# taz.de -- Roadtrip durch Eritrea: Die Angst kommt in Latschen | |
> Wer durch Eritrea reist, trinkt Gin im Bordell, tanzt zu „Cocoo Jambo“ | |
> und trifft überall freundliche Menschen, die sich vor ihrem Präsidenten | |
> fürchten. | |
Bild: Ein Propagandagemälde preist die Demokratie – die Realität sieht ande… | |
Die Hölle ist frühmorgens noch angenehm kühl. Kinder verkaufen Kaktusfeigen | |
am Straßenrand, ein Alter sitzt auf seinen Hacken und schnitzt | |
Zahnputzhölzchen. Wir schlendern entlang des Palmenboulevards durch | |
Eritreas verschlafene Hauptstadt Asmara, Menschen winken uns zu: „Welcome | |
to our peacy peacy country!“, rufen sie. | |
Asmara sei die sicherste Stadt Afrikas, versichert man uns. Kein Diebstahl, | |
keine Probleme. Auf 2.400 Metern ist das Klima herrlich, die Menschen sind | |
höflich, und aus den Straßencafés dudelt fröhliche Musik. Den Süden der | |
Stadt ziert das berühmte Fiat-Tagliero-Gebäude, Unesco-Weltkulturerbe. | |
Dahinter, liest man, liegen Folterkammern. | |
Kollegen, Freunde, sogar mein Arzt haben uns für wahnsinnig erklärt. „Was | |
zum Teufel wollt ihr in Eritrea?“ Die Diktatur am Roten Meer ist als | |
Folterstaat bekannt. Die vereinten Nationen sprechen von bis zu 5.000 | |
Menschen monatlich, die vor Armut, dem Militärdienst und der Überwachung | |
fliehen. Eritreer, heißt es, kennen nur Angst. Nicht einmal im Exil wagen | |
sie Kritik an Diktator Isayas Afewerki. Doch wer das Land besucht, trinkt | |
Cappuccino in Altstadtcafés und kann zwischen Korallen im Roten Meer | |
tauchen. | |
„Afewerki hat uns die Freiheit gebracht“, sagen die Eritreer, wenn wir sie | |
auf offener Straße ansprechen. Im nächsten Moment raunen sie hinter | |
vorgehaltener Hand, dass ihre Brüder in den Folterkellern des Diktators | |
verschwunden sind und bitten, niemals ihre Namen zu nennen. Unsere Reise | |
durch Eritrea wird zum Roadtrip durch ein Land, in dem Schönheit und | |
Schrecken oft nah beieinander liegen. | |
Tag 2: Keren | |
Mit dem Sonnenaufgang kurvt der Bus an Affenbrotbäumen und Papayaplantagen | |
vorbei ins Tal. Wir wollen nach Keren, ein Städtchen drei Busstunden | |
nordwestlich von Asmara. Ein paar Jungen spielen Messerwerfen am | |
Straßenrand, die Hügelterrassen, erzählt unser Sitznachbar, waren früher | |
äthiopische Armeestützpunkte. | |
Angekommen in Keren nehmen wir uns das erstbeste Hotel. Das | |
heruntergekommene Gebäude hat eine Bar, also trinken wir Dosenbier zum | |
Frühstück und drücken unsere Zigaretten in alten Thunfischdosen aus. An der | |
Wand ein Britney-Spears-Poster, im Holzregal hinter der Theke mehrere | |
Vorratspackungen Kondome à 145 Stück. „Warum?“, frage ich eine Frau mit | |
Goldzahn. – „Na, weil das hier ein Puff ist!“ | |
150 Nakfa bekommen die Frauen pro Stunde, erklärt uns die Wirtin. 10 Euro. | |
Das ist sehr viel mehr, als die meisten Eritreer verdienen. Die Zimmer | |
sind einfach, die Betten schmal. In den Bettdecken Brandlöcher, eine junge | |
Sudanesin wäscht jeden Morgen das Sperma aus den Laken. | |
Tagsüber schlendern wir durch ausgetrocknete Flussbetten und über triste | |
Märkte. In den Cafés entlang der Straße sitzen alte Männer mit Hüten und | |
trinken einen Tee nach dem anderen. Sie lesen die Haddas, die einzige | |
Zeitung. Manche benutzen sie als Sitzunterlage. Zu etwas anderem, sagt | |
einer, sei sie nicht zu gebrauchen. | |
Später am Tag findet auf den leeren Straßen von Keren ein Radrennen statt. | |
Radsportler werden in Eritrea gefeiert wie Helden. Mein Fotograf will die | |
