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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Kein Weg mehr durch Agadez
> Die Stadt in Niger lebte früher von durchreisenden Migranten. Das ist
> nach der Verabschiedung eines Gesetzes gegen „Menschenschmuggel“ nun
> vorbei.
Bild: Einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen: Agadez
Der Busbahnhof von Agadez liegt wie im Dornröschenschlaf. Die warme
Jahreszeit schickt ihre Vorboten. Schon im Morgengrauen hat sich eine feine
Staubschicht über die Stadt gelegt. Das Wetter ist jedoch nicht der Grund
für die wenigen Reisenden. „Es gibt schon lange keine mehr“, beklagt ein
Schalterbeamter, der auf einer Matte neben seinem schlafenden Kollegen
liegt. „Die Leute, die nach Norden wollen, halten sich versteckt.“
Agadez, die bevölkerungsreichste Stadt im Norden Nigers, wurde von den
Reisebüros einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen. Früher war der Busbahnho…
von dem die Konvois nach Dirkou und weiter nach Libyen starteten, das
pulsierende Herz der Stadt. Jeden Montag fuhren von hier bis zu 200
Fahrzeuge mit Vieh und Menschen beladen Richtung Wüste.
Die Passagiere kamen aus Westafrika, seltener aus Zentral- und Ostafrika,
und die meisten wollten nach Libyen, um von dort, inschallah, nach Europa
zu gelangen. Die nigrische Armee begleitete die Konvois bis an die libysche
Grenze. Für die Migranten waren die Konvois ein Synonym der Hoffnung, für
die Einwohner von Agadez eine wichtige Verdienstmöglichkeit. „Die ganze
Stadt profitierte davon“, erinnert sich Mahaman Sanoussi. „Die Migration
war legal, die Transportunternehmen verdienten gut und zahlten ihre
Steuern. Mit dem Gesetz 2015-36 hat sich alles geändert.“
Das Gesetz vom 26. Mai 2015 gegen „Menschenschmuggel“ erklärte von einem
Tag auf den anderen für illegal, was bis dahin ein Gewerbe wie jedes andere
gewesen war. Dutzende junge Nigrer wanderten ins Gefängnis. 2015 war das
Jahr, in dem die EU beschloss, eine unsichtbare Mauer zu errichten, um die
Migration aus dem Süden zu stoppen. Bei einem Gipfeltreffen in der
maltesischen Hauptstadt La Valetta berieten die 28 Staats- und
Regierungschefs über eine europäische Migrationsagenda und wie sie ihren
Kampf gegen die Zuwanderung an ausgewählte afrikanische Staaten outsourcen
könnten.
Den mittellosen Regierungen wurden insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro
versprochen, wenn sie den Europäern dabei helfen würden, jeden
zurückzuhalten, der die lange Reise wagen will. [1][Ein
Nothilfetreuhandfonds] „zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung
der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika“
finanziert seitdem zahlreiche Projekte in Nigeria, Senegal, Äthiopien, Mali
und Niger.
## Die Migration nach Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt
Niger grenzt an Algerien und Libyen, weshalb das Land in der
europäischen Strategie einen zentralen Platz einnimmt. Nachdem eine
internationale Koalition 2011 das Gaddafi-Regime in Libyen hinweggefegt
hatte, wurde Agadez zum wichtigsten Transitort in Richtung Europa. Auch
wenn die Stadt bereits 2015 im Fokus der EU-Politik zur Eindämmung der
Migration stand, machten noch 2016 rund 400.000 Migranten [2][auf dem Weg
Richtung Norden hier Halt].
Niger, laut Entwicklungsprogramm der UN das ärmste Land der Welt, sieht
sich an seinen Grenzen mit zahlreichen Bedrohungen konfrontiert – Boko
Haram im Südosten, bewaffnete malische Gruppen im Nordwesten und
Tubu-Milizen im Norden. Der von Mahamadou Issoufou, einem Verbündeten
Frankreichs, regierte Staat braucht Geld und militärische Unterstützung.
