| # taz.de -- Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: „KZ-ähnliche“ Lager … | |
| > Die #Yachtfleet ist zu ihrer Demo auf dem Mittelmeer aufgebrochen. Ihre | |
| > Forderung: Menschen nicht länger zurück nach Libyen bringen zu lassen. | |
| Bild: #Yachtfleet – Protest privater Segelboote für Seenotrettung | |
| Mittelmeer taz | Zwei weiße Boote segeln durch den Nebel. Etwa hundert | |
| Meter Sichtweite rundum. Das System zeigt an, dass irgendwo von links ein | |
| Schiff kommt. Das Brummen des Motors tönt wie gedämpft aus den Schwaden. | |
| Ein großes Schiff. | |
| „Sollen wir einen Bogen fahren, zur Sicherheit?“, fragt Julia Blawert. Die | |
| freie Künstlerin steht am Steuer, der Skipper Thomas Nuding schaut auf den | |
| Monitor: Auf blauem Hintergrund bewegen sich Schiffe als bunte Pfeile. Der | |
| Abstand bis zu Zusammenstößen bei aktuellem Kurs wird in Seemeilen | |
| angezeigt. | |
| „Fährste ein bisschen weiter rechts, dann passt das.“ Nuding nimmt einen | |
| Zipfel seines T-Shirts und trocknet seine Brille. „Ich sollte die mal | |
| wieder putzen, der Dreck zieht Feuchtigkeit an.“ Das Mittelmeer platscht | |
| und schwappt und schafft es kaum, sich zu dem aufzubäumen, was man Welle | |
| nennt. | |
| Es ist Montagmorgen, 17. Juni, kurz nach acht. Zweiter Demotag der | |
| [1][„#Yachtfleet“ auf dem Mittelmeer]: ein Protest privater Segelboote für | |
| Seenotrettung. Seit mehr als 24 Stunden sind sie auf See. Geplant ist, nach | |
| acht Tagen wieder an Land zu gehen. | |
| ## Dieselpest, Seekranke, kaputte Masten | |
| Beim [2][Demostart am Vortag] war Sonne, blauer Himmel und ein bis zwei | |
| Meter hohe Wellen. Die Crews gaben Blumen ins Wasser und schwiegen im | |
| Gedenken für mindestens 18.000 Tote, die seit 2014 bei der Flucht im | |
| Mittelmeer ertrunken sind. Für jedes Kind, jede Frau, jeden Mann und alle | |
| anderen. | |
| Um bis zu diesem Punkt zu kommen, hatten die Crews diverse Hürden zu | |
| überwinden: Dieselpest, einen kaputten Beibootmotor, Ausfall des alten, | |
| vierten Bootes wegen Schäden an der Masthalterung. Am ersten Demotag | |
| mussten sie bis Mitternacht die Tagesstrecke zurück nach Lampedusa fahren, | |
| weil ein seekrankes Schweizer Fernsehteam wieder an Land wollte, nach einem | |
| Tag auf See. Dann fiel das dritte Boot aus. | |
| Die übrigen zwei Boote und ihre Crews aus insgesamt knapp 20 Leuten sind | |
| seitdem durchgefahren, im Schichtsystem. Jetzt segeln die „Sebastian K.“ | |
| und die „Matteo S.“ im Nebel gen Süden durch die maltesische Such- und | |
| Rettungszone (SAR), beladen mit Rettungswesten- und -inseln. Auf der | |
| „Matteo S.“ sagt Skipper Thomas Nuding: „Wir wären auch mit einem Boot | |
| weitergefahren.“ | |
| ## 46,3 Millionen Euro für die „Küstenwache“ | |
| Der Skipper der „Sebastian K.“ ist Österreicher. „Wir ziehen das zusammen | |
| durch.“ Im Rahmen ihrer Demo fordern die Crews auch, dass die EU und | |
| Italien aufhören, die sogenannte libysche Küstenwache zu finanzieren. | |
| Mit 46,3 Millionen Euro der EU und Unterstützung durch Italien fängt die | |
| Organisation aus Mitgliedern verschiedener Milizen fliehende Menschen auf | |
| dem Meer ab und bringt sie zurück nach Libyen. Etwas, das für sämtliche | |
| europäischen Schiffe als verboten gilt seit einem Urteil des Europäischen | |
| Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2012. Für Libyer gilt euroäisches | |
| Recht nicht. Sie bringen die Leute zurück in die Lager. | |
| Wie viele Lager es in Libyen gibt, weiß niemand. Deutsche Diplomaten | |
| sprechen von „KZ-ähnlichen Zuständen“. Was in staatlichen und | |
| nichtstaatlichen Lagern passiert, ist in UN-Berichten dokumentiert: | |
| UN-Mitarbeiter*innen haben mit Überlebenden gesprochen. | |
| Aus dem [3][Bericht vom April 2018] | |
| Mann aus östlichem Libyen: „An Metallketten wurde ich an die Decke gehängt | |
| und geschlagen, bis ich das Bewusstsein verlor. Jede Nacht hörte ich die | |
| Schreie der anderen, die gefoltert wurden.“ | |
| Mann aus östlichem Libyen: „Ich wurde in eine Zelle gesteckt, | |
| blutverschmierte Wände und menschliches Haar am Boden. Wir waren etwa 27 | |
| Menschen, gefangen in einer 3x3-Meter-Zelle. Wir bekamen eine große Flasche | |
| (Wasser) zu trinken und mussten dieselbe Flasche zum Urinieren benutzen. | |
| Manche wurden mit Wasserrohren geschlagen. Da war ein kleiner Junge, etwa | |
| 14 Jahre alt, der weinte und wollte zu seiner Mutter. […] Ich sah, wie er | |
| geschlagen wurde, direkt vor mir.“ | |
| Im Bericht fordert die UN-Menschenrechtskommission Libyen auf, Kinder nicht | |
| mehr in Isolationshaft zu stecken. | |
| Aus dem [4][Bericht vom Dezember 2018:] | |
| Beginn des Berichts: „Migranten und Geflüchtete erleiden unvorstellbaren | |
| Horror während ihrer Reise durch und ihres Aufenthalts in Libyen. Ab dem | |
| Moment, in dem sie libyschen Boden betreten, befinden sie sich in der | |
| Gefahr rechtloser Tötung, Folter und anderer Misshandlung, willkürlicher | |
| Gefangenschaft und rechtloser Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und | |
| anderer Formen sexueller oder geschlechtsbasierter Gewalt, Sklaverei und | |
| Zwangsarbeit, Ausnutzung und Ausbeutung durch sowohl staatliche wie | |
| nichtstaatliche Akteure.“ | |
| 26-Jährige aus Darfur: „Wir waren 700–800 Menschen in einer großen Halle … | |
| Sie schossen denen in die Beine, die nicht zahlen konnten und ließen sie | |
| dann verbluten … Mein Sohn, da war er fünf Jahre alt, wurde mit einer | |
| großen Metallstange auf den Kopf geschlagen, um uns dazu zu bringen, | |
| schneller zu zahlen … Ich habe viele Menschen sterben sehen an diesem Ort, | |
| durch Schläge und Hunger. Da war ein Junge aus Somalia, er war Haut und | |
| Knochen. Er konnte nicht mal mehr stehen und sie schlugen ihn trotzdem. Er | |
| starb … bis jetzt, wenn ich meine Augen schließe, werde ich verfolgt von | |
| seinem Gesicht.“ | |
| Junge Mutter aus Liberia: „Wenn du krank wirst, stirbst du. Sie haben uns | |
| geschlagen, auf uns geschossen, auf uns getreten, wenn wir schliefen. Ich | |
| war schwanger und mein Bauch war sichtbar, aber das spielte für sie keine | |
| Rolle.“ | |
| Dreifache Mutter von der Elfenbeinküste auf Krücken: „Ich wurde an eine | |
| Verbrecherbande verkauft […] Sie gossen Benzin auf mein Bein und zündeten | |
| es an. Ich kann noch nicht wieder laufen. Sie schlugen alle und | |
| vergewaltigten die Frauen. Mein Zweijähriges wurde mit einer Zigarette | |
| verbrannt.“ | |
| Mann aus Kamerun: „Ich ging auf die Knie (wegen Bitte um ein Krankenhaus), | |
| wurde aber nur geschlagen, und mir wurde gesagt, ich solle den Mund halten. | |
