| # taz.de -- Gesichtserkennung in England: Überall digitale Augen | |
| > Seit 2016 testet die Londoner Polizei automatische Gesichtserkennung. | |
| > Gegen die staatliche Überwachung regt sich nun Widerstand. | |
| Bild: Großbritannien verfügt über eines der dichtesten Kameranetze in der we… | |
| Als ich in der Mittagspause aus meinem Büro ging, um mir schnell was zum | |
| Essen zu besorgen, fiel mir dieser Kleintransporter auf dem | |
| gegenüberliegenden Parkplatz auf.“ So schildert Ed Bridges, Mitarbeiter | |
| Öffentlichkeitsarbeit der Universität Cardiff, seine erste Begegnung mit | |
| dem Fahrzeug, auf dem „Automatische Gesichtserkennung“ stand. Bridges | |
| erinnert sich an seine Verwunderung, weiter darüber nachgedacht hat er | |
| damals, vor zwei Jahren in der walisischen Hauptstadt, aber nicht. | |
| Ein Jahr später allerdings begegnete Bridges dem Fahrzeug erneut, bei einem | |
| friedlichen Protest gegen eine Waffenmesse. „Ich begann mir und der Polizei | |
| Fragen zu stellen, nämlich mit welchem Recht sie dieses System der | |
| Gesichtserkennung überhaupt einsetzen würden.“ Aus der Frage wurde eine | |
| Kampagne und schließlich ein Gerichtsverfahren. Bridges, der auch einmal | |
| für die Liberaldemokraten in Cardiffs Stadtrat gesessen hat, wird dabei von | |
| der Bürgerrechtsorganisation Liberty unterstützt, die Kosten des Verfahrens | |
| werden über ein Crowdfunding getragen. „Ich bin nun mal einer jener | |
| Menschen, die sich ganz klar gegen so etwas aussprechen, auch ohne dass ich | |
| anfangs sonderlich viel Detailwissen dazu hatte.“ | |
| Ende Mai kam es zu einer ersten gerichtlichen Anhörung in Cardiff, die den | |
| polizeilichen Einsatz automatischer Gesichtserkennung prüfen sollte und der | |
| Frage nachging, ob Bridges’ Bürgerrechte und die anderer Menschen verletzt | |
| wurden. Ein Ergebnis wird frühestens für Ende September 2019 erwartet. Ein | |
| ähnlich gelagertes Verfahren der Bürgerrechtsorganisation Big Brother Watch | |
| läuft zeitgleich in London. Seit 2016 wird die automatische | |
| Gesichtserkennung von fünf britischen Polizeibehörden getestet, darunter | |
| die Londoner Metropolitan Police und die South Wales Police. | |
| Die Technik, Neoface Watch, kommt von der japanischen Firma NEC, kann 300 | |
| Gesichter pro Sekunde scannen und innerhalb von Millisekunden mit 23 | |
| Millionen Bildern in der angeschlossenen Datenbank abgleichen. Das | |
| britische Innenministerium fördert den Test der South Wales Police mit 2 | |
| Millionen Pfund (2,25 Millionen Euro). | |
| ## Dauerhafte Echtzeitüberwachung | |
| Bei einer weiteren Praxisstudie wurden im englischen Manchester innerhalb | |
| von sechs Monaten laut Big Brother Watch 15 Millionen Gesichter von | |
| Besucher*innen eines Einkaufszentrums gescannt. Unter ihnen befanden sich | |
| 53 gesuchte Personen, die eindeutig identifiziert worden seien. Ob diese | |
| Personen wegen begangener Straftaten gesucht wurden, ist allerdings unklar. | |
| Der Test wurde erst nach der Intervention eines Kontrollgremiums für | |
| Überwachungskameras, dem Surveillance Camera Commissioner, abgebrochen. Das | |
| Gremium ist zwar eine staatliche Stelle, die jedoch nur eine beratende | |
| Funktion, ohne rechtlich bindende Entscheidungskompetenz hat. | |
| Die Kritik von Bürgerrechtsorganisationen, parlamentarischen Ausschüssen | |
| und Gremien an den Versuchen bezieht sich nicht zuletzt auf die Speicherung | |
| der Daten und die unfreiwilligen Scans der Gesichter von Normalbürger*innen | |
| in ihrem Alltagsleben. „Es handelt sich ganz klar um | |
| Menschenrechtsverletzungen, wenn diese Art von Überwachung bei friedlichen | |
| Protesten eingesetzt wird, wenn Menschen mit mentalen Störungen | |
| identifiziert, wenn Fußballspiele oder der zweitägige Londoner | |
| Notting-Hill-Karneval überwacht werden. | |
| „Da gab es zum Beispiel 30 falsche Identifizierungen und eine einzige | |
| richtige“, weiß Griff Ferris von Big Brother Watch. Bei einer „richtigen“ | |
| Erkennung handelt es sich lediglich um eine eindeutige Identifizierung | |
| einer Person. Hinzu kommt eine hohe Fehlerquote, besonders [1][bei Frauen | |
| und ethnischen Minderheiten] – der Anteil an entsprechenden | |
| Vergleichsprofilen ist im System einfach zu niedrig. | |
| Der Londoner Ausschuss für Polizeiethik hat in einem aktuellen Bericht | |
| nicht zufällig ein Gedankenexperiment aufgenommen zur Echtzeitüberwachung | |
| durch ein flächendeckendes Kamerasystem. Schon jetzt verfügt Großbritannien | |
| über eines der dichtesten Kameranetze in der westlichen Welt. Griff Ferris | |
| glaubt, dass das am Mangel an Erfahrungen mit totalitären Regimen liegen | |