Der Nothilfefonds hat Niger in drei Jahren mehr bewilligt als jedem anderen
Land: 266 Millionen Euro. Offiziell spricht man von Entwicklungshilfe oder
vom Kampf gegen Menschenhandel. In der Praxis will man die Migration nach
Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt.
Ein Teil des Gelds ist für den Aufbau des Staats und für die Grenzsicherung
bestimmt: Die nigrischen Sicherheitskräfte wurden durch die Schaffung einer
Elitetruppe für den Kampf gegen die Migration gestärkt. Eine gemeinsame
Ermittlergruppe soll die „kriminellen Netze des Menschenschmuggels“
zerstören. In Agadez wurde ein Standort der zivilen Aufbaumission Eucap
Sahel Niger eingerichtet. Seit 2015 organisiert die „Migrationseinheit“ der
Mission die Ausbildung von Sicherheitskräften und stellt Ausrüstung zur
Verfügung. Offiziell werden die Polizisten aus verschiedenen europäischen
Ländern selbst nicht aktiv: Sie würden lediglich Informationen sammeln und
technisches Know-how vermitteln.
Die Ausarbeitung der EU-Migrationsagenda und die Verabschiedung des
Gesetzes 2015-36 lagen zeitlich verdächtig nah beieinander. In der
nigrischen Regierung bestreitet niemand, dass das Gesetz von Europa
angeregt, wenn nicht gar erzwungen wurde. Teilweise feilten sogar
französische Beamten an den Formulierungen. „Es stimmt, es gab Druck“, gibt
General Mahamadou Abou Tarka zu. Er ist Präsident der Behörde zur Festigung
des Friedens (HACP), die dem Präsidenten untersteht und die Umsetzung des
Gesetzes überwachen soll. „Aber wir hatten auch schon seit einer Weile
darüber nachgedacht. Die Explosion der Flüchtlingsströme hat uns seit 2012
sehr beschäftigt. Zuerst haben wir sie toleriert, vor allem, weil unsere
Landsleute damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber auch der Schmuggel
nahm zu. Und als die Europäer sagten: ,Wir geben euch Geld', haben wir die
Gelegenheit beim Schopf gepackt.“
Seit Einführung des Gesetzes riskiert jeder, der einem Migranten gegen
einen finanziellen oder materiellen Vorteil hilft, das Territorium illegal
zu betreten oder zu verlassen, fünf bis zehn Jahre Gefängnis und eine
Geldstrafe von bis zu fünf Millionen CFA-Franc (7.630 Euro). Wer ihm
während seines Aufenthalts Unterkunft gewehrt, ihm Essen oder Kleidung
gibt, muss mit einer Gefängnisstrafe zwischen zwei und fünf Jahren rechnen.
Seit 2016 wurden fast 300 Personen, Fahrer oder „Fluchthelfer“, verhaftet
und mehr als 300 Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen.
Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, es kriminalisiere allein die
„Schleuser“ und nicht deren Kunden. Eine Strafe für Letztere, die oft alles
zurückgelassen haben, um Libyen, Algerien und schließlich Europa zu
erreichen, ist es aber allemal. Wer nördlich der Linie Agadez–Dirkou –
hunderte Kilometer von der algerischen beziehungsweise libyschen Grenze
entfernt – aufgegriffen wird und seine nigrische Staatsangehörigkeit nicht
nachweisen kann, wird als potenziell illegaler Migrant behandelt. Der bloße
Verdacht reicht aus, um jemanden sofort oder nach kurzem
Gefängnisaufenthalt in den Süden des Landes zurückzuschicken.
