seite, „als Beobachter“, und er informiert besorgte Bürger: „Das
ist eine rechte Partei“, sage er dann und: „Die wollen die Demokratie
abschaffen.“ Persönlich trifft er die Parteimitglieder nur einmal.
Die Drohung: Es war der 27. Januar, erzählt Rall: „Ich war gerade mit der
Dachrinne beschäftigt.“ Er habe gebückt gestanden, als sein Nachbar kam,
auch Mitglied der Partei und „entsprechend tätowiert“. Eine hitzige
Diskussion. Die Kinder hätten hinter ihm gestanden. Besorgte Bürger gehen
dazwischen. Sie hielten die Handykamera auf ihn. Später postet die Partei
das Bild auf ihrer Website: „In der Mitte mit Brille und Bart: Wolfgang
Rall“. Sie hatten einen neuen Feind gefunden. Als Rall später einen
Drohbrief bekommt, sagt seine Frau: „Die Idioten, jetzt wirst du noch
aktiver.“
Gute Fragen: Die zu stellen beschäftigt Rall, seit er die Schülerzeitung
betreut. Welche Frage er sich selbst stellen würde? „Wie kriegst du
ehrenamtliches Engagement, Frau, Kinder, Enkelinnen und Vollzeitjob unter
einen Hut ohne Burn-out, Resignation oder Herzinfarkt?“
Und, wie?: Rall nimmt ein Foto aus dem Regal. „Der spielt eine große Rolle
für die Frage, warum ich das mache.“ Sein Onkel in einem Rollstuhl,
gelähmt, seit er 16 ist. „Ich habe Glück gehabt: dass ich reden kann, dass
ich predigen gelernt habe, mich engagieren kann, das ist ein Zusammenkommen
von günstigen Zufällen.“ Er habe die Pflicht, etwas daraus zu machen.
Begegnung: 2015 eröffnet Rall mit seiner Frau ein Begegnungscafé für
Asylbewerber und Einwohner der Stadt. Es gibt Kuchen und Kaffee, wie früher
bei seinem Großvater aus Bessarabien, zum Reden. Die Bewohner seien anfangs
skeptisch gewesen, das hätte sich aber geändert. Rall lehnt sich zurück:
„Viele DDR-Bürger konnten sich die Welt nicht ansehen, es fehlt das
praktische Erleben von anderen Kulturen.“
In zehn Jahren: „Ist es nicht mehr absurd, gegen Nazis zu demonstrieren,
und normal, dass eine Stadt sich wehrt“, sagt Rall. Der türkische Kaffee
steht noch immer unberührt auf dem Tisch.
26 Jul 2019
## AUTOREN
Ann Esswein
## TAGS
Religionsunterricht
Fremd und befremdlich
Soziales Engagement
Der Hausbesuch
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