Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte EU prüft Russland-Sanktionen: Straßburger Kniefall
> Die Parlamentarische Versammlung des Europarats berät diese Woche über
> eine Rückkehr Russlands in das Gremium. Es wäre ein fatales Signal.
Bild: Wladimir Putin: lupenreiner Demokrat
Es könnte bald wieder kuscheliger werden in Straßburg, und der Kreml darf
schon den Wodka kalt stellen. In dieser Woche stehen im Europarat, dem
„Hüter von Demokratie und Menschenrechten“, gewichtige Entscheidungen an.
Die Parlamentarische Versammlung (PV) befindet darüber, ob Russland künftig
wieder als gleichberechtigtes Mitglied mit am Tisch sitzen darf. Das
Terrain dafür wurde durch einen Beschluss des Ministerrats am 17. Mai
dieses Jahres in Helsinki bereitet, wobei sich Frankreich und Deutschland
besonders engagiert hatten.
Als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die
freundliche militärische Nachbarschaftshilfe Moskaus für die prorussischen
Kämpfer in der Ostukraine suspendierte die PV 2014 die Stimmrechte der
russischen Delegation. Die glänzte seitdem in allen Gremien durch
Abwesenheit. Überdies stellte Moskau 2017 seine Zahlungen für die Arbeit
der Institution ein – rund 30 Millionen Euro, was 7Prozent des Haushalts
entspricht.
Eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung würde den Stimmentzug für
Russland rückgängig machen – nicht irrelevant angesichts der Tatsache, dass
jetzt die Wahl eines neuen Generalsekretärs ansteht. Und: Die Verhängung
von Sanktionen wegen groben Fehlverhaltens, gegen welchen Staat auch immer,
würde künftig erheblich erschwert.
Die Befürworter eines Kniefalls vor Moskau führen als Argumente ins Feld,
dass es wichtig sei, den Dialog unbedingt aufrechtzuerhalten. Sollte
Russland den Europarat ganz verlassen, gingen die Bürger des Landes der
Möglichkeit verlustig, sich an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) zu wenden. In diesem Zusammenhang werden auch gern
russische MenschenrechtlerInnen bemüht, die unlängst in einem Appell vor
einem Ausschluss beziehungsweise Rückzug Russlands aus dem Europarat
warnten.
## Wegfall der Klagemöglichkeit wiegt schwer
Nun ist es ja mit dem Respekt von Demokratie und Menschenrechten sowie der
Bereitschaft zum Dialog im Falle Russlands so eine Sache. 1996, als ein
Abkommen den ersten Tschetschenienkrieg beendete, wurde das Land in den
Europarat aufgenommen. Wie erfolgreich die Domestizierungsversuche waren,
wurde drei Jahre später klar, als der zweite Tschetschenienkrieg unter dem
damaligen Regierungschef Wladimir Putin begann. Der kündigte an, die
„Terroristen auch noch auf dem Abort kaltmachen zu wollen“.
Der Wegfall einer Klagemöglichkeit vor dem EGMR für die BürgerInnen
Russlands wiegt in der Tat schwer. Im vergangenen Jahr stammten mehr als 20
Prozent aller Eingaben aus Russland – Tendenz steigend. Dummerweise trat
2015 jedoch ein russisches Gesetz in Kraft, das es dem russischen
Verfassungsgericht erlaubt, Urteile des EGMR zu ignorieren, wenn sie mit
der russischen Verfassung nicht vereinbar sind.
Nicht zuletzt auch deshalb gibt es mit Memorial eine gewichtige Stimme von
MenschenrechtsaktivistInnen, die sich kategorisch gegen eine
Rehabilitierung von Russland wenden. Aus gutem Grund. Die Organisation wird
– wie andere Regimekritiker auch – als ausländischer Agent geführt, was f…
die Beteiligten bedeutet, mindestens mit einem Bein im Knast zu stehen.
## Faktische Verstärkung der Gesetzlosigkeit
Eine entsprechende Erfahrung machte der Memorial-Vertreter in
Tschetschenien Ojub Titijew, der wegen angeblichen Drogenbesitzes
verurteilt wurde und von Glück sagen kann, dass er wieder auf freiem Fuß
ist. Swetlana Gannuschkina, Mitglied im Memorial-Vorstand, bringt es auf
den Punkt, wenn sie sagt: „Der Europarat ist keine Pionierbrigade zur
Umerziehung von Zurückgebliebenen.“
Ach so: Wer in Straßburg hört ukrainischen MenschenrechtlerInnen zu? In
einem Papier von Anfang Juni heißt es, die Rückkehr Russlands in die PV sei
ein Schlag gegen die Werte und moralischen Prinzipien der russischen
Zivilgesellschaft, eine faktische Verstärkung der Gesetzlosigkeit.