„Tatsächlich hat die Umsetzung des Gesetzes de facto zum Verbot jeder Reise
nördlich von Agadez geführt“, sagt Felipe González Morales. Nach einem
Besuch in Niger im Oktober 2018 [3][stellte der UN-Berichterstatter für
Menschenrechte von Migranten fest], dass „die fehlende Klarheit des Textes
und seine repressive Umsetzung zur Kriminalisierung jeglicher Form der
Migration geführt hat“. Anstatt sie zu schützen, zwinge das Gesetz die
Migranten, sich zu verstecken. „Das macht sie noch verletzlicher für
Missbrauch und Menschenrechtsverstöße.“
Für Europa ist diese Politik ein Erfolg. Doch um welchen Preis? Nach
Angaben der Eucap ist die Zahl der Migranten, die Italien erreichten, in
drei Jahren um 85 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Ankömmlinge in
Agadez soll von 2016 bis 2018 um mehr als zwei Drittel gesunken sein. In
Séguédine, einem Wüstenort auf der Strecke zwischen Dirkou und der
libyschen Grenze, sank die Zahl der registrierten Personen von 290.000
(2016) auf 33.000 Menschen (2017).
## Neue, gefährlichere Routen
Trotz strenger Verbote haben die Fluchtbewegungen aber nicht aufgehört. Die
Migranten verschwinden einfach vom Radar. Dadurch wird jede Zählung
unzuverlässig. Nach Aussage eines Wissenschaftlers, der die Entwicklung der
Fluchtrouten im Niger untersucht und anonym bleiben möchte, „hat es vor
allem die kleinen Transportunternehmen getroffen. Die großen, die über
Kontakte in die Politik verfügen und das Geld haben, die Sicherheitskräfte
zu bestechen, machen weiter.“ In dem von Korruption zerfressenen Land
genügen einige zehntausend CFA-Franc pro Migrant, um das Schweigen der
Patrouillen zu erkaufen.
Zudem werden neue, gefährlichere Routen gewählt, um den Kontrollen zu
entgehen. In Agadez gleichen die „Ghettos“, die großen Häuser, in denen d…
Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen.
Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr
verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für
den Transport [4][haben sich verdreifacht]. Sobald die Polizei auftaucht,
machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere,
darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück.
Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert.
Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in
Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als
Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als „Ghetto“-Besitzer oder Fahrer;
tausende andere profitierten indirekt – sei es als Köchin, Händler oder
Taxifahrer.
Mohamed Abdoul Kader war einer von ihnen. In seinem Viertel, nicht weit vom
historischen Zentrum entfernt, nennt man ihn „Boss“. Kader ist 48 Jahre
alt, in Agadez geboren und hat eine Weile in Libyen gelebt. Ende der 1990er
Jahre fing er an, Migranten zu beherbergen. Das „Business“ kam langsam in
Gang. Die Routen in Richtung Europa über Mali, Mauretanien und Marokko
waren wegen der Tuareg-Rebellion nicht passierbar. Als einzige Alternative
blieb die Reise durch den Niger.
Agadez, wo sich mehrere Handelsstraßen kreuzen, war schon immer ein
Transitort – früher für Salz, Sklaven und Vieh. „2002 habe ich eine
Reiseagentur gegründet“, erzählt Kader. „Wir hatten ein Büro am Bahnhof.
Damals kamen die Migranten mit dem Bus an und fuhren auf Kippladern nach
Dirkou weiter. Von dort ging es mit Geländewagen Richtung Libyen.“
## Ein kleines Vermögen
Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Kunden und Kader erweiterte sein
Geschäftsfeld; seine Mittelsmänner riefen ihn aus Nigeria, Ghana, Gambia,
Burkina Faso und aus dem Senegal an. Er nahm die Ankömmlinge in Empfang und
kümmerte sich bis zur Abreise um alles: Papiere, Unterkunft, Essen. „Wir
arbeiteten wie eine ganz normale Reiseagentur. Wir mussten ein
Vertrauensverhältnis zu den Kunden und den Vermittlern im Herkunftsland
aufbauen, also auch dafür Sorge tragen, dass die Kunden wohlbehalten ans
Ziel kamen, wenn wir weitere haben wollten“, erklärt er. Er weiß, dass sich
das Bild des „Fluchthelfers“ mittlerweile sehr verändert hat.
Alles war genau geregelt: Wenn die Migranten den Stadtrand von Agadez
erreichten, zahlten sie den Polizisten eine Gebühr. Am Bahnhof wurden sie
von den Agenturen in Empfang genommen und [5][in ihr „Ghetto“ gebracht].
