# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Kein Weg mehr durch Agadez | |
> Die Stadt in Niger lebte früher von durchreisenden Migranten. Das ist | |
> nach der Verabschiedung eines Gesetzes gegen „Menschenschmuggel“ nun | |
> vorbei. | |
Bild: Einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen: Agadez | |
Der Busbahnhof von Agadez liegt wie im Dornröschenschlaf. Die warme | |
Jahreszeit schickt ihre Vorboten. Schon im Morgengrauen hat sich eine feine | |
Staubschicht über die Stadt gelegt. Das Wetter ist jedoch nicht der Grund | |
für die wenigen Reisenden. „Es gibt schon lange keine mehr“, beklagt ein | |
Schalterbeamter, der auf einer Matte neben seinem schlafenden Kollegen | |
liegt. „Die Leute, die nach Norden wollen, halten sich versteckt.“ | |
Agadez, die bevölkerungsreichste Stadt im Norden Nigers, wurde von den | |
Reisebüros einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen. Früher war der Busbahnho… | |
von dem die Konvois nach Dirkou und weiter nach Libyen starteten, das | |
pulsierende Herz der Stadt. Jeden Montag fuhren von hier bis zu 200 | |
Fahrzeuge mit Vieh und Menschen beladen Richtung Wüste. | |
Die Passagiere kamen aus Westafrika, seltener aus Zentral- und Ostafrika, | |
und die meisten wollten nach Libyen, um von dort, inschallah, nach Europa | |
zu gelangen. Die nigrische Armee begleitete die Konvois bis an die libysche | |
Grenze. Für die Migranten waren die Konvois ein Synonym der Hoffnung, für | |
die Einwohner von Agadez eine wichtige Verdienstmöglichkeit. „Die ganze | |
Stadt profitierte davon“, erinnert sich Mahaman Sanoussi. „Die Migration | |
war legal, die Transportunternehmen verdienten gut und zahlten ihre | |
Steuern. Mit dem Gesetz 2015-36 hat sich alles geändert.“ | |
Das Gesetz vom 26. Mai 2015 gegen „Menschenschmuggel“ erklärte von einem | |
Tag auf den anderen für illegal, was bis dahin ein Gewerbe wie jedes andere | |
gewesen war. Dutzende junge Nigrer wanderten ins Gefängnis. 2015 war das | |
Jahr, in dem die EU beschloss, eine unsichtbare Mauer zu errichten, um die | |
Migration aus dem Süden zu stoppen. Bei einem Gipfeltreffen in der | |
maltesischen Hauptstadt La Valetta berieten die 28 Staats- und | |
Regierungschefs über eine europäische Migrationsagenda und wie sie ihren | |
Kampf gegen die Zuwanderung an ausgewählte afrikanische Staaten outsourcen | |
könnten. | |
Den mittellosen Regierungen wurden insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro | |
versprochen, wenn sie den Europäern dabei helfen würden, jeden | |
zurückzuhalten, der die lange Reise wagen will. [1][Ein | |
Nothilfetreuhandfonds] „zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung | |
der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika“ | |
finanziert seitdem zahlreiche Projekte in Nigeria, Senegal, Äthiopien, Mali | |
und Niger. | |
## Die Migration nach Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt | |
Niger grenzt an Algerien und Libyen, weshalb das Land in der | |
europäischen Strategie einen zentralen Platz einnimmt. Nachdem eine | |
internationale Koalition 2011 das Gaddafi-Regime in Libyen hinweggefegt | |
hatte, wurde Agadez zum wichtigsten Transitort in Richtung Europa. Auch | |
wenn die Stadt bereits 2015 im Fokus der EU-Politik zur Eindämmung der | |
Migration stand, machten noch 2016 rund 400.000 Migranten [2][auf dem Weg | |
Richtung Norden hier Halt]. | |
Niger, laut Entwicklungsprogramm der UN das ärmste Land der Welt, sieht | |
sich an seinen Grenzen mit zahlreichen Bedrohungen konfrontiert – Boko | |
Haram im Südosten, bewaffnete malische Gruppen im Nordwesten und | |
Tubu-Milizen im Norden. Der von Mahamadou Issoufou, einem Verbündeten | |