Dass vor allem in der Ukraine das Gebaren des Europarats auf Ablehnung
stößt, kann niemanden überraschen. Denn an den Gründen für die Verhängung
der Sanktionen hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Auf der Krim sind
schwerste Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung, wobei vor allem
Krimtataren unter staatlicher Repression und Willkür zu leiden haben.
In der Ostukraine geht der Krieg mit Beteiligung Russlands weiter, der
Minsker Friedensprozess ist so gut wie tot. Auch die namentliche Nennung
von vier Männern (drei davon Russen), die mutmaßlich für den Abschuss des
Flugzeugs MH 17 im Juli 2014 über der Ostukraine mit 298 Toten
verantwortlich sein sollen, wird von russischer Seite ohne Konsequenzen
bleiben.
Sieht so ein Dialog aus, für den Russland die Bedingungen diktiert und
einfach weitermacht wie bisher? Und man sich fast schon freuen muss, wenn
Außenminister Sergei Lawrow ankündigt, im Falle einer Aufhebung der
Sanktionen die Zahlungen wieder aufnehmen zu wollen? Eindeutig nein. Das,
was der Europarat als Dialog zu verkaufen versucht, ist in Wahrheit nichts
anderes als eine Kapitulation. Dabei gebe es andere Möglichkeiten, wie zum
Beispiel die Mitgliedschaft Russlands im Europarat ruhen, damit aber
gleichzeitig eine Tür für Moskau offen zu lassen.
Doch stattdessen kriecht Straßburg lieber zu Kreuze – ein fatales Signal.
Was soll man von einer Institution halten, die ihre eigenen Prinzipien
nicht ernst nimmt und diejenigen gewähren lässt, die diese weiter
unterhöhlen?
Nicht viel, bedeutet das doch auch, dass andere Staaten, wie etwa die
Türkei unter dem demokratischer Tugenden eher unverdächtigen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan weiter walten und schalten können, wie es ihnen
beliebt. Ekrem Imamoğlu, sollte er die Bürgermeisterwahlen in Istanbul zum
zweiten Mal gewinnen, seinen Sieg wieder streitig machen? Nur zu, es wird
schon nichts passieren. Erdoğan kann sich entspannt zurücklehnen, genauso
wie Wladimir Putin. Darauf einen Wodka!
24 Jun 2019
## AUTOREN
Barbara Oertel
## TAGS
Russland
Wladimir Putin
Europarat
Straßburg
Schwerpunkt Pressefreiheit
Russland
Russland
Wladimir Putin
Iwan Golunow
Michael Kretschmer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pressefreiheit auf der Krim: Berufsverbot für Kritiker
Mykola Semena hat jahrzehntelang als Journalist auf der Krim gearbeitet.
Nach der russischen Annexion durfte er das nicht mehr.
Fernsehen der Krimtataren in Kiew: Leeres Fernsehstudio
Der einzige Fernsehsender von Krimtataren ist bedroht. Russische Behörden
haben ihn enteignet, ukrainische Gelder kommen nicht an.
Kommentar Europarat und Russland: Kaum noch ernst zu nehmen
Dass der Europarat Sanktionen gegen Mitglieder der russischen Delegation
aufhebt, ist ein Punkt für Putin. Der kommt mit Erpressung erneut zum Ziel.
TV-Fragestunde mit Wladimir Putin: Schöne Worte, die ins Leere laufen
In der Sendung „Direkter Draht“ beantwortet Russlands Präsident Fragen. Die
Bürger sind mit Innenpolitik und Wirtschaft unzufrieden.
Vermehrte Proteste in Russland: Ein neues Gefühl des Erfolgs
Die Freilassung des russischen Journalisten Iwan Golunow zeigt: Präsident
Putin muss Unmut ernst nehmen. Das gibt Protesten Auftrieb.
Ostdeutsche Russlandphantasien: Putins Paradies
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer möchte die Sanktionen gegen
Russland lockern. Warum das feige, verlogen und chauvinistisch ist.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.