# taz.de -- Kapitänin Carola Rackete: Mit klarem Kompass | |
> Sie rettete Menschen aus Seenot und nahm dafür das Gefängnis in Kauf. | |
> Jetzt ist Carola Rackete wieder auf freiem Fuß. Wer ist diese Frau? | |
Bild: Carola Rackete in Porto Empedocle am 1. Juli | |
LICATA/KÖLN taz | „Ich bin am Montag angekommen und hab vom vorherigen | |
Kapitän übernommen. Für die nächste Mission, also bis Ende des Monats.“ D… | |
31-jährige Carola Rackete steht auf dem Hauptdeck der „Sea-Watch 3“. Es ist | |
Sonntag, der 9. Juni. Das Schiff liegt im Hafen von Licata in Sizilien. In | |
vier Stunden wird die „Sea-Watch 3“ vom Ufer aus gesehen nur noch ein | |
kleiner Punkt auf dem weiten Wasser sein. Unterwegs. Hinaus aufs | |
Mittelmeer, wo jeder sechste Mensch auf der Flucht stirbt. Mindestens | |
18.000 Tote seit 2014. Darunter 678 oder noch mehr Kinder. | |
Für Rackete ist es die erste Mission als Kapitänin der „Sea-Watch 3“. „… | |
bereiten uns darauf vor, dass viele versuchen, das Mittelmeer zu | |
überqueren. Im Mai waren es 2.000 Personen, von denen wir wissen. 30 | |
Boote.“ Rackete spricht ruhig, nicht langsam. Beim Reden neigt sie den Kopf | |
oft leicht nach oben. Ihre Augenbrauen bewegen sich mit jedem Wort. „Wir | |
wissen von 106 Personen, die gestorben sind. Das heißt, wir bereiten uns | |
darauf vor, dass wir Rettungen durchführen müssen.“ | |
Am Mittwoch, dem 12. Juni, rettet die Crew 53 Menschen aus einem blauen | |
Gummiboot. Danach fahren Crew und Gerettete auf dem Meer hin und her, gut | |
zwei Wochen lang, wartend auf die Erlaubnis, einen sicheren Hafen anfahren | |
zu dürfen. Währenddessen können sich die Staaten der Europäischen Union | |
nicht auf eine Verteilung der Flüchtlinge einigen, auf die Italien als | |
Bedingung dafür pocht, um die „Sea-Watch 3“ anlegen zu lassen. | |
Vor Missionsbeginn schildert Rackete der taz an Bord der „Sea-Watch 3“, was | |
die Crew erwartet. „Wir bereiten uns auf die extrem schwierige Situation | |
vor, dass wir nicht mehr viel staatliche Kooperation bekommen, um die | |
Menschen irgendwo hinzubringen.“ 20 Tage später, am Samstag, dem 29. Juni, | |
endet Racketes Mission als Kapitänin damit, dass die italienische Polizei | |
sie vom Schiff abführt und unter Hausarrest stellt. | |
## „Verpflichtet Menschen zu retten“ | |
Man wirft Rackete Gehorsamsverweigerung und Widerstandsakte gegenüber einem | |
Kriegsschiff vor, verbotswidrige Navigation in italienischen | |
Hoheitsgewässern und Beihilfe zu illegaler Einwanderung. Ihr drohten bis zu | |
zehn Jahre Haft. Weil die Kapitänin die Verantwortung trägt dafür, dass sie | |
selbst, ihre 21 Crewmitglieder und die 53 geretteten Menschen am Leben sind | |
und einen sicheren Hafen erreicht haben. „Es gibt ein Seerecht“, sagt | |
Rackete in Licata vor Beginn der Mission. „Wir sind als Kapitäne | |
verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten.“ Danach steigt sie die | |
Metalltreppe hoch zur Schiffsbrücke. In den Stunden bis zur Abfahrt ist | |
noch viel zu tun. „Ich bin verantwortlich für alles, was auf diesem Schiff | |
passiert.“ | |
Die Ereignisse rund um die „Sea-Watch 3“ und ihre Kapitänin beschäftigten | |
in den letzten Tagen nicht nur eine italienische Untersuchungsrichterin und | |
verschiedene Anwält*innen. Menschen im In- und Ausland gingen zu | |
Solidaritätsveranstaltungen. Politiker*innen pochten auf die Pflicht zur | |
Seenotrettung und forderten Racketes Freilassung. Vertreter*innen der | |
Kirchen kritisierten Italien. Spendenaktionen sammelten binnen Tagen über | |
eine Million Euro für Rackete ein. | |
Ihre Ingewahrsamnahme hat ausgelöst, was Bilder toter Körper im Wasser, | |
Berichte über Leichenteile in Fischnetzen, Folterlager und Sklavenmärkte in | |
Libyen lange nicht mehr bewirkt haben: eine Diskussion über die | |
darniederliegende Seenotrettung Europas im Mittelmeer. | |
Ihrer Freiheit beraubt wurde Rackete, weil sie sich italienischen | |
Anweisungen widersetzt hat. Ohne Genehmigung fährt sie in italienische | |
Hoheitsgewässer, vor denen sie wochenlang auf Erlaubnis zur Einfahrt | |
