# taz.de -- Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: Drei Boote aus Libyen | |
> Fischer funken. Die „Yachtfleet“ sucht nach einem Boot mit 80 Menschen. | |
> Lampedusa antwortet erst nicht und verweist dann auf Malta. Malta ist | |
> viel weiter weg. | |
Bild: Rettungswesten an Bord eines Rettungsschiffs von Mission Lifeline (Archiv… | |
Maltesische SAR-Zone taz | „Hafen Lampedusa, schnell, Hafen Lampedusa! Da | |
ist ein Boot aus Libyen. Da sind Frauen, da sind Kinder!“, ruft ein | |
italienischer Fischer über Funk. Der Hafen antwortet nicht. „Etwa 80 | |
Menschen! 50 Meilen vom Hafen Lampedusa! Der Motor funktioniert nicht! | |
Schnell, schnell! Hafen Lampedusa!“ Fünf Minuten und zahlreiche Funkrufe | |
der Fischer später. Der Hafen Lampedusa meldet sich. „Si. Warten Sie.“ | |
In der Ecke der Wohnküche, die auf der Matteo S. als Brücke dient, steht | |
Michele Angioni, der Koordinator der „#Yachtfleet“-Demo für Seenotrettung | |
von Mission Lifeline, mit Teilen der Crew zusammen. Alle hören den Funk. | |
Viele zeichnen ihn auf. „Hafen Lampedusa, Hafen Lampedusa!“ Die Fischer | |
funken weiter. Der Hafen schweigt. | |
Knapp 20 Minuten später. Immer noch funken die Fischer. „Schnell, schnell! | |
Hafen Lampedusa!“ Nächste Rückmeldung des Hafens: „Ihre Position fällt in | |
die Zuständigkeit der Autoritäten von Malta.“ Wo die Fischer gerade sind, | |
weiß man im Hafen über das Ortungssystem. „Wenden Sie sich an Malta.“ | |
Angioni rubbelt seine Haare. „Haben wir das aufgenommen?“ Allgemeines | |
Nicken. „Das leiten wir sofort weiter. Das darf der Hafen nicht. Die müssen | |
das selbst melden an Malta. Das ist, als würde ich einen Krankenwagen rufen | |
und der sagt: Sorry, wir sind nicht zuständig, versuch's woanders.“ | |
Die Fischer funken nochmal, sicherheitshalber: „Die Position ist –“ Angio… | |
schnappt sich Kugelschreiber und das nächstgelegene Papier. Er schreibt, | |
als wolle er gleichzeitig die Tischplatte gravieren. „– 34 Grad, 35 Minuten | |
und 12 Grad, 15 Minuten!“ Angioni ruft nach oben zum Skipper: „Thomas, Kurs | |
nach Norden!“ | |
Auf die Positionsangabe des Fischers antwortet der Hafen nochmal: Man sei | |
nicht zuständig. „Da sind Frauen! Da sind Kinder!“, ruft der Fischer. | |
Letzte Rückmeldung des Hafens: „Ja, wurde verstanden.“ Die Fischer funken. | |
Der Hafen schweigt. Angioni schnappt sich das Funkgerät. „Amigo! Bleib auf | |
diesem Kanal! Wir kontaktieren jetzt Malta!“ | |
## Sich überlappende Zuständigkeiten | |
Die Position der Fischer liegt in einem Bereich, in dem sich italienische | |
und maltesische Such- und Rettungszone (SAR) überlappen. Theoretisch sind | |
beide zuständig. „Von Lampedusa aus könnte Hilfe in einer Stunde da sein. | |
Aber Italien will nicht“, sagt Angioni. „Malta braucht vier Stunden, | |
mindestens.“ Er dreht sich zur Crew. „Wir können in anderthalb da sein. Mit | |
Segel und Motor. Vollgas.“ Die Crew zerstreut sich. Alle auf Position. | |
Es ist Donnerstagnachmittag. Seit fast 24 Stunden suchen die beiden | |
Segelboote der „#Yachtfleet“ von Mission Lifeline nach einem Boot mit etwa | |
80 Menschen. Am Mittwochabend hatte sie der NGO-Aufklärungsflieger Kolibri | |
alarmiert: Ein Boot sei in der libyschen SAR-Zone in Seenot. Die Sebastian | |
K. und Matteo S. waren die einzigen Seenotretter in der Nähe. Sie fuhren | |
los. | |
Die ganze Nacht auf Donnerstag haben die Crews in der libyschen SAR-Zone | |
gesucht. Nichts gefunden, außer libyschen Ölbohrinseln, deren Lichter | |
weithin sichtbar brennen. „Hier findet man öfter Boote“, sagte Nuding. „… | |
Menschen sehen die Lichter und denken, das sei Italien. Weil die Schleuser | |
