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# taz.de -- Der Hausbesuch: Dann war da ein Engel
> Aviv Sheyn studierte Mathematik, war beim Militär, hat Filme gemacht. Er
> fühlt sich dort wohl, wo er nichts sein muss. Im Moment ist das Berlin.
Bild: Der israelische Tänzer Aviv Shein in seiner Berliner Wohnung
Aviv Sheyn sagt, er sei berufslos. Auch heimatlos? Der 35-Jährige ist in
Russland geboren, in Israel aufgewachsen und lebt seit einem Jahr in
Berlin. Hier beschäftigt er sich mit Tanz, Film und der Frage, wie Menschen
mit Räumen umgehen.
Draußen: Der Weg zu Aviv Sheyn in den Wedding, einen Ortsteil im Berliner
Norden, führt durch einen schmalen Park. Hier fließt die Panke. Von dort
sind es zwei Minuten Radweg bis zur Tür des sechsstöckigen Hauses. Nebenan
das Café Toto, eine Bäckerei, eine Zahnarztpraxis. Die Hausfassade leuchtet
in frisch gestrichenem Orange.
Drinnen: Im Dachgeschoss lebt Aviv Sheyn in einer WG mit „Johanna Zwei“.
Sie sei für „Johanna Eins“ zur Zwischenmiete eingezogen. Vom Küchenfenster
aus bleibt der Blick an einer mit Einschüssen übersäten Brandmauer hängen.
Sie sind noch aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Decke von Sheyns Zimmer ist
schräg, die Außenwand verglast. „Wenn die Sonne scheint, wird es ziemlich
heiß hier“, sagt er. An diesem Tag ist der Himmel grau. Durch die
Fensterfront sieht er den Fernsehturm, die goldene Kuppel der neuen
Synagoge und eine Werbereklame über den Häuserdächern. „Heim & more“ ste…
darauf. „Die leuchtet nachts sehr hell.“ Auf einer umgedrehten Holzkiste
serviert er Wasser und Kaffee. Kissen dienen als Sitzgelegenheiten.
Höhle: So viel Platz wie in Berlin hat er lange nicht gehabt. Bevor er vor
einem Jahr hierherkam, hat er in der Nähe von Jerusalem in einem Zelt
gewohnt, als es zu kalt wurde in einer Höhle. „Gebückt konnte man drin
stehen“, sagt er. Es sei gemütlich gewesen. Mit einer Isomatte, einem
Teppich, Büchern und ein paar Töpfen zum Kochen. In der Natur habe er für
sich gelebt, „ohne Israeli oder Jude sein zu müssen“. Dort habe er Muezzins
rufen hören. Ihre Stimmen waren Teil der Landschaft. „Es war die
bedeutendste Zeit meines Lebens da draußen“, sagt er. Weil er nichts habe
sein müssen.
Besitz: In Sheyns Zimmer liegen zwei Matratzen auf dem Boden. Ein paar
Kleider liegen zusammengefaltet in einem niedrigen Bastregal. Gestern hat
er auf einem Tanztreffen Gegenstände, die für ihn wichtig sind, an andere
Leute verschenkt. Ob er Sachen loswerden möchte? Nein, er wolle einfach nur
Dinge mit Bedeutung weitergeben. In einem geflochtenen Korb liegen
ordentlich zusammengerollt buntgeblümte Stoffbänder. Auf die Frage, wofür
die seien, verbindet sich der 35-Jährige die Augen. „Für Performances und
Tanzimprovisationen“, sagt er.
Sprache: Im Gespräch springt Sheyn zwischen Deutsch und Englisch. Seit
letztem Sommer besucht er einen Deutschkurs. In seinem Zimmer liegt Goethes
„Tagebuch“ und hebräische Lektüre. Am liebsten liest er gerade das
Kinderbuch „30 Geschichten von Tante Mila“. Das sei leichter zu verstehen,
und tiefgründig.
Vermissen: „I don’t miss Israel“, sagt Sheyn. Zurück möchte er nicht so
schnell, das brauche noch Zeit. Hier zu sein, bedeutet für ihn primär, weg
von Israel zu sein. Er hat eine komplexe, schwierige Beziehung zu der
Kultur und der dort vorherrschenden Struktur. Judentum ist für ihn zu viel
Kopf und Bücher, zu wenig Land. Jetzt, wo er in Berlin ist, bemerkt er aber
eine Verbundenheit zur Natur in Israel. Er vermisst die Wüste.
Migrant: Immer schon sehe er sich als Migrant, sagt Aviv Sheyn. Mit sieben
Jahren zog er mit seiner Familie von einem kleinen Dorf in Russland in die
Siedlung Alon Shvut in Israel. Seine Eltern hätten sich nie angepasst, sagt
er. Zwar begannen sie die jüdische Kultur in ihren Alltag zu integrieren,
Sabbat zu feiern, doch ihr Leben blieb isoliert. Sein Vater schloss sich
manchmal in seinem Zimmer ein, um russische TV-Serien zu schauen. Seine
Mutter wurde krank. Sie starb, als er noch ein Kind war. Als Erwachsener
war er weiter unterwegs, Indien, Deutschland, Frankreich.