Frankreichs, regierte Staat braucht Geld und militärische Unterstützung. | |
Der Nothilfefonds hat Niger in drei Jahren mehr bewilligt als jedem anderen | |
Land: 266 Millionen Euro. Offiziell spricht man von Entwicklungshilfe oder | |
vom Kampf gegen Menschenhandel. In der Praxis will man die Migration nach | |
Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt. | |
Ein Teil des Gelds ist für den Aufbau des Staats und für die Grenzsicherung | |
bestimmt: Die nigrischen Sicherheitskräfte wurden durch die Schaffung einer | |
Elitetruppe für den Kampf gegen die Migration gestärkt. Eine gemeinsame | |
Ermittlergruppe soll die „kriminellen Netze des Menschenschmuggels“ | |
zerstören. In Agadez wurde ein Standort der zivilen Aufbaumission Eucap | |
Sahel Niger eingerichtet. Seit 2015 organisiert die „Migrationseinheit“ der | |
Mission die Ausbildung von Sicherheitskräften und stellt Ausrüstung zur | |
Verfügung. Offiziell werden die Polizisten aus verschiedenen europäischen | |
Ländern selbst nicht aktiv: Sie würden lediglich Informationen sammeln und | |
technisches Know-how vermitteln. | |
Die Ausarbeitung der EU-Migrationsagenda und die Verabschiedung des | |
Gesetzes 2015-36 lagen zeitlich verdächtig nah beieinander. In der | |
nigrischen Regierung bestreitet niemand, dass das Gesetz von Europa | |
angeregt, wenn nicht gar erzwungen wurde. Teilweise feilten sogar | |
französische Beamten an den Formulierungen. „Es stimmt, es gab Druck“, gibt | |
General Mahamadou Abou Tarka zu. Er ist Präsident der Behörde zur Festigung | |
des Friedens (HACP), die dem Präsidenten untersteht und die Umsetzung des | |
Gesetzes überwachen soll. „Aber wir hatten auch schon seit einer Weile | |
darüber nachgedacht. Die Explosion der Flüchtlingsströme hat uns seit 2012 | |
sehr beschäftigt. Zuerst haben wir sie toleriert, vor allem, weil unsere | |
Landsleute damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber auch der Schmuggel | |
nahm zu. Und als die Europäer sagten: ,Wir geben euch Geld', haben wir die | |
Gelegenheit beim Schopf gepackt.“ | |
Seit Einführung des Gesetzes riskiert jeder, der einem Migranten gegen | |
einen finanziellen oder materiellen Vorteil hilft, das Territorium illegal | |
zu betreten oder zu verlassen, fünf bis zehn Jahre Gefängnis und eine | |
Geldstrafe von bis zu fünf Millionen CFA-Franc (7.630 Euro). Wer ihm | |
während seines Aufenthalts Unterkunft gewehrt, ihm Essen oder Kleidung | |
gibt, muss mit einer Gefängnisstrafe zwischen zwei und fünf Jahren rechnen. | |
Seit 2016 wurden fast 300 Personen, Fahrer oder „Fluchthelfer“, verhaftet | |
und mehr als 300 Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen. | |
Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, es kriminalisiere allein die | |
„Schleuser“ und nicht deren Kunden. Eine Strafe für Letztere, die oft alles | |
zurückgelassen haben, um Libyen, Algerien und schließlich Europa zu | |
erreichen, ist es aber allemal. Wer nördlich der Linie Agadez–Dirkou – | |
hunderte Kilometer von der algerischen beziehungsweise libyschen Grenze | |
entfernt – aufgegriffen wird und seine nigrische Staatsangehörigkeit nicht | |
nachweisen kann, wird als potenziell illegaler Migrant behandelt. Der bloße | |
Verdacht reicht aus, um jemanden sofort oder nach kurzem | |
Gefängnisaufenthalt in den Süden des Landes zurückzuschicken. | |
„Tatsächlich hat die Umsetzung des Gesetzes de facto zum Verbot jeder Reise | |
nördlich von Agadez geführt“, sagt Felipe González Morales. Nach einem | |
Besuch in Niger im Oktober 2018 [3][stellte der UN-Berichterstatter für | |
Menschenrechte von Migranten fest], dass „die fehlende Klarheit des Textes | |
