# taz.de -- Seenotretter über seine Einsätze: „Du siehst sie untergehen“ | |
> Martin Ernst arbeitet ehrenamtlich auf dem Mittelmeer und hat Tausende | |
> vor dem Ertrinken gerettet. Er wünscht, seine Einsätze würden | |
> überflüssig. | |
Bild: Auf Rettungsmission: das Schiff „Sea-Eye“ vor der Küste Libyens im A… | |
taz: Herr Ernst, wie kann man sich Situationen vorstellen, in denen Sie | |
Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten? | |
Martin Ernst: Die Schlauchboote, in denen die Leute fliehen, haben nur fünf | |
Kammern, aufgeblasen mit heißen Autoabgasen. Wenn die nachts rausfahren, | |
kühlen die Abgase ab und die Boote fallen zusammen. Dann sind von 130 | |
Menschen 60 bis 70 im Wasser – und versuchen, sich am Rest des Bootes | |
festzuhalten. Du musst versuchen, sie zu retten. Aber da ertrinken viele. | |
Nicht jeder kann sich da ewig festhalten. Manchmal kommt man zu einem | |
Gummiboot, wo man drei, vier Stunden lang hingefahren ist und dann ist es | |
weg. Du findest es einen Tag später und es sind noch 20, 30 am Leben. Der | |
Rest ist irgendwie weg. | |
Sind schon Menschen vor Ihren Augen ertrunken? | |
Ja, das passiert. Du kannst halt nicht alle retten. Du kannst Schwimmwesten | |
rauswerfen, Rettungsringe, sodass jeder was zum Greifen kriegt. Aber die | |
Menschen sind das erste Mal in ihrem Leben auf dem Wasser. Die wissen | |
nicht, auf was sie sich da einlassen. Die können alle nicht schwimmen. 95 | |
Prozent. Wenn man die im Nachhinein fragt, die würden das so nie wieder | |
machen. Und dann passiert es, dass einer die Rettungsweste, die direkt vor | |
ihm ist, nicht erreichen kann. Weil er nicht einen Brustschwimmzug | |
hinkriegt. Der ertrinkt dann. Das ist kein lauter, schreiender Tod. Das ist | |
ganz langsam. Die sind nicht direkt weg: Du siehst sie untergehen. | |
Währenddessen hast du zwei andere rausgeholt. Aber du kannst halt nicht | |
zaubern. | |
Wenn einer unter Wasser ist, ist es zu spät? | |
Du kannst nicht hinterherspringen. Das ist keine normale Wasserrettung. | |
Wenn du da reinspringst, und da sind 20 andere am Ertrinken: Die halten | |
sich an dir fest. Der Mensch geht ja auch nicht direkt neben dir unter. Der | |
geht zehn Meter vor dir unter und dazwischen sind fünf, zehn andere | |
Menschen, denen du Rettungswesten hingeschmissen hast. Die müsstest du | |
überfahren, um an den Ertrinkenden ranzukommen. | |
Wie gehen Sie damit um, wenn Menschen vor Ihnen ertrinken? | |
Was soll ich sagen. Ich komme nicht für die Toten. Ich mache das für die | |
Lebenden. Ich versuche, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Das gehört | |
dazu. | |
Wie sind Sie zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer gekommen? | |
2014 habe ich eine WDR-Reportage gesehen, über die „Sea Watch 1“. Da habe | |
ich jemanden wiedererkannt, den ich zehn Jahre zuvor über eine andere NGO | |
kennengelernt hatte. Und dachte, ja warum nicht. Ich hatte bei einer | |
anderen NGO Bootfahren gelernt, war da auch Bootstrainer und seit 2002 bei | |
der DLRG, also der Wasserrettung. | |
Hatten Sie noch mal Kontakt mit jemandem, den Sie gerettet haben? | |
Ernst: Ne. Aber Reporterteams, die auf den Rettungsschiffen mitgefahren | |
sind, haben geguckt, wo die Leute untergekommen sind. Wie zum Beispiel die | |
235 Leute letztes Jahr auf der „Lifeline“. Da haben Reporter die Leute | |
später in Belgien, Portugal und Frankreich besucht. In Deutschland nicht. | |
Das hat niemanden aufgenommen. | |
Was ist mit der sogenannten [1][libyschen „Küstenwache“], die die EU und | |
Italien bezahlen? | |
Die Küstenwache ist an den Außenbordern interessiert, um die wieder | |
einzusammeln und an die Schleuser zurückzuverkaufen. Oder sie hat den | |
Auftrag, das Gummiboot zurückzuschleppen. Was nicht geht, die Boote sind | |
dafür gar nicht gebaut. Begegnungen sind meist gut ausgegangen. Sie sagen | |
“Verpisst euch“ oder drohen. “Helper, helper, I kill you.“ Es gab heikle | |
Situationen, aber die sind meistens so gelaufen, dass sie gesagt haben: | |
Nehmt ihr die Leute wech, und wir nehmen den Außenborder mit, also das | |
Boot. | |
Gibt es etwas, das Ihnen nicht bewusst war, als Sie 2016 angefangen haben? | |
Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange gehen würde. 2016 dachte ich: Die | |
Kacke ist am Dampfen. Mare Nostrum war eingestampft, dann kam Operation | |
Sophia, die vor allem nur noch Grenzsicherung war. Dann kamen die NGOs, die | |
das Suchen und Retten in Kooperation mit der italienischen Küstenwache und | |
Operation Sophia übernommen haben. Ich dachte, das würde vielleicht ein | |
Jahr gehen. Dann würde die Politik Mare Nostrum neu auflegen, und Italien | |
dieses Mal nicht alleinlassen damit. | |
Passiert ist das nicht. Man will die Menschen nicht retten: Man will sie | |
ersaufen lassen. Und sehen möchte man das am besten auch nicht. Die | |
Suchflugzeuge der NGOs, zum Beispiel, die retten niemanden – aber die | |
dokumentieren das Ertrinken. Also machen die Staaten auch ihnen das Leben | |
schwer. | |
Erfährt man von allen, die ertrinken? | |
Ne. Tunesische Fischer haben mal einen Bootsflüchtling rausgeholt, lebend, | |
der hatte eine Kajakweste an und wurde von der Strömung getragen. Er | |
meinte, sein Boot sei gesunken – und das zweite Boot, das gleichzeitig | |
losgefahren sei, das wurde nie gefunden. Da hat also einer von 240, 260 | |
Menschen überlebt. Die anderen sind weg. Und hätte er nicht überlebt, | |
wüsste man das nicht. | |
Gibt es etwas, das Sie sich für Ihre Arbeit wünschen würden? | |
Ich würde mir wünschen, dass Europa niemanden ertrinken lässt. Dass die | |
Länder die Leute untereinander aufteilen. Und vor allem, dass niemand mehr | |
fliehen muss. Vor Krieg. Oder weil er da, wo er lebt, nicht überleben kann, | |
weil er von Industrie- und Wirtschaftsmächten wie Europa an die Wand | |
gespielt wurde. Dass es gar nicht mehr nötig ist, dass Menschen sich in | |
Gefahr begeben. Dass meine Arbeit überflüssig wird. | |
12 Jun 2019 | |
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Anett Selle | |
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