# taz.de -- Flüchtlingslager in Griechenland: Die Gestrandeten von Lesbos | |
> 4.390 Menschen leben auf der griechischen Insel im Lager Moria. Wenige | |
> erhalten Asyl oder werden zurückgeschickt. Die meisten können nur warten. | |
Bild: Warten. Die Flüchtlinge auf Lesvos leben ohne Perspektive | |
LESBOS taz | Nachts hat es geregnet, am Morgen hängen Wolken über dem | |
Hafenbecken von Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos. Zwei Fähren dümpeln, | |
bald werden sie in Richtung Türkei ablegen. Die, die in der Nacht von dort | |
gekommen sind, sitzen in einem blauen Polizeibus auf dem umzäunten Gelände | |
der Küstenwache. 23 Menschen haben die Grenzpolizisten in den vergangenen | |
Stunden aufgegriffen, das ist ziemlich genau der Durchschnitt jeder Nacht | |
in diesem Jahr. Die Polizisten haben sie hierher zur Hafenpolizei gebracht, | |
ihre Schlauchboote hinter der Absperrung abgelegt, und nun hocken die | |
Menschen im Bus und warten darauf, weggebracht zu werden. | |
Es ist kurz nach acht Uhr, als sich der Bus in Bewegung setzt, in einem | |
weiten Bogen um die Altstadt fährt, vorbei an der alten Festung, entlang | |
der Ostküste. Zwanzig Minuten Fahrt sind es bis zu jenem Ort, wo die | |
meisten von ihnen nun lange Zeit bleiben werden. | |
Nicht weniger als drei hintereinander gebaute Mauern und Stacheldrahtzäune | |
trennen das Lager von der Außenwelt. Tatsächlich war Moria bei seiner | |
Eröffnung im Jahr 2013 als Gefängnis für Flüchtlinge gedacht. Aber | |
irgendwann mussten die Behörden das Lager öffnen – zu viele Menschen | |
sollten hier untergebracht werden. 3.000 Plätze gibt es offiziell, im | |
vergangenen Oktober waren rund 10.000 Menschen hier. Heute sind es nach | |
Zählung der Lagerleitung 4.390, davon 285 unbegleitete Minderjährige. | |
Moria ist in sieben Zonen unterteilt: Die Zonen eins bis fünf sind die | |
einstigen Internierungstrakte. Dazu gibt es die Zonen „Olivenhain Nord“ und | |
„Olivenhain Süd“. Rund um das eigentliche Lager haben Flüchtlinge und | |
Helfer Hütten aus Planen errichtet, auf denen das Logo der EU prangt, als | |
sei sie auch noch stolz auf diesen Ort. Das umzäunte Containerlager ist mit | |
der vermüllten Siedlung rundum verschmolzen. | |
## „Wie im Gefängnis“ | |
Am Vormittag ist der Himmel blau, die Olivenbäume grün, wer an der Ostseite | |
des Lagers steht, kann das Meer sehen. In Wassertanks aus rostigem Metall, | |
groß wie Häuser, rauschen die Pumpen. Noch reicht das Wasser, sagen die | |
Menschen. Vieles andere reicht nicht. | |
Birgalai Douraim ist 46 Jahre alt, in seine grüne Cargohose krallt sich ein | |
kleiner Junge. „Wir warten monatelang, niemand kümmert sich um uns“, sagt | |
er. Fast 30.000 Euro habe es gekostet, seine Familie hierherzubringen. „Ich | |
war nicht arm in Afghanistan, ich habe bei den ausländischen Truppen | |
gearbeitet, frag nach in Washington, D.C.,“ sagt er. Am Ende hätten die | |
Amerikaner ihm 1.300 Dollar im Monat bezahlt, beschützen konnten sie ihn | |
nicht. Also floh er. „Es schmerzt mich“, sagt er, wie sie hier leben | |
müssen. „Meine Frau fühlt sich hier genauso wie in Afghanistan: wie im | |
Gefängnis.“ | |
Während er spricht, kommt ein anderer Afghane. Er kramt in seiner Tasche | |
und zeigt eine Karte. Sie soll beweisen, dass er für die afghanische | |
Nationalversammlung gearbeitet habe. Eine Frau gesellt sich hinzu. Sie lebt | |
allein mit ihrer Tochter im Lager. „Gestern habe ich um einen Termin beim | |