Siegerehrung aufnehmen, doch einem der anwesenden Männer gefällt das nicht. | |
„Bilder zeigen“, sagt er. „Alle“. Erst kürzlich hätten sie hier einen | |
Italiener kontrolliert, erzählt später ein Zuschauer. Er musste die Bilder | |
löschen und ging für einen Tag ins Gefängnis. | |
Abends im Bordell | |
Die Neonlichter flirren; wir tanzen bis spät in die Nacht, bei Asmara-Gin | |
und äthiopischen Evergreens. Äthiopien, war das nicht der Feind? Das Land, | |
durch dessen Bedrohung der Präsident den ewigen Militärdienst bis heute | |
rechtfertigt? „Ach was!“, sagt die mit dem Goldzahn. „Wir lieben die | |
Äthiopier.“ | |
Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: „Wenn zwei Elefanten streiten, leidet | |
das Gras.“ Kriege, sagt sie, führten doch immer nur die Machthaber. Nicht | |
das Volk. | |
In der Frühe weckt uns eritreischer Pop. Goldzahn kehrt bereits die | |
Kippen von den Fliesen und streut Popcorn über den Boden, das bringt Glück. | |
Ein Spatz fällt tot vom Dach, und Goldzahn wirft ihn auf den Müll. | |
„Männer“, sagt sie, „sind nutzlos und sowieso alle weg.“ Es bleibt kei… | |
hier zum Heiraten. Viele fliehen bereits als Jugendliche vor dem drohenden | |
Militärdienst. „Aber wenigstens die HIV-Raten sind zurückgegangen“, sagt | |
Goldzahn. | |
Tag 5: Die Hauptstadt | |
Asmara hat einen verwitterten Charme. An der Turmuhr der orthodoxen Kirche | |
fehlen die Zeiger, und im Cinema Impero läuft ein amerikanischer Tanzfilm | |
aus dem Jahre 1999. Das Botschaftsviertel der Stadt schmücken italienische | |
Kolonialbauten. Sprechen die Asmarinos von Bella Italia, klingt das wie | |
der Name einer Jugendliebe, schon lange fort, doch immer noch Anlass | |
wohliger Schauer. „Ist sie nicht schön, unsere Stadt?“, fragt uns ein | |
Bewohner. „Sind wir nicht frei?“ | |
„Die Illusion, die uns verherrlicht, ist uns lieber als zehntausend | |
Wahrheiten“, schrieb der russische Schriftsteller Alexander Puschkin – | |
dessen Urgroßvater aus Eritrea stammte. Aber auch über Romantiker bricht | |
irgendwann die Wirklichkeit herein. CNN und al-Dschasira bringen den | |
Aufschwung der anderen in die Wohnzimmer, Bars und Cafés, und abends löst | |
das süffige Asmara-Bier die Zungen der angeblich so schweigsamen Eritreer. | |
„Jeder hat Verwandte im Ausland, jedes Dorf einen Fernseher“, erzählt ein | |
Student im Schutz lauter Musik. „Die Leute sagen: Besser ein Hund in Europa | |
als hier ein Mensch.“ | |
Tag 6: Unterwegs | |
Die Tourismusbehörde, bei der wir jede Reise außerhalb der Hauptstadt | |
genehmigen lassen müssen, hat uns verboten mit Bussen zu fahren. Also | |
mieten wir einen alten Toyota. Der Mechaniker, der noch ein paar Schrauben | |
festzieht, erwähnt beiläufig, dass er sich seit Jahren vor dem | |
Militärdienst versteckt hält. Würde er eingezogen, müsste er seine Familie | |
verlassen. Das Geld, das er monatlich verdienen würde – es würde kaum für | |
einen Sack Linsen reichen. Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Da | |
er sich nicht registriert, sagt er, existiere auch seine Familie offiziell | |
nicht. Seine Kinder werden niemals in die Schule gehen. | |
Es sind 155 Kilometer und drei Klimazonen bis ans Rote Meer. An den | |
Militärcheckpoints hinter Asmara werden wir nicht kontrolliert. Platzregen | |
setzt ein. Der Fotograf fährt, und da sein Scheibenwischer keine Scheiben | |
wischt, schaue ich aus dem Fenster und rufe ihm die Hindernisse zu: Esel! | |
Hund! Kind! Und die Kinder rufen zurück: China! Chinesen gab es hier früher | |