Flüchtlingslager: In Berlin fühlt er sich wohl, erzählt Aviv Sheyn. In Tel
Aviv, wo er auch eine Weile gelebt hat, schwebe immer ein „gemeinsames
Label“, eine Identität über allen: „We are Israelis.“ Damit kann er sich
nicht identifizieren. Berlin sei ein Ort, an dem man zusammen allein sein
könne, „an dem du dich von deinen alten Wurzeln abkapseln kannst“. Die
Stadt ziehe die „lost people“ der ganzen Welt an. „It’s like a refugee
camp.“
Pflichtdienst: In Israel müssen alle zum Militär. In der Armee übernahm er
als Kommandant Verantwortung für zehn Soldat*innen. Eines Tages schoss er
mit dem Gewehr in die Luft. Er wurde von seinem Posten abgezogen und als
Guide in den Süden geschickt. Dort in der Wüste malte er Zeichen an Steine,
um Routen für angehende Soldat*innen zu markieren. „That was a gift“, sagt
er.
Begabung: In seiner Schulzeit nahm Aviv Sheyn mehrmals an der
internationalen Mathematik-Olympiade teil. Parallel zur Schule begann er
dann einen Bachelor in Mathematik an der Hebrew University in Jerusalem.
Nach der Armee schloss er mit dem Bachelor ab, machte innerhalb eines
Jahres den Master und widmete sich dann dem Film. Sein Abschlussfilm, für
den er sieben Menschen aus seinem Heimatort porträtierte, wurde auf dem
Israel Film Festival gezeigt. Mathematik ist trotzdem nicht ganz aus seinem
Leben verschwunden. Um Geld zu verdienen, gibt er Mathe-Nachhilfe.
Schmerzen: Als er die Filmschule beendete, fingen die Schmerzen an. Sie
zogen über die gesamte linke Hälfte seines Körpers. Kein Arzt, keine
Therapie konnte helfen. Er ging nach Indien, in der Hoffnung, dort Heilung
zu finden. Zumindest aber wäre es ein schönerer Ort, um die Schmerzen zu
ertragen, hoffte er. Am Tag des Ticketkaufes wurde er in Israel auf der
Straße zusammengeschlagen. Als er dann in Delhi war und nach Dharamsala
fliegen wollte, um dort ein ayurvedisches Krankenhaus zu besuchen, fiel
sein Flug aus. „Ich dachte, ich bleibe jetzt einfach hier sitzen, bis etwas
passiert“, sagt er.
Der Engel: Auf dem Flughafen in Indien habe er sich hilflos und verlassen
gefühlt. „Plötzlich stand ein Engel vor mir“, erzählt Sheyn. Er war gro�…
breit, muskulös. Er hieß Pschemeck und war ein Gewichtheber aus Polen. Erst
lud er Sheyn ein, zusammen in einen Aquapark namens „Splash“ am Stadtrand
zu gehen. Dann reisten sie nach Dharamsala. Das war der Umbruch. „Mein
bestes Jahr begann“, sagt Sheyn. Pschemek sei bald weitergereist. „Aber ich
konnte die Schmerzen annehmen. Ich habe ihnen zugehört.“ Ein Jahr später
seien sie weg gewesen.
Tanz: Während seines Filmstudiums fing Aviv Sheyn an zu tanzen. Nachdem er
aus Indien zurück war, versuchte er es wieder. Contact Improvisation,
Körperarbeit und Performance faszinierten ihn. „Ich habe nach Freiheit
gesucht. Ich wollte die Beziehung zu meinem Körper wieder aufbauen“, sagt
er. Er sieht jedoch auch Probleme: „Da ist immer noch eine Blase, wo
Hierarchien und Distanz herrschen.“ Man tanze zusammen, aber sobald die
Stunde vorbei ist, könne man nicht mal miteinander reden.
Raum: Sheyn beschäftigt sich neben der praktischen Körperarbeit auch
theoretisch viel mit Raum. Deshalb mietet er Räume an und lädt Leute ein,
um sich dort auszutauschen. „Ich möchte einen Ort haben, wo Menschen sich
öffnen, Dinge teilen und sich zu Hause fühlen können.“
Antworten: Im Gespräch stellt Aviv Sheyn sich selbst Fragen und gibt dann
selbst Antworten. Er suche nach einem „sense of home“, sagt er, „nach
Zugehörigkeit“. Das Reisen und Unterwegssein sei ein Weg, ein Zuhause zu
finden. In der Zwischenzeit hat es angefangen zu regnen. „Ich möchte noch
ein bisschen spazieren gehen“, sagt er.
11 Jul 2019
## AUTOREN
Hannah Bernstein
## TAGS
Israel
Zeitgenössischer Tanz
Tanz
Berlin
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Schwerpunkt Klimawandel
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