und seine repressive Umsetzung zur Kriminalisierung jeglicher Form der | |
Migration geführt hat“. Anstatt sie zu schützen, zwinge das Gesetz die | |
Migranten, sich zu verstecken. „Das macht sie noch verletzlicher für | |
Missbrauch und Menschenrechtsverstöße.“ | |
Für Europa ist diese Politik ein Erfolg. Doch um welchen Preis? Nach | |
Angaben der Eucap ist die Zahl der Migranten, die Italien erreichten, in | |
drei Jahren um 85 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Ankömmlinge in | |
Agadez soll von 2016 bis 2018 um mehr als zwei Drittel gesunken sein. In | |
Séguédine, einem Wüstenort auf der Strecke zwischen Dirkou und der | |
libyschen Grenze, sank die Zahl der registrierten Personen von 290.000 | |
(2016) auf 33.000 Menschen (2017). | |
## Neue, gefährlichere Routen | |
Trotz strenger Verbote haben die Fluchtbewegungen aber nicht aufgehört. Die | |
Migranten verschwinden einfach vom Radar. Dadurch wird jede Zählung | |
unzuverlässig. Nach Aussage eines Wissenschaftlers, der die Entwicklung der | |
Fluchtrouten im Niger untersucht und anonym bleiben möchte, „hat es vor | |
allem die kleinen Transportunternehmen getroffen. Die großen, die über | |
Kontakte in die Politik verfügen und das Geld haben, die Sicherheitskräfte | |
zu bestechen, machen weiter.“ In dem von Korruption zerfressenen Land | |
genügen einige zehntausend CFA-Franc pro Migrant, um das Schweigen der | |
Patrouillen zu erkaufen. | |
Zudem werden neue, gefährlichere Routen gewählt, um den Kontrollen zu | |
entgehen. In Agadez gleichen die „Ghettos“, die großen Häuser, in denen d… | |
Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. | |
Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr | |
verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für | |
den Transport [4][haben sich verdreifacht]. Sobald die Polizei auftaucht, | |
machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, | |
darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück. | |
Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. | |
Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in | |
Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als | |
Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als „Ghetto“-Besitzer oder Fahrer; | |
tausende andere profitierten indirekt – sei es als Köchin, Händler oder | |
Taxifahrer. | |
Mohamed Abdoul Kader war einer von ihnen. In seinem Viertel, nicht weit vom | |
historischen Zentrum entfernt, nennt man ihn „Boss“. Kader ist 48 Jahre | |
alt, in Agadez geboren und hat eine Weile in Libyen gelebt. Ende der 1990er | |
Jahre fing er an, Migranten zu beherbergen. Das „Business“ kam langsam in | |
Gang. Die Routen in Richtung Europa über Mali, Mauretanien und Marokko | |
waren wegen der Tuareg-Rebellion nicht passierbar. Als einzige Alternative | |
blieb die Reise durch den Niger. | |
Agadez, wo sich mehrere Handelsstraßen kreuzen, war schon immer ein | |
Transitort – früher für Salz, Sklaven und Vieh. „2002 habe ich eine | |
Reiseagentur gegründet“, erzählt Kader. „Wir hatten ein Büro am Bahnhof. | |
Damals kamen die Migranten mit dem Bus an und fuhren auf Kippladern nach | |
Dirkou weiter. Von dort ging es mit Geländewagen Richtung Libyen.“ | |
## Ein kleines Vermögen | |
Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Kunden und Kader erweiterte sein | |
Geschäftsfeld; seine Mittelsmänner riefen ihn aus Nigeria, Ghana, Gambia, | |
Burkina Faso und aus dem Senegal an. Er nahm die Ankömmlinge in Empfang und | |
kümmerte sich bis zur Abreise um alles: Papiere, Unterkunft, Essen. „Wir | |
arbeiteten wie eine ganz normale Reiseagentur. Wir mussten ein | |