gewartet hatte. Dann läuft sie unerlaubt den Hafen der kleinen Insel | |
Lampedusa an und stößt beim Anlegemanöver gegen ein Boot der italienischen | |
Finanzpolizei. Rackete beruft sich auf einen Notstand an Bord: Sie habe | |
Selbsttötungen und -verletzungen unter den Geretteten nicht mehr | |
ausschließen können. | |
## Höchstes Lob von Crewmitliedern | |
“In den Meetings hat sie immer klar die Lage analysiert und realistisch auf | |
die Entwicklungen reagiert. Die Crew stand hinter ihr bei allen | |
Entscheidungen. Es war allen klar, dass es einen extremen psychologischen | |
Notstand an Bord gab, der sich immer weiter verschlechterte. Wir mussten | |
schnellstmöglich in einen sicheren Hafen“, sagt Till Egen. Der 35-Jährige | |
aus Berlin war bei der Mission mit an Bord. „Sie hat ein super Gespür für | |
Menschen. Ein Großteil hatte ja 20-Stunden-Tage, wochenlang. Auch wegen der | |
Doppelschichten, um aufzupassen, dass niemand von Bord springt oder sich | |
sonst etwas antut. Carola war müde wie alle, aber immer total klar in ihrer | |
Haltung. Die hat mit einer Ruhe und Konsequenz die Entscheidungen gefunden, | |
die in der jeweiligen Situation am besten waren. Ich kann mir keine bessere | |
Kapitänin vorstellen.“ | |
Rackete wurde in der Nähe von Kiel geboren und wuchs im niedersächsischen | |
Hambühren auf. Ihr Vater ist Elektro-Ingenieur in Rente. Mit ihrer | |
Entscheidung, Nautik zu studieren, habe sie die Familie überrascht, sagt | |
Ekkehart Rackete am Telefon. „Niemand in der Familie hatte je einen Draht | |
zur Seefahrt.“ Das Geld für die notwendige Operation ihres starken | |
Sehfehlers habe seine Tochter sich in einem Schnellrestaurant verdient. | |
In einem Video auf der „Sea-Watch 3“ sitzt Carola Rackete seitlich an die | |
weiße Schiffswand gelehnt. Aufgenommen hat es Till Egen am 20. Juni. Acht | |
Tage nach der Rettung, sechs Tage vor Einfahrt in italienische | |
Hoheitsgewässer, neun Tage vor Racketes Ingewahrsamnahme. Halbzeit. | |
Rackete sieht aus wie kurz vor der Abreise in Licata – oder auch nicht. | |
Ihre Dreadlocks hat sie zum Zopf gebunden. Ein anderes Shirt. Die | |
Augenringe liegen tiefer. „Eine Rettung endet, wenn alle an einem sicheren | |
Ort sind“, sagt die Kapitänin. „So ein sicherer Ort liegt hier hinter mir: | |
Die Insel Lampedusa. Nur 15 Meilen entfernt. Aber uns ist es nicht erlaubt, | |
sie anzufahren.“ | |
## In einen politischen Machtkampf geraten | |
Mit ihrer Rettungsmission ist die Kapitänin in einen Machtkampf zwischen | |
europäischen Staaten geraten. Italien wäre bereit, das Schiff samt | |
Geretteten anlegen zu lassen – sofern andere Länder vorab zusichern, die | |
Menschen allesamt aufzunehmen. Doch in den 16 Tagen, in denen das Schiff | |
wartet, können sich die EU-Staaten nicht auf die Verteilung der 53 Menschen | |
einigen. | |
In Deutschland erklären sich mehrere Städte bereit, jeweils alle Geretteten | |
aufzunehmen. Das Bundesinnenministerium müsste dem allerdings zustimmen. | |
Und tut es nicht. Kein Präzedenzfall der Alleinaufnahme Deutschlands. Klar | |
ist: Wenn nichts passiert, muss die „Sea-Watch 3“ früher oder später in | |
Italien anlegen, dann sind die Geretteten italienische Angelegenheit. | |
Deutschland benutzt die Situation der „Sea-Watch 3“ als Druckmittel. | |
Bislang hat sich Seehofer nicht zu Racketes Ingewahrsamnahme geäußert. | |
Halbzeit. Den Rücken zum 15 Meilen entfernten Lampedusa sagt die Kapitänin: | |
“Wir, die Menschen in Europa, haben unseren Regierungen erlaubt, aus dem | |
Meer eine Mauer zu machen.“ Viel Unrecht passiere gerade, das sich | |
verhindern ließe. “Unrecht innerhalb der Europäischen Union. Weil Italien | |
zu lange allein gelassen wurde. Und größeres Unrecht. In Libyen werden | |
Menschenrechte verletzt. Sklaverei, Folter, Entführung, sexuelle Gewalt. | |
Aber es gibt eine Zivilgesellschaft, die für geltendes Recht kämpft. Und | |
ich bin Teil davon.“ | |
## „Ab ins Gefängnis!“ rufen sie, und: „Zigeunerin!“ | |
Ihr Handeln bringt der Kapitänin auch Hass ein. Als die Polizei Rackete in | |