viele, dank guter Handelsbeziehungen – es sind die einzigen Ausländer, die | |
sie kennen. | |
In dichtem Nebel fahren wir auf verschlungenen Straßen vorbei an kleinen | |
Wasserfällen und endlosem Grün. Wir jagen Affen und Zebus von der Fahrbahn | |
und trinken süßen Tee mit jungen Soldaten. Der Laubwald weicht bald einer | |
Ebene mit biblischen Dornbüschen. Im Autoradio spielt nur einen Sender, | |
Koransuren auf FM 97,2. Der Singsang ist der perfekte Soundtrack zu dieser | |
kargen Kulisse. | |
Als wir spätabends ein kleines Dorf erreichen, scheppert Tigrinya-Pop aus | |
einem alten Kassettenrekorder. Der Araki fließt, und die Frauen tanzen mit | |
lauten „Lulululu“-Rufen um einen Balken inmitten einer Basthütte. Im Nu | |
sind wir eingeladen – heute Abend gibt es Grund zum Feiern: Die Schüler der | |
elften Klasse reisen morgen früh nach Sawa, ins Militärcamp. | |
Amnesty International dokumentiert Fälle von sexuellen Übergriffen in | |
diesen Camps, der UN-Bericht beschreibt Gewalt an Männern und Frauen durch | |
Ausbilder. Geflohene erzählen von Foltermethoden, bei denen Gefangene an | |
Armen an einem Baum aufgehängt werden, bis die Blutzufuhr endet – und jetzt | |
feiern sie hier eine Party? Wir freunden uns mit ein paar Jungs in | |
Camouflage-Hosen an. | |
„Gibt es dort Vergewaltigungen?“, frage ich. | |
„Ja.“ | |
„Gibt es dort Folter?“ | |
„Ja.“ | |
„Und Gefängnisse?“ | |
„Ja.“ | |
In Sawa, erklären sie, wird man drei Monate lang gedrillt, es wird | |
geschossen, aber auch studiert. | |
Weit nach Mitternacht liegen wir auf geflochtenen Matten unter freiem | |
Himmel. Der Kassettenrekorder dröhnt noch immer. Um vier Uhr früh kommen | |
die Busse. Abschiedsszenen vor geöffneten Fahrzeugfenstern, kleine | |
Geschenke werden ins Innere gereicht – Kämme, Kaugummis – Hände | |
abgeklatscht, gehupt, gejubelt, als gelte es, die Nationalmannschaft zu | |
verabschieden. Der Konvoi fährt ab, und die Musik verstummt. | |
Die jüngeren Schüler schauen ihnen noch lange nach. „Hast du die Angst in | |
ihren Augen gesehen?“, fragt mich der Fotograf. Viele scheinen zu ahnen, | |
was sie erwartet. | |
Tag 7: Der Morgen danach | |
Morgens um sechs, als es zum Schlafen zu heiß wird, wandern wir vorbei an | |
Wassermelonen und Ziegenbeinen zum Schuppen, in dem wir gestern Abend | |
tanzten. Eine Frau reicht uns Kaffee mit gemahlenem Ingwer. | |
„Nicht alles hier ist schlecht“, erklärt uns ein junger Englischlehrer. | |
Die meisten Männer, mit denen wir sprechen, haben studiert, aber kaum einer | |
arbeitet in seinem Beruf. Stattdessen werden sie Lehrer und Soldaten. | |
Bildung und ein starkes Militär, das ist Afewerkis Formel für ein | |
unabhängiges Eritrea. „Wir wollen Veränderung“, sagt der Lehrer, „aber … | |
rühren keinen Finger. Wir haben gesehen, wohin dieser Kampf führt.“ | |
25 Jahre „Unabhängigkeit“ – es ist das kollektive Gedächtnis einer | |
resignierten Generation. Sie kennen die Geschichten der Alten, die bereit | |
waren, ihr Leben für ihr Land zu geben und am Ende nichts davon hatten. Sie | |
kämpften für ihre Freiheit, doch der, der sie ihnen bringen sollte, wurde | |
zum Diktator. Und nun wartet ein ganzes Land in Teehäusern, und keiner weiß | |
worauf. | |
Hilfe, sagen sie, kann nur von außen kommen. Gewiss, man bräuchte eine | |
Revolution, aber die Diaspora ist gespalten, in Mittellose und Fantasten | |
und sowieso: Erst mal einen Kaffee. Gott und viel Zucker werden es schon | |
richten. | |
Gurgusum | |
Am meisten lieben diejenigen ihr Land, die nicht in ihm leben; Menschen, | |