Wenn sie weiterzogen, zahlten sie beim Verlassen der Stadt wieder eine
Gebühr – zugunsten der Gemeinde. 1.100 CFA-Franc (1,68 Euro) pro Person,
ein kleines Vermögen. Teilweise lagen die Einnahmen der Stadt bei drei bis
sieben Millionen CFA-Franc pro Woche, was die Finanzierung zahlreicher
Projekte ermöglichte.
Die Regeln waren überall dieselben, die Preise auch: Um nach Libyen zu
gelangen, musste man 150.000 CFA-Francs (etwa 230 Euro) zahlen. Das ist für
die meisten Afrikaner viel Geld, für einen Nigrer ist es ein Vermögen. „Ich
habe viel verdient“, gibt Mohamed Abdoul Kader zu. „15 Leute arbeiteten für
mich. Jede Woche schickten wir 400 bis 450 Migranten nach Libyen. Jeder von
uns verdiente fünf Millionen CFA-Franc in der Woche.“ Jeden Montag, wenn
die Konvois aufbrachen, waren die Banken und Wechselstuben voll. Auf dem
Markt herrschte Festlaune.
Bei der Abreise stellten die Agenturen für jeden Kunden ein Dokument mit
Namen und Staatsangehörigkeit für die Polizei aus. Die Regierung ermunterte
sogar ehemalige Tuareg- und Tubu-Rebellen, die nach 1990 zu den Waffen
gegriffen hatten, in das Geschäft einzusteigen, um dem Krieg endgültig den
Rücken zu kehren. „Sie hatten Fahrzeuge, sie hatten keine Arbeit und sie
kannten die Straßen“, erzählt Mohamed Anako. Er war einst selbst ein
Anführer der ersten Tuareg-Rebellion (1991–1995) und hat sich diesen Plan
zur Reintegration in seiner Zeit als Leiter der HACP-Behörde ausgedacht:
„Wir haben ihnen geholfen, ihre Autos anzumelden und sich registrieren zu
lassen. Alles ganz legal. Dafür hielten sie uns auf dem Laufenden, was in
der Wüste los war.“ Heute ist Anako Präsident des Regionalrats von Agadez.
Die Schwierigkeiten begannen nach dem Sturz Gaddafis 2011. Der libysche
Staatschef hatte die europäischen Küsten zuverlässig abgeschirmt. Es war
beinahe unmöglich, über das Mittelmeer zu gelangen. Dafür konnte man in
Libyen bleiben: Arbeit gab es genug, und sie wurde gut bezahlt. „Nach
Gaddafis Sturz öffneten sich die Tore nach Europa. Es war wie ein Sog und
hier kamen immer mehr Migranten an“, erinnert sich Kader. Ihre Zahl soll
sich in Agadez zwischen 2013 und 2016 vervierfacht haben. 2016 zählte die
Polizei fast 70 „Ghettos“.
## „Es hätte eine Übergangsphase geben müssen“
Der Unternehmer Kader bekam Konkurrenz. Zahlreiche Nigrer, die in Libyen
gelebt hatten, flohen vor Krieg und Chaos und stiegen in das
Transportgeschäft mit Migranten ein. Aber die Neuen respektierten die
Regeln der Alteingesessenen nicht. „Banditen ohne Glauben und Gesetz“,
schimpft ein Mittelsmann. Sie hätten sich nicht gescheut, von den Migranten
mitten in der Wüste Schutzgeld zu erpressen, sie beim ersten Problem im
Stich zu lassen oder sie an libysche Milizen zu verkaufen, die sie erneut
erpressten. Diese Verbrechen, zu denen noch der Schmuggel von Drogen,
Tabak, und Waffen kam, zwangen die Behörden, zu reagieren und mit der EU
zusammenzuarbeiten.
