# taz.de -- Rechtsextremismus in Neumünster: Wo man einander im Blick hat | |
> Sicher, es gibt mehr als Nazis und Rocker in Neumünster. Aber das Image, | |
> rechts zu sein, klebt an der Stadt wie Hundedreck am Schuh. | |
Bild: Ergiebiges Pflaster für die NDP: das Vicelinviertel in Neumünster | |
NEUMÜNSTER taz | Alles liegt nahe beieinander in dieser Stadt. Es sind nur | |
ein paar Schritte vom Großflecken, wo das Straßenpflaster urheberrechtlich | |
geschützt ist und der größte Backshop Andresen heißt, bis ins | |
Vicelinviertel, in dem die „Orient Bäckerei“ Sesamkringel anbietet, und die | |
NPD ihre besten Ergebnisse holt. Nur eine Straße und die zwischen Beton | |
gepferchte Schwale trennen den gelben Kastenbau der Stadthalle von der | |
neuen Holsten-Galerie, in der es ein Tattoo-Studio mit Verbindungen zur | |
Neonazi- und Rockerszene gibt. | |
Vom Rathaus mit seiner Klinkerfassade ist es auch nicht weit bis zum | |
Gefängnis, das international bekannt wurde durch den Kurzzeithäftling | |
Carles Puigdemont. Das kommunale Friedrich-Ebert-Krankenhaus und die | |
Landes-Erstaufnahme für Geflüchtete in der ehemaligen Scholtz-Kaserne | |
trennen nur einige Hundert Meter. Alles, was in Neumünster wichtig ist, | |
Schlechtes wie Gutes, liegt wie unter einem Brennglas in dem Bereich, der | |
vom Ringstraßen-System um das Zentrum begrenzt wird. Vielleicht besteht | |
eben darin das Problem? | |
Schön findet es Heiner Voigt: „Die Stadt ist noch überschaubar, alle kennen | |
sich.“ Voigt, ehemaliger Leiter des Neumünsteraner Sozialamtes und seit | |
seinem Ruhestand für die Grünen im Stadtrat, ist in den 1970er-Jahren | |
hergezogen und fühlt sich „sauwohl“. Dass an der Stadt das Nazi-Image klebt | |
wie Hundedreck am Schuh, bedauert er. Aber, und der Eindruck sei auch | |
falsch: „Wir wollen die Probleme nicht verschweigen, aber die Stadt hat | |
sich konsolidiert, es hat sich vieles getan.“ | |
Da ist er – was nicht immer vorkommt – einig mit Oberbürgermeister Olaf | |
Tauras. Den haben mal die Grünen gestützt, heute gehört er der CDU an. Die | |
Lebensqualität in Neumünster sei hoch, das sagen beide. Aktuell wächst die | |
Bevölkerung der kreisfreien Stadt und liegt jetzt bei rund 80.000 Menschen. | |
Die Kitas und Schulen melden Bedarf, das freut den Bürgermeister. Neues | |
Gewerbe siedelt sich an, und Firmen, bei denen der Wegzug drohte, bleiben | |
nun doch am Ort. Logistik, Spedition: Die Stadt nutzt ihre Lage als | |
Drehkreuz im Zentrum Schleswig-Holsteins. | |
## Firmen halten, Arbeitsplätze schaffen | |
Firmen halten, Arbeitsplätze schaffen: Das steht für die Politik obenan. | |
Neumünster ist eine Arbeiterstadt, Fabrikschlote finden sich sogar im | |
Stadtwappen. 1816 entstand die erste Tuchfabrik der Stadt, 1871 die erste | |
von fünf Gerbereien. Erst die Fabriken machten aus der „Fleckengemeinde“ | |
eine Stadt, und die Arbeit reichte auch für die Geflüchteten, die nach dem | |
Zweiten Weltkrieg nach Neumünster strömten. In den 1960er-Jahren riefen die | |
Fabriken nach weiteren Arbeitskräften – es kamen Menschen aus der Türkei | |