die wir am Sandstrand von Gurgusum treffen, dem Paradies der Exileritreer | |
am Roten Meer, die schon vor 30 Jahren während des Unabhängigkeitskriegs | |
flohen und heute hier Urlaub machen. | |
Elegante Frauen posen vor Palmen, Teenager reiten auf Kamelen, gepiercte | |
Mädchen dümpeln auf pinken Luftmatratzen im Meer. „Ist es nicht schön, | |
unser Land?“, fragen sie uns. Männer, Frauen und Kinder, die erschüttert | |
über die schlechte Presse ihrer Heimat sind. „Armut, Folter, Vergewaltigung | |
– wer denkt sich denn so was aus?“ | |
Auch Touristen kommen, aus Deutschland, Schweden und Italien. Ihre | |
Sommerferien verbringen sie in Bungalows mit Meerblick und prosten auf die | |
Unabhängigkeit. Kein Einheimischer könnte sich diesen Luxus leisten. Für | |
100 Nakfa, den Preis von drei Mahlzeiten, mietet die Diaspora eine Liege | |
unter Dattelpalmen. Sie trinken Bier, essen Burger und beschweren sich über | |
den schlechten Service. | |
Massawa | |
Am Abend brechen wir nach Massawa auf, eine alte Hafenstadt. Massawa galt | |
einst als Perle des Roten Meers. Myrrhe, Giraffen und Sklaven wurden hier | |
verschifft. Die Stadt florierte unter Türken, Arabern und Portugiesen und | |
wurde Landeshauptstadt unter der italienischen Kolonialherrschaft. Später, | |
während des Unabhängigkeitskriegs von Äthiopien trafen Luftangriffe das | |
Wirtschaftszentrum mitten ins Herz. In den Ruinen der großen Handelshäuser | |
stecken noch heute Splitter. | |
Nur ein paar einsame Hafenhuren harren in den engen Gassen der Altstadt | |
aus, dazu verschlagene Gestalten, wie Zeki. Zähne wie ein Haifisch, | |
Englisch wie ein Seeräuber, aber er erzählt gern und viel – und so sitzen | |
wir zusammen, Zigarette um Zigarette, und Zeki spuckt nach jedem Satz in | |
den Staub. Früher legten hier Schiffe an, sagt er. Türken und Filipinos, | |
die ihn ihre Sprachen lehrten, und Jemeniten, bei denen zu Hause die | |
Bordelle rar und die Frauen verschleiert sind. Aber die Zeiten der großen | |
Geschäfte sind passé. | |
Am meisten merken das die Prostituierten, sagt Zeki. Die Schönsten von | |
ihnen hätten schon lange mit Seemännern das Land verlassen. Frauen, die | |
bleiben, verdienen in einer guten Nacht 100 Dollar, die sie nicht | |
eintauschen können. Sie würden sich verdächtig machen: Mehr als umgerechnet | |
200 Euro darf niemand in Eritrea in der Tasche haben. | |
Es ist Nacht geworden, und die Stadt erwacht zu Jennifer Lopez und | |
amharischem Disco-Funk. Die Generatoren halten der Hitze nicht stand, aber | |
jetzt ist das alte Fernsehgerät in der Lobby wieder angesprungen. Es | |
berichtet von Instagram-Aktien in dem Land ohne Internet, und Frauen tanzen | |
zu „Cocoo Jambo“. | |
Tag 8: Armut | |
Wir sind zur Kaffeezeremonie eingeladen. Die Kinder sind verrotzt, auf | |
ihren Wangen sitzen Fliegen, eine Mutter trägt wulstige Narben an Brust und | |
Schulter. „Boyfriend“, sagt sie. Zwei Filipinos haben sich beim Landgang | |
verirrt. Die Frauen versuchen, sie mit Bier und halbentblößten Brüsten | |
zum Bleiben zu überreden, aber die Männer haben anderes im Sinn. Sie wollen | |
nicht bleiben. | |
Die Frauen kaufen eine einzelne Zigarette, die wir abwechselnd rauchen, und | |
die Wulstnarbige, die ihren Namen mit geschmolzenem Plastik auf den Arm | |
tätowiert hat, besitzt eine Münzsammlung in ihrem Bretterverschlag. | |
Klimpernde Schätze aus einer Welt, die sie nicht kennt, getauscht gegen | |
Blowjobs. | |
Zurück auf der Straße | |
Wir verlassen diesen Hitzekessel und fahren zurück in die Hauptstadt. Die | |