Wie das Haus von Kader steht auch das „Ghetto“ von Mohamed D. am Stadtrand
von Agadez leer. Im Innenhof zeugen in die Wände eingeritzte Namen oder
Telefonnummern noch von den früheren Kunden. „Ich habe nichts mehr“,
schimpft der ehemalige Fluchthelfer. „Meine beiden Wagen wurden
beschlagnahmt, und ich war sechs Monate im Gefängnis. Jetzt habe ich kein
Einkommen mehr.“ Und wo ist das Geld, das er in der Zeit des Überflusses
verdient hat? „Das habe ich aufgegessen; zusammen mit meiner Familie habe
ich es aufgegessen.“
Die Frustration ist umso größer, weil das Gesetz ohne Vorankündigung kam.
Niemand in Agadez war informiert, nicht mal die lokalen Volksvertreter. „Es
war an einem Montag“, erinnert sich ein Fluchthelfer. „Der Konvoi mit
Migranten wurden am Stadtrand von Agadez gestoppt. Wir dachten, es gäbe ein
Sicherheitsproblem in der Wüste. Aber keineswegs. Die Fahrer wurden ins
Gefängnis gesteckt und die Fahrzeuge beschlagnahmt. Erst danach haben sie
uns das Gesetz erklärt.“
Mohamed Anako ist zwar nicht gegen das Verbot, er bedauert aber sehr, dass
die Behörden die wirtschaftliche Situation der Region nicht berücksichtigt
haben: „Es hätte eine Übergangsphase geben müssen. Die Projekte, die die EU
finanziert, zeigen vielleicht irgendwann Wirkung, aber wie viele Jahre wird
das dauern? Die Leute brauchen jetzt Arbeit und es gibt keine.“
In den 1980er Jahren kamen tausende Touristen aus Nordamerika und Europa
nach Agadez, um die Wüste Ténéré, die Dünen von Bilma und das Aïr-Gebirge
zu sehen. Damals lebte die Stadt im Rhythmus der Großraumflugzeuge, die auf
dem internationalen Flughafen landeten. Aber nach der zweiten
Tuareg-Rebellion 2007 stufte das französische Außenministerium die Stadt
als rote Zone ein, von Reisen wurde „dringend abgeraten“. Die Besucher
blieben weg. Auch der Uranabbau [6][ist seitdem im Niedergang begriffen],
wie die gesamte Industrie.
Über den Nothilfefonds finanziert die EU ein Programm zur
Wiedereingliederung ehemaliger Fluchthelfer in Höhe von acht Millionen
Euro. Doch der Name „Aktionsplan für rasche ökonomische Verbesserung in
Agadez“ will nicht so recht passen. Jeder erfasste „ehemalige
Dienstleister“ mit einem anerkannten Anspruch auf Wiedereingliederung soll
eine Unterstützung von 1,5 Millionen CFA-Franc (2.290 Euro) erhalten.
## Ehemalige Fluchthelfer jagen heute Migranten
Die Überprüfung gestaltet sich allerdings langwierig: Bisher wurden erst
400 von insgesamt 5.000 Anträgen geprüft. 1.500 wurden gar nicht erst
angenommen, besonders die von „Ghetto“- und Fahrzeugbesitzern. Die EU stuft
sie als ohnehin privilegiert, oder schlimmer, als kriminell ein.
Tatsächlich haben sie verglichen mit dem Durchschnittseinkommen im Niger
jahrelang gewaltige Summen verdient. Die Vertreter der Eucap-Mission im
Niger mahnen, nicht zu vergessen, dass es „um Menschenhandel“ gehe:
Diejenigen, die davon profitieren, täten dies auf Kosten anderer.
Natürlich gibt es unter den ehemaligen Fluchthelfern auch Kriminelle. Aber
in den allermeisten Fällen war die Realität eine ganz andere: „Die Preise
waren rechtlich korrekt. Sie haben so viel verdient, weil es so viel
Nachfrage und so viele Kunden gab“, sagt der bereits zitierte
Wissenschaftler. Das Problem sei nicht die vermeintliche schamlose
Ausbeutung der Migranten, sondern die Verschlechterung der ökonomischen und
politischen Situation in der Sahelzone.