und anderswo. | |
Immer noch stehen auch die Villen der Fabrikbesitzer und die Blocks der | |
Arbeiterfamilien fast Straße an Straße. Aber die Fabriken gibt es nicht | |
mehr: In den 70er-Jahren wurde eine nach der anderen verlagert oder ging | |
pleite. Heute ist Neumünster arm – die Stadt ist es, die Menschen sind es. | |
JedeR sechste hier ist überschuldet, so viele wie in keiner anderen Stadt | |
des Landes, [1][berichtete im Mai der Holsteinische Courier]. Im Stadtpark, | |
der nach dem Tuchmacher Renck benannt ist, lassen Männer schon vormittags | |
die Flaschen kreisen. In der „Alten Tuchfabrik“ im Herzen der Innenstadt, | |
am Großflecken, ist eine Suchtberatungsstelle untergebracht, und der | |
psychosoziale Dienst der Arbeiterwohlfahrt liegt in der Verlängerung des | |
Großfleckens. | |
Dass sich Beratungsstellen die Innenstadtlagen leisten können, ist auch ein | |
Zeichen dafür, dass interessierte Geschäftsleute nicht gerade Schlange | |
stehen. Ratsherr Voigt ist froh über die sozialen Angebote mitten im | |
Zentrum – „auf jeden Fall besser als Leerstand“. Den es aber trotzdem gib… | |
Den Kleinflecken gestaltete man vor einigen Jahren um, nun ist der | |
Großflecken dran: Die zentrale Straße weitet sich zwischen Kuhberg und | |
Haart zu einem lang gestreckten Platz, über den Autos fahren. Dass hier | |
weiterhin motorisierter Verkehr über die zentrale Achse fließen soll, | |
darüber haben vor einigen Jahren die BürgerInnen entschieden. Ratsherr | |
Voigt findet das nicht optimal, aber Beschluss ist Beschluss. Die Stadt | |
will den Großflecken umbauen, was nicht leicht ist: Der Architekt Dieter | |
Rogalla besitzt das Urheberrecht an dem Platz, da darf nicht einmal das | |
Pflaster sichtbar verändert werden. Testfelder im Kopfsteinpflaster zeigen, | |
wie es nach dem Umbau aussehen könnte. Zurzeit ist nicht einmal der Radweg | |
als solcher zu erkennen. | |
## Die Stadt versucht vieles | |
Die Stadt versucht vieles, aber nicht alles klappt. Wie der Versuch, im | |
Vicelinviertel einen „Nachbarschaftsgarten“ wachsen zu lassen: Auf einem | |
verkrauteten Grundstück steht ein einsamer Stuhl neben einer maroden | |
Schaukel. „Ein Beispiel für Scheitern“, sagt Voigt. Der ehemalige | |
Sozialamtschef kennt das Viertel, die Blocks mit dem Schimmel an den | |
Wänden, die für große Familien zu kleinen Wohnungen. Die Vermieter ließen | |
die Häuser unsaniert, sagt er: „Das Geld kommt vom Amt, die Leute wehren | |
sich nicht gegen die Bedingungen.“ Auch so ein Thema auf der To-do-Liste | |
der Stadt. | |
An der Kreuzung zwischen türkischem Kulturbüro und Moschee kommt der | |
Kommunalpolitiker mit einer Frau ins Gespräch. Sie sei hier geboren und | |
aufgewachsen, erzählt sie. Nach ein paar Monaten bei der Familie in der | |
Türkei ziehe es sie zurück in die Heimatstadt. Aber zurzeit ändere sich das | |
Viertel: „Ich konnte als Kind auf der Straße spielen – meine lasse ich | |
heute nicht mehr gern raus.“ Woran das liegt? Die Frau beklagt den Zuzug, | |
„Rumänen und Bulgaren“. Ob sie sich engagiere, will Voigt wissen, ob sie | |