der Nacht auf den 30. Juni von der „Sea-Watch 3“ abführt, klatschen einige | |
Menschen im Hafen von Lampedusa der Kapitänin Beifall. Andere aber sind | |
lauter. Die, die „Ab ins Gefängnis!“ rufen. „Zigeunerin!“ Oder ihr | |
wünschen, sie möge „von den Negern vergewaltigt werden“. Auf Lampedusa hat | |
bei der Europawahl fast die Hälfte die rechte Lega-Partei gewählt. In einer | |
italienischen Meinungsumfrage war ein gutes Drittel für die Aufnahme der | |
Geretteten. Dagegen: 61 Prozent. Von Matteo Salvinis Lega-Wähler*innen: 93 | |
Prozent. Das Verhalten der Kapitänin bezeichnete der italienische | |
Innenminister als „kriegerische Handlung“. | |
Rackete ist keine unerfahrene Kapitänin. Seit acht Jahren arbeitet sie auf | |
See. Vor allem in kalten Regionen: Meist auf Forschungsschiffen in der | |
Arktis und Antarktis. „Polarregionen mochte ich immer gern. Weil sie so | |
schön und inspirierend sind. Aber da zu arbeiten ist auch traurig. Weil man | |
mit ansieht, was Menschen dem Planeten antun. Wir verändern ihn sehr | |
schnell. Das Klima bricht zusammen.“ Ihre bislang sechs Rettungsmissionen | |
im Mittelmeer hat Rackete als Kapitänin ehrenamtlich durchgeführt. | |
„Die erste ist sie im Mai 2016 gefahren, auf der ‚Sea-Watch 2‘“, sagt R… | |
Neugebauer von der gleichnamigen Hilfsorganisation. „Wir hatten einen | |
Notruf von der Marine bekommen, wegen eines gekenterten Holzbootes mit | |
mehreren hundert Leuten.“ Nach dieser Mission habe Sea-Watch einige | |
Einsatzrichtlinien geändert. „Wegen der Extremsituation musste Carola von | |
den Standardabläufen abweichen. Ihre erste Mission war auch die erste, wo | |
wir Menschen an Bord genommen haben. Später kam heraus, dass in dieser | |
Woche mindestens 1.000 Menschen umgekommen sind.“ | |
Rackete lehnt an der weißen Schiffswand. „Während früherer Missionen habe | |
ich viel Leid gesehen.“ Zwischen den Wörtern lässt sie längere Pausen. „… | |
hatte einen kleinen Jungen im Arm, der seinen Vater ans Meer verloren | |
hatte. Ein paar Stunden, bevor wir sie erreichten. Ich war auch Kapitänin, | |
als wir bei einem Großunglück ankamen und fast alle waren tot. Trieben im | |
Meer.“ Sie befeuchtet ihre Lippen. „Das ist nicht unvermeidbar. Wir könnten | |
das lösen – wenn die EU wollte.“ | |
## Vom Privileg, helfen zu können | |
Im Moment könne sie nur tun, was sie für richtig halte, sagt Rackete. | |
„Zufällig habe ich die Fähigkeiten, die Möglichkeit und das Privileg, | |
helfen zu können. Alle Crewmitglieder hier haben entschieden, hier zu sein. | |
Aufzustehen für das Recht aller Menschen auf Rettung.“ Rackete schaut in | |
die Kamera. „Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen, wenn man mich dafür | |
verurteilt. Und mich vor Gericht zu verteidigen, wenn nötig. Denn was wir | |
tun, ist richtig. Die Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten, darf niemals | |
in Frage stehen.“ | |
Am Dienstag sollte eine Untersuchungsrichterin auf Sizilien entscheiden, ob | |
gegen Rackete ein Haftbefehl erlassen wird oder ob sie lediglich ein | |
Aufenthaltsverbot für die Provinz Agrigent, zu der auch Lampedusa gehört, | |
erhält. Die Entscheidung ist nun gefallen. Die Richterin Alessandra Vella | |
hob den verhängten Hausarrest am Dienstagnachmittag auf. | |
Vella erklärte, Rackete habe nicht gegen das Gesetz verstoßen, als sie mit | |
41 Flüchtlingen auf der Sea-Watch 3 auf Lampedusa anlegte. Die 31-Jährige | |
Kapitänin habe ihre Pflicht erfüllt, Menschenleben zu schützen. Sie könnte | |
allerdings noch immer wegen Beihilfe zur illegalen Immigration angeklagt | |
werden. Innenminister Matteo Salvini hatte auf eine härteres Urteil der | |
Richterin gehofft. Er werde Rackete nun so rasch wie möglich ausweisen, | |
erklärte er. | |
Ein taz-Interview mit Carola Rackete finden Sie unter: | |
[1][https://twitter.com/tazgezwitscher/status/1137671961335738368] | |
3 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/tazgezwitscher/status/1137671961335738368 | |
## AUTOREN | |
Anett Selle | |
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