| Bei meiner Frau setzten die Wehen ein […] es gab kein heißes Wasser, | |
| nichts. Wir mussten die (Nabel-)Schnur mit einem dreckigen Messer | |
| durchschneiden. Sie blutete weiter sehr stark … Sie starb in meinen Armen.“ | |
| 18-Jährige von der Elfenbeinküste, eingeschlossen in einem Truck: „Die | |
| Polizei kam um 21 Uhr, öffnete die Türen aber erst, als wir am | |
| Tarik-al-Sikka-Lager waren (Stunden später). Sie hatten Angst, wir könnten | |
| fliehen. Wir trommelten und trommelten gegen die Tür. Menschen übergaben | |
| sich und erstickten.“ | |
| Frau aus Nigeria: „Verkauft zu werden und gezwungen, Sex mit arabischen | |
| oder afrikanischen Männern zu haben, entweder um die Reise zu bezahlen oder | |
| um Geld zu erpressen, ist etwas, das Frauen und Mädchen oft passiert, ab | |
| dem ersten Tag in der Wüste, bis du Libyen verlässt.“ | |
| Frau aus Eritrea: „Wir waren 200 Menschen in einem Raum. Wir konnten nicht | |
| atmen oder uns bewegen oder die Beine strecken. Jede Nacht wurde ich von | |
| etwa sechs Männern vergewaltigt: manche Libyer, manche Afrikaner. So | |
| verbrachte ich fünf Monate. Meine Mutter musste ihr Haus verkaufen und | |
| alles andere und Geld borgen, um die 5000 US-Dollar zu bezahlen, die sie | |
| verlangten … Jetzt bin ich schwanger.“ | |
| 19-Jährige aus Nigeria (über ihre Zeit in der Zwangsprostitution): „Erst | |
| habe ich mich geweigert zu arbeiten. Aber wenn Mädchen sich weigerten zu | |
| arbeiten, wurden sie getötet oder vergewaltigt […]„ | |
| Mann aus Kamerun: „Sie schlagen uns jeden Tag. Sie benutzen Elektrostöcke, | |
| nur weil wir um Essen bitten oder (medizinische) Behandlung oder um | |
| Information, was mit uns passieren wird […] Wir sind nicht lebendig hier. | |
| Vor 10 Tagen ist jemand gestorben und mehr werden folgen, wenn wir hier | |
| bleiben.“ | |
| Frau aus Somalia: „Die Männer suchen sich die jungen, schönen Mädchen aus … | |
| Viele sind gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben, stattdessen | |
| sahen sie Leid, und viele verloren ihre Jungfräulichkeit (durch | |
| Vergewaltigung).“ | |
| Mann aus Tunesien: „Mit gezogener Waffe wurden wir in den Hof getrieben, | |
| und in die Füße geschossen. Wir wurden zurück in die Zellen gebracht und | |
| dort gelassen, um zu bluten.“ | |
| 30-Jährige von der Elfenbeinküste: „Sie kamen mit ihren Waffen rein und | |
| suchten sich die Frauen aus, die sie vergewaltigen wollten, und führten sie | |
| raus. Es spielte keine Rolle, ob die Frauen schwanger waren oder stillten … | |
| Ich sah mit eigenen Augen drei Frauen sterben. Dann mussten unsere Männer | |
| die Körper tragen und in die Wüste werfen … Sie zwangen die Frauen, sich | |
| nackt auszuziehen, sahen sie an und suchten manche für Vergewaltigung aus. | |
| […] Ein Mann, der sich weigerte, auf sie zu hören, wurde direkt vor uns | |
| erschossen.“ | |
| 17 Jun 2019 | |
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| [1] https://twitter.com/hashtag/yachtfleet | |
| [2] /Seenotrettung--Kladde-von-Anett-Selle/!5602986 | |
| [3] https://www.ohchr.org/Documents/Countries/LY/AbuseBehindBarsArbitraryUnlawf… | |
| [4] https://www.ohchr.org/Documents/Countries/LY/LibyaMigrationReport.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Anett Selle | |
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