Bachir Amma, einst Fluchthelfer, ist heute Vorsitzender des Komitees
ehemaliger Migrationsdienstleister. 2016 hat er den Verein als
Schnittstelle zwischen den Geldgebern, den Behörden und den Betroffenen
gegründet. Sein Büro befindet sich in einer Loge des Stadions von Agadez,
wo jeden Tag die Mannschaften des von ihm geleiteten Fußballklubs
trainieren. Amma gibt zu, dass bei der Antragstellung Missbrauch getrieben
wurde: „Einige Antragsteller hatten gar nichts mit der Migration zu tun.
Dafür hatten sie Beziehungen, gehörten zur richtigen Familie.“
Die EU hat die lokale Ökonomie aus dem Gleichgewicht gebracht und für viel
Frust gesorgt. „Man hat uns getäuscht“, beschwert sich Amma. „Man hatte …
schnelles Geld versprochen. 371 Projekte wurden finanziert. Aber aus
unserer Sicht ist das keine Wiedereingliederung. Es ist einfach eine
Nothilfe. Leuten, die früher fünf Millionen CFA-Franc in der Woche verdient
haben, bietet man jetzt 1,5 Millionen an! Wie sollen sie das akzeptieren?!“
Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit nimmt bereits das Bandenwesen zu:
Wegelagerer errichten Straßensperren, um von Migranten Geld zu erpressen,
ehemalige Fluchthelfer satteln wieder auf den lukrativen Drogenhandel um.
Andere treten in den Dienst einer der zahlreichen bewaffneten Gruppen, die
sich im Dreiländereck zwischen Niger, Tschad und Libyen aufs Plündern
verlegt haben. 2016 brach eine Tubu-Rebellion in den Provinzen Kawar und
Manga östlich von Agadez aus. Eine der Forderungen war die Rückgabe der im
Rahmen des Gesetzes 2015-36 beschlagnahmten Fahrzeuge.
## Quelle der Zwietracht
Agadez, das „Tor zur Wüste“ und ehemaliger Knotenpunkt der Migration von
Süd nach Nord, schickt sich derweil an, [7][zum größten Transitort der
Gegenrichtung zu werden]. 2016 eröffnete die Internationale Organisation
für Migration (IOM) am nördlichen Stadtrand ein Aufnahmezentrum für
Migranten, die aus Algerien und Libyen ausgewiesen wurden.
2017 folgte ein Lager des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zwölf
Kilometer südlich der Stadt. Dort sind 2.000 asylsuchende Sudaner
untergebracht, die vor den katastrophalen Zuständen in Libyen geflohen
waren. Ihre Aufnahme und Betreuung sorgte in Agadez für Spannungen. So
beschwert sich Mohamed El-Hadi, ein ehemaliger Coxer: „Für die Migranten
tut man viel, aber für uns, die wir unsere Arbeit verloren haben, nichts.
Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“
Früher als Einnahmequelle mit offenen Armen empfangen, sind die Migranten
zu einer Quelle der Zwietracht geworden. Es ist ein Teufelskreis: Das
Gesetz hindert die Migranten daran, nach Libyen weiterzuziehen,
gleichzeitig sind die Möglichkeiten begrenzt, in der Gegend um Agadez zu
bleiben, weil die örtliche Bevölkerung den Vorwurf des Menschenschmuggels
fürchtet, wenn sie ihnen hilft.
Mittlerweile jagen ehemalige Fluchthelfer Migranten im Auftrag der EU;
ähnlich wie in Libyen, wo Europa kriminelle Milizen mit der Bewachung der
Küste betraut. So wird die Verfolgung illegalisierter Flüchtlinge zu einer
Einkommensquelle für diejenigen, die ihnen früher halfen.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
19 Jun 2019
## LINKS
[1] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/eu-communication…
[2] http://www.smallarmssurvey.org
[3] https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23698&amp…
[4] https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-12/caught-in-the-middl…
[5] https://www.cairn.info/revue-autrepart-2005-4-page-43.htm#
[6] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5352790
[7] https://data2.unhcr.org/en/documents/details/68149
## AUTOREN
Rémi Carayol
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