Vertrauensverhältnis zu den Kunden und den Vermittlern im Herkunftsland | |
aufbauen, also auch dafür Sorge tragen, dass die Kunden wohlbehalten ans | |
Ziel kamen, wenn wir weitere haben wollten“, erklärt er. Er weiß, dass sich | |
das Bild des „Fluchthelfers“ mittlerweile sehr verändert hat. | |
Alles war genau geregelt: Wenn die Migranten den Stadtrand von Agadez | |
erreichten, zahlten sie den Polizisten eine Gebühr. Am Bahnhof wurden sie | |
von den Agenturen in Empfang genommen und [5][in ihr „Ghetto“ gebracht]. | |
Wenn sie weiterzogen, zahlten sie beim Verlassen der Stadt wieder eine | |
Gebühr – zugunsten der Gemeinde. 1.100 CFA-Franc (1,68 Euro) pro Person, | |
ein kleines Vermögen. Teilweise lagen die Einnahmen der Stadt bei drei bis | |
sieben Millionen CFA-Franc pro Woche, was die Finanzierung zahlreicher | |
Projekte ermöglichte. | |
Die Regeln waren überall dieselben, die Preise auch: Um nach Libyen zu | |
gelangen, musste man 150.000 CFA-Francs (etwa 230 Euro) zahlen. Das ist für | |
die meisten Afrikaner viel Geld, für einen Nigrer ist es ein Vermögen. „Ich | |
habe viel verdient“, gibt Mohamed Abdoul Kader zu. „15 Leute arbeiteten für | |
mich. Jede Woche schickten wir 400 bis 450 Migranten nach Libyen. Jeder von | |
uns verdiente fünf Millionen CFA-Franc in der Woche.“ Jeden Montag, wenn | |
die Konvois aufbrachen, waren die Banken und Wechselstuben voll. Auf dem | |
Markt herrschte Festlaune. | |
Bei der Abreise stellten die Agenturen für jeden Kunden ein Dokument mit | |
Namen und Staatsangehörigkeit für die Polizei aus. Die Regierung ermunterte | |
sogar ehemalige Tuareg- und Tubu-Rebellen, die nach 1990 zu den Waffen | |
gegriffen hatten, in das Geschäft einzusteigen, um dem Krieg endgültig den | |
Rücken zu kehren. „Sie hatten Fahrzeuge, sie hatten keine Arbeit und sie | |
kannten die Straßen“, erzählt Mohamed Anako. Er war einst selbst ein | |
Anführer der ersten Tuareg-Rebellion (1991–1995) und hat sich diesen Plan | |
zur Reintegration in seiner Zeit als Leiter der HACP-Behörde ausgedacht: | |
„Wir haben ihnen geholfen, ihre Autos anzumelden und sich registrieren zu | |
lassen. Alles ganz legal. Dafür hielten sie uns auf dem Laufenden, was in | |
der Wüste los war.“ Heute ist Anako Präsident des Regionalrats von Agadez. | |
Die Schwierigkeiten begannen nach dem Sturz Gaddafis 2011. Der libysche | |
Staatschef hatte die europäischen Küsten zuverlässig abgeschirmt. Es war | |
beinahe unmöglich, über das Mittelmeer zu gelangen. Dafür konnte man in | |
Libyen bleiben: Arbeit gab es genug, und sie wurde gut bezahlt. „Nach | |
Gaddafis Sturz öffneten sich die Tore nach Europa. Es war wie ein Sog und | |
hier kamen immer mehr Migranten an“, erinnert sich Kader. Ihre Zahl soll | |
sich in Agadez zwischen 2013 und 2016 vervierfacht haben. 2016 zählte die | |
Polizei fast 70 „Ghettos“. | |
## „Es hätte eine Übergangsphase geben müssen“ | |
Der Unternehmer Kader bekam Konkurrenz. Zahlreiche Nigrer, die in Libyen | |
gelebt hatten, flohen vor Krieg und Chaos und stiegen in das | |
Transportgeschäft mit Migranten ein. Aber die Neuen respektierten die | |
Regeln der Alteingesessenen nicht. „Banditen ohne Glauben und Gesetz“, | |
schimpft ein Mittelsmann. Sie hätten sich nicht gescheut, von den Migranten | |
mitten in der Wüste Schutzgeld zu erpressen, sie beim ersten Problem im | |
Stich zu lassen oder sie an libysche Milizen zu verkaufen, die sie erneut | |
erpressten. Diese Verbrechen, zu denen noch der Schmuggel von Drogen, | |
Tabak, und Waffen kam, zwangen die Behörden, zu reagieren und mit der EU | |
zusammenzuarbeiten. | |
Wie das Haus von Kader steht auch das „Ghetto“ von Mohamed D. am Stadtrand | |