| könnte. Angefangen mit der filmischen Überwachung hat es in Großbritannien | |
| bereits in den 1950er Jahren, zuerst zum Schutz bei Besuchen der | |
| königlichen Familie, bei Fußballspielen und auf Bahnhöfen. | |
| ## Einschränkung demokratischer Freiheiten | |
| Das Netz der Überwachungskameras wurde danach immer weiter ausgebaut, nicht | |
| zuletzt wegen des Nordirlandkonflikts. Schon Anfang der 1990er Jahre, | |
| während der letzten Welle des IRA-Terrorismus, waren allein in der | |
| Hauptstadt genug Überwachungskameras installiert, dass Menschen kaum einen | |
| Schritt in der Innenstadt tun konnten, ohne dabei gefilmt zu werden. | |
| Eine Schätzung aus dem Jahr 2011 ging von mehr als 1,8 Millionen Kameras in | |
| ganz Großbritannien aus. Die übergroße Mehrheit davon wird jedoch nicht von | |
| Behörden, sondern von Unternehmen und Privatpersonen betrieben. Durch die | |
| permanente Präsenz dieser Überwachung lässt sich über die Jahre ein | |
| gewisser Gewöhnungseffekt in der Bevölkerung vermuten. Die aktuellen Tests | |
| mit der Gesichtserkennung laufen bislang ohne gesetzliche Grundlage. | |
| Ed Bridges glaubt, dass seine Klage wegen der Versuche in Cardiff von den | |
| Sicherheitsbehörden in gewisser Weise begrüßt würde, könnte eine | |
| Entscheidung dort doch mehr Rechtssicherheit in der Anwendung schaffen. In | |
| einem anderen Fall in London erhielt ein Mann einen Bußgeldbescheid über 90 | |
| Pfund (knapp 100 Euro), weil er sich dem Scanner durch die Vermummung | |
| seines Gesichts verweigerte und die Beamten beschimpfte, die ihn darauf | |
| angesprochen hatten. Laut Metropolitan Police sei das aber der einzige | |
| derartige Vorfall gewesen. | |
| Für Griff Ferris und Big Brother Watch geht es bei diesen Vorkommnissen vor | |
| allem ums Prinzip. Selbst wenn das System automatischer Gesichtserkennung | |
| einmal weniger fehleranfällig sei, also tatsächlich praktisch | |
| hundertprozentig funktioniere und korrekte Treffer lande, ändere das seiner | |
| Meinung nach nichts an den von [2][unterschiedlichsten Interessengruppen | |
| geäußerten Kritikpunkten.] | |
| ## Gefährdung der Privatsphäre | |
| In San Francisco wurde die Technologie bereits von lokalen Behörden | |
| verboten, der britische Verband der Fußballfans spricht sich ebenfalls | |
| gegen sie aus. Selbst Google und Microsoft diskutieren das repressive | |
| Potenzial und die Einschränkung demokratischer Freiheiten durch | |
| Gesichtserkennung. Wäre das System aber eine Hilfe bei der Vorbeugung von | |
| Terroranschlägen? „Nein“, glaubt Ferris, denn würde ein Terrorist in einer | |
| Menschenmenge identifiziert, sei es aller Wahrscheinlichkeit nach schon | |
| viel zu spät. | |
| Vorschläge für einen kontrollierten Einsatz gibt es derweil einige. Londons | |
| Ausschuss für Polizeiethik, ein Gremium aus größtenteils akademischen | |
| Experten, hat im Mai fünf Bedingungen für den Gebrauch der Technologie | |
| vorgeschlagen. Tatsächliche Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des | |
| Einsatzes müssten geprüft werden; auch seien Mechanismen zur Vermeidung von | |
| Diskriminierungen nötig. | |
| Der Surveillance Camera Commissioner, dass parlamentarische | |
| Kontrollgremium, spricht sogar von 16 Voraussetzungen, die vor einem | |
| Einsatz erfüllt und zwingend immer wieder geprüft werden müssten. Das | |
| Hauptaugenmerk soll dabei auf der möglichen Gefährdung der Privatsphäre | |
| liegen. Zudem habe die Technologie der Gesichtserkennung das Potenzial, | |
| „das Versammlungsrecht, das Recht auf Meinungsfreiheit und andere | |
| fundamentale Bürgerrechte zu verletzten.“ | |
| In einem Bericht der parlamentarischen Arbeitsgruppe für biometrische und | |
| forensische Ethik wurde im Februar 2019 darüber hinaus betont, dass wegen | |
| der potenziellen Gefahren für Bürger- und Menschenrechte „die Technologie | |
| nur dann benutzt werden soll, wenn andere, weniger zudringliche Techniken | |
| nicht einsetzbar sind“. | |
| Doch selbst wenn Ed Bridges sein Verfahren gewinnen sollte oder [3][neue | |
| gesetzliche Regelungen den Einsatz der Gesichtserkennung] in Großbritannien | |
| verbieten oder nur unter eingeschränkten Bedingungen gestatten, sieht Griff | |
| Ferris die Debatte in einem globalen Kontext. Ihre bürgerrechtliche | |
| Dimension sei den westlichen Demokratien eigen. Staaten wie China würden | |
| den Gebrauch derartiger Technologien sicherlich ohnehin weiter ausbauen – | |
| was aber eben gerade nicht bedeute, „dass die Diskussion hier bei uns | |
| verfehlt sei“. | |
| 29 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn | |
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