ihnen sagen, es sei nur wenige Stunden entfernt.“ | |
Als die Funksprüche der Fischer am Donnerstagnachmittag eingehen, ist | |
bereits klar, dass mehrere Boote gleichzeitig aus Libyen losgefahren sind. | |
Drei sind bestätigt. Eins soll die sogenannte libysche „Küstenwache“ | |
abgefangen und die Menschen zurück in die Lager gebracht haben. Eins melden | |
die Fischer vor Lampedusa. Und das dritte? | |
Für die Crews der „#Yachtfleet“ wird Donnerstag der geschäftigste Tag der | |
gesamten Aktion. Am Ende werden die beiden Segelboote mehr als 120 | |
Seemeilen zurückgelegt haben. Raus aus der libyschen SAR-Zone, rein in die | |
maltesische, in Richtung Lampedusa. Die Besatzungen der beiden Rhibs – der | |
Beiboote – werden Stunden am Stück auf dem Meer verbracht haben, außer | |
Sichtweite der Segelboote, als Kundschafter. Vollbeladen mit | |
Rettungswesten. | |
## Malta prüft | |
„Malta sagt, sie klassifizieren das Boot nicht als in Seenot, weil der | |
Motor wieder läuft“, sagt Angioni. „Das war so klar.“ Ein Seenotfall lie… | |
vor, sobald Menschen auf einem Boot sich als in Seenot befindlich melden – | |
oder wenn Dritte ein Boot melden. Liegt eine Meldung von Seenot vor, ist | |
die zuständige offizielle Stelle verpflichtet, zu reagieren. „Seenot ist so | |
subjektiv, wie wann jemand den Krankenwagen ruft“, sagt Angioni. „Die | |
müssen immer kommen. Aber in der Realität… Leute aus einer meiner Crews | |
standen mal bis zu den Knien im Wasser. Sie waren auf einem Boot voller | |
Menschen im Einsatz, das unterging. Und Frontex meinte am Telefon, das sei | |
keine Seenot.“ Als Faustregel gelte, dass zu wenig Treibstoff, zu wenig | |
Trinkwasser und Nahrung oder medizinische Notfälle an Bord generell Seenot | |
bedeuten. „Dass ein Boot untergeht, ist auch ein ziemlich sicheres Zeichen. | |
Sollte man meinen.“ | |
Am Telefon sagt das RCC Malta: Über Treibstoff, Trinkwasser, Rettungswesten | |
oder Gesundheitszustand habe man bislang gar keine Informationen vorliegen. | |
„Wir werden das untersuchen.“ Als das Gespräch beendet ist, sagt Angioni: | |
„Immerhin.“ | |
Während der Fahrt bereiten sich die Crews auf den Segelbooten auf den | |
Ernstfall vor. „Bis Kolibri das nächste Mal fliegt, haben wir kaum eine | |
Chance, die Menschen zu finden“, sagt Skipper Thomas Nuding. „Aber wir | |
suchen.“ | |
Satellitentelefon und Mailprogramm sind in Dauernutzung. „Das ist das Ziel | |
von Yachtfleet“, sagt Nuding: „Da sein und im Zweifelsfall helfen können. | |
Aber vor allem: Hinsehen. Druck machen. Dokumentieren.“ | |
Lampedusa, Malta, Rom: Während die einen nach dem Boot suchen oder | |
medizinische Utensilien sortieren, kontaktieren die anderen die offiziellen | |
Stellen. Versuchen, den Überblick zu behalten. Etwa zwei Stunden nach den | |
Funksprüchen der Fischer ruft Angioni: „Italien hat einen Helikopter | |
losgeschickt!“ Eine weitere Stunde später: „Ein Frontex-Flugzeug ist | |
gestartet!“ | |
Bei Dunkelheit kehren die Rhibs zurück. Sie haben nichts gefunden. Die | |
zweite Nacht in Folge verbringen die Crews mit Wache und Ausschau. Statt im | |
Schein libyscher Ölplattformen nun im Licht italienischer Fischerboote. Mit | |
Funkkontakt. Und Delfinen. Satellitentelefon und Mailprogramm laufen bis | |
zum Morgengrauen. „Die italienische Küstenwache ist ausgerückt.“ Angioni | |
gähnt. | |
Am nächsten Morgen sind beide Boote gefunden, die Menschen in Lampedusa | |
gelandet. Einige Meilen entfernt wartet derweil noch die Sea Watch 3. Mit | |
immer noch 43 geretteten Menschen. Seit neun Tagen. | |
21 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Anett Selle | |
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