von Agadez leer. Im Innenhof zeugen in die Wände eingeritzte Namen oder | |
Telefonnummern noch von den früheren Kunden. „Ich habe nichts mehr“, | |
schimpft der ehemalige Fluchthelfer. „Meine beiden Wagen wurden | |
beschlagnahmt, und ich war sechs Monate im Gefängnis. Jetzt habe ich kein | |
Einkommen mehr.“ Und wo ist das Geld, das er in der Zeit des Überflusses | |
verdient hat? „Das habe ich aufgegessen; zusammen mit meiner Familie habe | |
ich es aufgegessen.“ | |
Die Frustration ist umso größer, weil das Gesetz ohne Vorankündigung kam. | |
Niemand in Agadez war informiert, nicht mal die lokalen Volksvertreter. „Es | |
war an einem Montag“, erinnert sich ein Fluchthelfer. „Der Konvoi mit | |
Migranten wurden am Stadtrand von Agadez gestoppt. Wir dachten, es gäbe ein | |
Sicherheitsproblem in der Wüste. Aber keineswegs. Die Fahrer wurden ins | |
Gefängnis gesteckt und die Fahrzeuge beschlagnahmt. Erst danach haben sie | |
uns das Gesetz erklärt.“ | |
Mohamed Anako ist zwar nicht gegen das Verbot, er bedauert aber sehr, dass | |
die Behörden die wirtschaftliche Situation der Region nicht berücksichtigt | |
haben: „Es hätte eine Übergangsphase geben müssen. Die Projekte, die die EU | |
finanziert, zeigen vielleicht irgendwann Wirkung, aber wie viele Jahre wird | |
das dauern? Die Leute brauchen jetzt Arbeit und es gibt keine.“ | |
In den 1980er Jahren kamen tausende Touristen aus Nordamerika und Europa | |
nach Agadez, um die Wüste Ténéré, die Dünen von Bilma und das Aïr-Gebirge | |
zu sehen. Damals lebte die Stadt im Rhythmus der Großraumflugzeuge, die auf | |
dem internationalen Flughafen landeten. Aber nach der zweiten | |
Tuareg-Rebellion 2007 stufte das französische Außenministerium die Stadt | |
als rote Zone ein, von Reisen wurde „dringend abgeraten“. Die Besucher | |
blieben weg. Auch der Uranabbau [6][ist seitdem im Niedergang begriffen], | |
wie die gesamte Industrie. | |
Über den Nothilfefonds finanziert die EU ein Programm zur | |
Wiedereingliederung ehemaliger Fluchthelfer in Höhe von acht Millionen | |
Euro. Doch der Name „Aktionsplan für rasche ökonomische Verbesserung in | |
Agadez“ will nicht so recht passen. Jeder erfasste „ehemalige | |
Dienstleister“ mit einem anerkannten Anspruch auf Wiedereingliederung soll | |
eine Unterstützung von 1,5 Millionen CFA-Franc (2.290 Euro) erhalten. | |
## Ehemalige Fluchthelfer jagen heute Migranten | |
Die Überprüfung gestaltet sich allerdings langwierig: Bisher wurden erst | |
400 von insgesamt 5.000 Anträgen geprüft. 1.500 wurden gar nicht erst | |
angenommen, besonders die von „Ghetto“- und Fahrzeugbesitzern. Die EU stuft | |
sie als ohnehin privilegiert, oder schlimmer, als kriminell ein. | |
Tatsächlich haben sie verglichen mit dem Durchschnittseinkommen im Niger | |
jahrelang gewaltige Summen verdient. Die Vertreter der Eucap-Mission im | |
Niger mahnen, nicht zu vergessen, dass es „um Menschenhandel“ gehe: | |
Diejenigen, die davon profitieren, täten dies auf Kosten anderer. | |
Natürlich gibt es unter den ehemaligen Fluchthelfern auch Kriminelle. Aber | |
in den allermeisten Fällen war die Realität eine ganz andere: „Die Preise | |
waren rechtlich korrekt. Sie haben so viel verdient, weil es so viel | |
Nachfrage und so viele Kunden gab“, sagt der bereits zitierte | |
Wissenschaftler. Das Problem sei nicht die vermeintliche schamlose | |
Ausbeutung der Migranten, sondern die Verschlechterung der ökonomischen und | |
politischen Situation in der Sahelzone. | |
Bachir Amma, einst Fluchthelfer, ist heute Vorsitzender des Komitees | |
ehemaliger Migrationsdienstleister. 2016 hat er den Verein als | |
Schnittstelle zwischen den Geldgebern, den Behörden und den Betroffenen | |