Arzt gebeten. Sie haben gesagt, ich soll einen Monat später wiederkommen. | |
Ein anderer junger Afghane berichtet, er sei 2018 hier angekommen. Sein | |
Termin für das Asylinterview sei für den Juni 2020 vorgesehen. | |
Die Schilderungen gleichen sich: Sie haben alles verkauft, sagen die | |
Menschen, sie werden hier krank, sie müssen warten. Dreimal am Tag je eine | |
Stunde auf das Essen. Einen Monat auf den Arzt. Ein Jahr auf das | |
Asylinterview. Schon für Erwachsene ist das lang. Aber mehr als ein Drittel | |
der Bewohner hier in Moria sind Kinder. Sie verlieren viel Zeit. Eine | |
Schule gibt es nicht, nur eine Schweizer NGO, die Unterricht organisiert. | |
Das Einzige, was hier schnell geht, ist die Rückkehr: Wer dahin will, wo er | |
hergekommen ist, kann zum Büro der UN-Migrationsagentur gehen und wird | |
schon bald ausgeflogen. | |
## 90 Euro im Monat plus kostenfreies Essen | |
90 Euro bekommt jeder im Lager pro Monat zusätzlich zum Essen. Je Familie | |
ist die Leistung allerdings auf 330 Euro gedeckelt. Semeen Alizada, einst | |
Lehrerin in Herat in Afghanistan, verdient sich etwas dazu. Sie hockt in | |
einem schwarzen Gewand vor einem Loch im Boden. Einen Lehmofen hat ihre | |
Familie dort eingelassen, sie hat sich das abgeschnittene Hosenbein einer | |
Jeans über den Arm gezogen und wendet damit die Fladen, die an der | |
Innenseite des Ofens kleben. 50 davon verkauft sie am Tag, für 50 Cent das | |
Stück. | |
Auf der anderen Seite der Straße liegt die Station von Ärzte ohne Grenzen | |
(MSF). Die Missionschefin heißt Carolin Willemen, eine junge Belgierin, die | |
vorher im Erdbebengebiet in Nepal im Einsatz war. „Aber hier gab es kein | |
Erdbeben“, sagt sie. Die Situation sei „das Ergebnis europäischer Politik�… | |
Die meisten Bewohner stammten aus Konfliktregionen. Die oft gefährliche | |
Reise habe sie zusätzlich belastet. „Moria ist der dritte Faktor“, sagt sie | |
und meint, dass die Aufnahmebedingungen viele krank machen. Magen-, Haut | |
und Atemwegsinfektion seien häufig. Fast ein Viertel der Kinder und | |
Jugendlichen, mit denen Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisation | |
im vergangenen Jahr Therapiegespräche führten, hätten daran gedacht oder | |
aber versucht, sich umzubringen, so Ärzte ohne Grenzen. | |
„Stellen Sie sich Eltern vor. Die bringen ihre Kinder aus dem Krieg | |
hierher, und dann können sie sie wochenlang nicht waschen“, sagt Willemen. | |
Im letzten Jahr registrierte MSF in neun Monaten 23 Fälle von sexuellem | |
Missbrauch in Moria. | |
## Niemand will die Flüchtlinge haben | |
Ins Lager zu gehen und dort mit den Verantwortlichen zu sprechen ist für | |
Journalisten nicht möglich. Nur der „Olivenhain“ ist öffentlich zugängli… | |
Nach Angaben der EU-Kommission bekam [1][Griechenland] in den letzten | |
Jahren 1,5 Milliarden Euro für die Flüchtlingsversorgung. Doch immer wieder | |
heißt es, Griechenland rufe das Geld nicht vollständig oder nur langsam ab. | |
Tatsächlich dürfte der griechischen Regierung wohl an den Elendsbildern | |
gelegen sein. Denn Athen will kein Geld für die Flüchtlinge. Die Regierung | |
will, dass andere EU-Staaten sie aufnehmen. | |
In der EU wiederum gibt es für einen solchen Verteilmechanismus keine | |
Mehrheit. Die EU-Kommission will diese sogenannten Hotspots – und zwar | |
nicht bloß zu Zwecken der Registrierung. Dass Risiko, lange Zeit dort | |
festzusitzen, hat eine strategische Funktion. Es soll abschrecken. Denn die | |
