# taz.de -- Junge Eritreer in Berlin: Auf der Suche nach der Demokratie | |
> Die weltweite Bewegung der eritreischen Diaspora ist auch in Berlin | |
> angekommen: Eine neue Interessenvertretung richtet sich gegen das | |
> Militär-Regime. | |
Bild: Der neu gegründete Verein distanziert sich von regimetreuen Eritreern | |
Zur Vereinsgründung wollte Daniel Tsgab unbedingt gehen. „Da treffen sich | |
Eritreer aus Berlin und Brandenburg und wir rufen: „Down, down Diktatur“, | |
schwärmt der Mittzwanziger, der seinen echten Namen aus Furcht vor | |
negativen Folgen lieber nicht nennen möchte. Vor gut einem Monat hat Tsgab | |
Internetvideos von einer Mutmacher-Veranstaltung gesehen: Rund 200 Berliner | |
Eritreer protestierten da in Sprechchören gegen die Diktatur in Eritrea, | |
die als eine der brutalsten weltweit gilt. Das öffentliche politische | |
Bekenntnis ist für viele Eriteer etwas völlig Neues. In Flüchtlingsheimen | |
gilt die viertgrößte Flüchtlingsgruppe eher als unpolitisch und brav. Dass | |
jetzt in Berlin ein politisches Interesse entflammt, ist der weltweiten | |
Bewegung der eritreischen Diaspora „Genug ist genug“ geschuldet, die sich | |
gegen das derzeitige Regime richtet. | |
Daniel Tsgab war in Eritrea kein politischer Mensch. Er floh vor dem | |
Nationaldienst, einer Mischung aus Militärdienst und Arbeit mit | |
drakonischen Strafen, der in der Militärdiktatur lebenslänglich dauern kann | |
und laut UN viele Merkmale von Sklaverei erfüllt. Tsgab wurde auch kein | |
politischer Mensch, als er sich auf der Flucht im Sudan als Tagelöhner auf | |
Baustellen herumschlagen musste, nicht, als er in Libyen vier Monate lang | |
unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert wurde, und auch nicht, als er | |
es mit einem Boot bis nach Sizilien schaffte und Menschen bei der Überfahrt | |
neben ihm starben. | |
Auch in Berlin, wo er 2015 ankam, war Politik ihm lange suspekt. Als die | |
junge Frau, die in seinem Flüchtlingswohnheim Deutsch-Nachhilfe gab, ihm | |
erzählte, dass sie Politik studierte, bekam Daniel Tsgab einen Schreck. | |
Politiker, das waren für ihn bis dahin Leute, die in Eritrea | |
Wehrdienstverweigerer und in Libyen Flüchtlinge in unmenschliche | |
Gefängnisse stecken ließen. Das passte nicht zu der netten Frau, die | |
Vokabeln an die Tafel schrieb und mit den Schülern lachte. | |
Die „Genug-ist-genug“-Bewegung, mit der Eritreer weltweit gegen die | |
Militärdiktatur protestieren, erreichte Tsgab über Facebook. Politischer | |
Protest, das löste plötzlich Faszination auf ihn aus und er wollte daran | |
teilnehmen. | |
Asmorom Paulos, nur wenig älter als Tsgab, gehört zu den Organisatoren der | |
eritreischen Vereinsgründung für Berlin und Brandenburg. Der Potsdamer, der | |
2014 nach Deutschland floh, war vor einem Monat dabei, als seine Landsleute | |
in Berlin noch schüchtern den Protest im Saal geübt hatten. Und er hatte am | |
Pfingstsonntag zur Vereinsgründung nach Berlin geladen. „Uns alle eint die | |
Erfahrung der Flucht“, sagt er der taz. „Wir müssen uns persönlich | |
kennenlernen und sehen, was wir für Eritrea tun können.“ | |
## Versammlung als Demokratielernstunde | |
Freweynih Habtemariam, eine Dolmetscherin, die bereits seit ihrer Kindheit | |
in Berlin lebt und als eine der wenigen eritreischen Flüchtlinge auch | |
Erfahrung in der Vereinsarbeit mitbringt, sieht die Schwerpunkte etwas | |
anders: „Bevor wir uns um Eritrea kümmern können, müssen wir uns um uns | |
selbst kümmern: Wie organisieren wir Hilfe bei der Wohnungssuche | |
hierzulande, bei strukturellen Problemen im Asylverfahren und bei | |
psychischen Problemen?“ | |
Die Mittfünfzigerin war es auch, die den mehrheitlich eine Generation | |
jüngeren Eritreern auf der Versammlung erläuterte, was eigentlich ein | |
eingetragener Verein ist. Erfahrungen in Selbstorganisation hat niemand aus | |
Eritrea mitgebracht. Demokratische Formen müssen sich die 140 Eritreer, die | |
am Pfingstsonntag in einem Nachbarschaftszentrum in Spandau zusammenkommen, | |
erst mal erarbeiten. Ihre Versammlung ist Demokratielernstunde. Die | |
Organisatoren lassen in Kleingruppen zunächst diskutieren, welche | |
Voraussetzungen jemand mitbringen soll, der in den Vereinsvorstand will. In | |
der Diskussionsgruppe von Daniel Tsgab wird auf ein Papier notiert, worauf | |
man sich geeinigt hat: „Er muss aus Eritrea kommen“, steht dort. „Er muss | |
für Frieden, Freiheit, Ehrlichkeit und Demokratie sein“. Und: „Er muss | |
Deutsch sprechen.“ Das „Er“ wird in der reinen Männergruppe nicht infrage | |
gestellt. | |
In der Debatte entstehen Forderungen, die sich zu widersprechen scheinen. | |
So sucht man einerseits nach Leuten mit politischer Erfahrung, will aber | |
anderseits sowohl Regimeanhänger als auch Politiker von Oppositionsgruppen | |
ausschließen, um sich nicht vereinnahmen zu lassen. Wo aber soll dann | |
jemand, der vor wenigen Jahren aus Eritrea floh, überhaupt politische | |
Erfahrungen gesammelt haben? Schnell wird klar, dass man das gemeinsam wird | |
lernen müssen. | |
Am Ende wird aus 14 Nominierten ein siebenköpfiger Arbeitsvorstand gewählt. | |
Drei Frauen sind auch darunter, schließlich, so ein Diskutant „leben wir ja | |
in Deutschland und da haben Frauen die gleichen Rechte wie wir“. Die | |
Gewählten sollen eine Satzung erarbeiten und einen Namen und Räume für den | |
neu zu gründenden Verein finden. | |
Daniel Tsgab ist am Ende unzufrieden. Kein einziges Mal hat er während der | |
vier Stunden mit den anderen „Down, down, Diktatur“ gerufen. „Und etwas | |
Konkretes haben wir auch nicht gemacht.“ Demokratie, so hat er gelernt, | |
kann langweilig und anstrengend sein. | |
11 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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