gegründet. Sein Büro befindet sich in einer Loge des Stadions von Agadez, | |
wo jeden Tag die Mannschaften des von ihm geleiteten Fußballklubs | |
trainieren. Amma gibt zu, dass bei der Antragstellung Missbrauch getrieben | |
wurde: „Einige Antragsteller hatten gar nichts mit der Migration zu tun. | |
Dafür hatten sie Beziehungen, gehörten zur richtigen Familie.“ | |
Die EU hat die lokale Ökonomie aus dem Gleichgewicht gebracht und für viel | |
Frust gesorgt. „Man hat uns getäuscht“, beschwert sich Amma. „Man hatte … | |
schnelles Geld versprochen. 371 Projekte wurden finanziert. Aber aus | |
unserer Sicht ist das keine Wiedereingliederung. Es ist einfach eine | |
Nothilfe. Leuten, die früher fünf Millionen CFA-Franc in der Woche verdient | |
haben, bietet man jetzt 1,5 Millionen an! Wie sollen sie das akzeptieren?!“ | |
Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit nimmt bereits das Bandenwesen zu: | |
Wegelagerer errichten Straßensperren, um von Migranten Geld zu erpressen, | |
ehemalige Fluchthelfer satteln wieder auf den lukrativen Drogenhandel um. | |
Andere treten in den Dienst einer der zahlreichen bewaffneten Gruppen, die | |
sich im Dreiländereck zwischen Niger, Tschad und Libyen aufs Plündern | |
verlegt haben. 2016 brach eine Tubu-Rebellion in den Provinzen Kawar und | |
Manga östlich von Agadez aus. Eine der Forderungen war die Rückgabe der im | |
Rahmen des Gesetzes 2015-36 beschlagnahmten Fahrzeuge. | |
## Quelle der Zwietracht | |
Agadez, das „Tor zur Wüste“ und ehemaliger Knotenpunkt der Migration von | |
Süd nach Nord, schickt sich derweil an, [7][zum größten Transitort der | |
Gegenrichtung zu werden]. 2016 eröffnete die Internationale Organisation | |
für Migration (IOM) am nördlichen Stadtrand ein Aufnahmezentrum für | |
Migranten, die aus Algerien und Libyen ausgewiesen wurden. | |
2017 folgte ein Lager des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zwölf | |
Kilometer südlich der Stadt. Dort sind 2.000 asylsuchende Sudaner | |
untergebracht, die vor den katastrophalen Zuständen in Libyen geflohen | |
waren. Ihre Aufnahme und Betreuung sorgte in Agadez für Spannungen. So | |
beschwert sich Mohamed El-Hadi, ein ehemaliger Coxer: „Für die Migranten | |
tut man viel, aber für uns, die wir unsere Arbeit verloren haben, nichts. | |
Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“ | |
Früher als Einnahmequelle mit offenen Armen empfangen, sind die Migranten | |
zu einer Quelle der Zwietracht geworden. Es ist ein Teufelskreis: Das | |
Gesetz hindert die Migranten daran, nach Libyen weiterzuziehen, | |
gleichzeitig sind die Möglichkeiten begrenzt, in der Gegend um Agadez zu | |
bleiben, weil die örtliche Bevölkerung den Vorwurf des Menschenschmuggels | |
fürchtet, wenn sie ihnen hilft. | |
Mittlerweile jagen ehemalige Fluchthelfer Migranten im Auftrag der EU; | |
ähnlich wie in Libyen, wo Europa kriminelle Milizen mit der Bewachung der | |
Küste betraut. So wird die Verfolgung illegalisierter Flüchtlinge zu einer | |
Einkommensquelle für diejenigen, die ihnen früher halfen. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
19 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/eu-communication… | |
[2] http://www.smallarmssurvey.org | |
[3] https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23698&… | |
[4] https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-12/caught-in-the-middl… | |
[5] https://www.cairn.info/revue-autrepart-2005-4-page-43.htm# | |
[6] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5352790 | |
[7] https://data2.unhcr.org/en/documents/details/68149 | |
## AUTOREN | |
Rémi Carayol | |
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