Ägäis ist nach wie vor eine der wichtigsten Fluchtrouten. Rund zwei von | |
drei Flüchtlingen, die in der Türkei abzulegen versuchen, hält die | |
türkische Küstenwache auf – das ist Teil ihrer Abmachung mit der EU. Doch | |
zwischen dem 1. und dem 26. Mai kamen über 800 Menschen in der Ägäis an, | |
etwa 10.000 waren es seit Jahresbeginn, rund 34.000 im vergangenen Jahr. | |
Das war jeder vierte Flüchtling, der in der EU ankam. 53 Menschen sind | |
dabei in diesem Jahr ertrunken, zuletzt kenterte vor einer Woche ein Boot | |
vor Lesbos, sieben Insassen starben. | |
Fünf solcher Registrierlager wie in Moria betreibt die EU entlang der | |
türkisch-griechischen Küste. Rund 6.500 Plätze haben sie offiziell, etwa | |
16.000 Menschen sind derzeit dort untergebracht. Der im März 2016 von der | |
EU mit der Türkei geschlossene Flüchtlingspakt sieht vor, dass die EU alle | |
Migranten, die über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, | |
zurückschicken kann. Im Gegenzug sollten EU-Staaten der Türkei | |
schutzbedürftige Flüchtlinge aus Syrien abnehmen – und Milliarden für | |
Hilfen in der Türkei zahlen. | |
Ungefähr 100.000 Menschen sind seit dem Inkrafttreten des Deals im März | |
2016 auf den Ägäischen Inseln angekommen. Die EU hat darauf gesetzt, dass | |
die meisten wieder in die Türkei abgeschoben werden. Von April 2016 bis Mai | |
2019 geschah dies rund 2.460 Mal. Denn die griechischen Behörden halten die | |
Türkei unter anderem deshalb nicht für sicher, weil dieses Land nach Syrien | |
und Afghanistan abschiebt. | |
## Kein Asyl, keine Entscheidung, nur Warten | |
Asyl gewähren will Griechenland aber auch nicht. Es ist eine paradoxe | |
Situation. Statt eines regulären Asylverfahrens wird offiziell nur geprüft, | |
ob die Türkei für die Flüchtlinge ein sicherer Ort wäre. Bei Opfern von | |
Schiffsunglücken, Schwangeren, chronisch Kranken, Behinderten, | |
Folteropfern, alten Menschen oder unbegleitete Minderjährigen wird das | |
verneint. Ihre Asylanträge werden bearbeitet. Jene der übrigen nicht. „Das | |
Kriterium der Verletzlichkeit tritt an die Stelle des Rechts“, sagt Thomas | |
Gebauer von der Hilfsorganisation medico international dazu. | |
Also sitzen die Menschen erst Jahre auf den Inseln fest, bevor sie auf das | |
Festland dürfen und sich selbst überlassen werden. Ein Teil versucht | |
weiterzukommen, etwa nach Deutschland. Legal aber ist das kaum möglich: Von | |
626 Anträgen auf Familienzusammenführung nach Deutschland, die griechische | |
Asylbehörden zwischen 1. Januar und 22. Mai dieses Jahres stellten, wurden | |
472 abgelehnt. | |
Ein kleinerer Teil versucht mit falschen Pässen aus Griechenland | |
wegzukommen. Insgesamt registrierte Frontex im vergangenen Jahr EU-weit | |
6.667 solcher Fälle, eine Zunahme gegenüber dem Vorjahr. Diese sei „auf den | |
deutlichen Anstieg der Abflüge von Syrern, Afghanen, Irakern, Iranern und | |
Türken aus Griechenland zurückzuführen“, so Frontex. | |
Mitte Mai besuchte der vatikanische Almosenmeister Kardinal Konrad | |
Krajewski das Lager in Moria. Europa habe „ein wenig vergessen, dass es | |
hier so viele Flüchtlingszentren gibt“, sagt Krajewski. Hier sehen wir | |
viele Kinder, viele schwangere Frauen, die seit Monaten darauf warten, dass | |
Europa seine Türen öffnet, denn hier gibt es keine Hoffnung für sie.“ | |
20 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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