wählen gehe, etwa. „Nein, das interessiert mich nicht“, sagt sie. Damit ist | |
sie nicht allein. | |
## Niedrige Wahlbeteiligung | |
Die Wahlbeteiligung im Viertel, in dem vor allem Türkischstämmige leben, | |
ist niedrig. Aber von denen, die wählen, machten zuletzt viele ihr Kreuz | |
bei der NPD. Seit den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr besetzt die Partei | |
zwei Stühle im Stadtrat. „Ätzend“, sagt Oberbürgermeister Tauras. Als | |
Verwaltungschef hat er alle Ratsmitglieder gleich zu behandeln, als Mensch | |
muss er das nicht: „Meine beiden Großväter sind im KZ gewesen, ich gebe | |
Nazis nicht die Hand.“ | |
Das tut auch Lara Dierks nicht. Aber sie hat sie im Blick. Mit vielen, die | |
zur rechten Szene gehören, ist sie schon zur Schule gegangen, sie weiß, wer | |
ein Hakenkreuz-Tattoo unter der Kleidung trägt, wer vor Jahren schon | |
einschlägige Musik hörte und wer schon immer bei den falschen Demos | |
mitgelaufen ist. „Von vielen heißt es, sie seien nicht mehr dabei – aber | |
ich traue denen nicht. Ich bin skeptisch, ob sich eine solche Grundhaltung | |
wandeln kann“, sagt die junge Frau, die ihren echten Namen nicht in der | |
Zeitung lesen will. Die kuschelige Überschaubarkeit der Stadt ist aus ihrem | |
Blickwinkel längst nicht so schön: „Hier passiert alles ziemlich offen“, | |
sagt sie, „die Nazis sind präsent in der Stadt.“ | |
## Wachsende Präsenz der rechten Szene | |
Und aktuell wachse diese Präsenz sogar noch: Geschäfte in der Innenstadt | |
wechseln die Besitzer – das Tattoo-Studio in der Holsten-Galerie, dessen | |
[2][Verbindungen zur Rechtsaußen- und Rockerszene] die taz aufdeckte, sei | |
nur ein Beispiel. Dierks macht dabei keine Unterschiede zwischen beiden | |
Gruppen: „Das ist alles eine Gemengelage.“ Sie wünscht sich mehr | |
Hinschauen, mehr Handeln von den Stadtverantwortlichen: „Das Problem ist | |
da. Es lässt sich nicht lösen, indem man wegschaut.“ | |
Schon wächst die nächste Generation heran: Lara Dierks’ Sohn berichtet von | |
Kindern auf dem Spielplatz, die „Heil Hitler!“ brüllen und Menschen mit | |
dunkler Hautfarbe beschimpfen. Ist es da nicht eine Überlegung, aus der | |
Stadt wegzuziehen? Dierks schüttelt entschieden den Kopf: „Wenn alle | |
normalen Leute hier abhauen, das geht gar nicht.“ Oberbürgermeister Tauras | |
sieht es ebenso: „Die große Mehrheit in der Stadt ist demokratisch. Man | |
darf den Nazis nicht die Bühne lassen.“ | |
Die Bühne: Sie ist überschaubar in Neumünster, umfasst in ihrem Kern nur | |
die paar Straßenzüge rund um den Großflecken. Die Nähe kann bedrohlich sein | |
oder eine Chance, je nach Betrachtungsweise. Man hat sich im Blick. | |
Gegenseitig. Ist das beunruhigend? Lara Dierks schüttelt wieder den Kopf: | |
„Ich sehe es nicht ein, Angst zu haben. Angst schränkt mich ein.“ | |
8 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.shz.de/lokales/holsteinischer-courier/schuldnerberatung-wird-im… | |
[2] /Rechtsextreme-etablieren-sich/!5600206 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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