Themen entlang der Straße: Sex, Alkohol und Europapolitik. Die Männer | |
lieben Angela Merkel, aber kritisieren die lange Dauer der Asylverfahren. | |
Irgendwann dann die obligatorische Frage: „Wie gefällt dir dieses Land?“ | |
Meine Antwort: „Toll hier! Die Menschen sind fantastisch.“ | |
Einer dieser Fantastischen starrt mich an und legt mir dir Hand aufs Knie. | |
„Zeig mir mal deine Tasche. Hast du ein Aufnahmegerät dabei? Das sollte | |
jetzt lieber niemand hören.“ | |
Dann ist er wieder da, dieser Konflikt, der uns seit Tagen umtreibt: Rein | |
objektiv ist Eritrea ein schönes Land. Ich fühle mich sicher, die Menschen | |
sind freundlich, wir werden überall mit offenen Armen empfangen. Aber auf | |
zu Hause liegen Zeitungsartikel und UN-Berichte, ein Stapel, fünf | |
Zentimeter dick, der von Folter und Zwangsarbeit berichtet. Da sind | |
Momente, in denen genieße ich diese Reise – und doch weiß ich, dass es | |
viele Dinge gibt, die ich niemals sehen werde. | |
„Wie kannst du dieses Land nur als schön bezeichnen! Wir haben hier rein | |
gar nichts! Weder Frieden noch Freiheit. Wir sind barya – wie sagt man?“ – | |
„Sklaven“, hilft ein Freund. „Dieser Mann“, er zeigt auf einen Lehrer, | |
„verdient keine 30 Dollar im Monat. Wie soll er damit überleben? Seine | |
Kinder ernähren? Ja, vielleicht ist es hübsch an der Oberfläche, warum | |
glaubst du, darfst du nirgends hinreisen? Ihr dürft ein paar ausgewählte | |
schöne Orte sehen, damit ihr zurückgeht und verkündet, wie toll dieses Land | |
ist.“ | |
Die Stimme des Mannes wird ruhiger. „Es stimmt, die Menschen hier in | |
Eritrea sind gute Menschen“, sagt er. „Offen, tolerant, höflich – besond… | |
zu Gästen. Früher hättet ihr hier keine Wertsachen wegsperren müssen, keine | |
Hoteltür verriegeln. Aber die Zeiten ändern sich. Wenn es nichts mehr zu | |
essen gibt, wird Menschlichkeit zum Privileg. Also schließt euer Auto ab.“ | |
Tag 12: Angst | |
Männer in Zivil wollen jetzt mehrmals am Tag unsere Pässe sehen. Menschen | |
flüstern uns Dinge zu und werden sogleich weggezogen, wie die Frau, die | |
Geld für ihren Sohn im Gefängnis sammelt. Wir werden zu Spaziergängen | |
eingeladen, weit weg von den Ohren der Dörfer. Politik, die Regierung, | |
Probleme – über so etwas sprechen sie untereinander schon lange nicht mehr. | |
„Jeder“, sagen sie, „könnte ein Spitzel sein. Deine Nachbarin, dein Freu… | |
dein Bruder …“ | |
In der Nacht gibt es Ärger an der Hotelbar. Ein Trinker am Krückstock ist | |
nicht begeistert über unsere Anwesenheit. Er schreit uns an. Jeder wolle | |
diesem Land nur Böses – und überhaupt: „Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?… | |
Er rufe die Polizei. Wir brauchen zwei Stunden und viele Flaschen Bier, bis | |
wir mit ihm auf Bruderschaft trinken. Im Hotelzimmer beginnen wir zu | |
flüstern. | |
Bei der Kaffeezeremonie am nächsten Morgen sitzen plötzlich drei Polizisten | |
mit am Tisch. Die Beamten nehmen Daten und Abflugzeiten auf und sagen dann: | |
„Dies ist ein freies Land. Trinkt euren Kaffee und dann geht.“ | |
Auf Asmaras Straßen erscheint die Angst in Gummilatschen, vier Nummern zu | |
groß. Ein Mann mit blau lackierten Fingernägeln beschwört unsichtbare | |
Mächte, ein anderer spricht mit sich selbst und fällt mich mitten auf der | |
Straße an. Er umklammert meine Handgelenke und fleht „Please! Take me to | |
America!“ Denn der Feind lauere überall und wolle ihn noch heute Nacht | |
holen. Sie sabbern von Krieg und Gefängnis, ihre Augen sind leer. | |
Psychische Erkrankungen, steht im UN-Bericht über Eritrea, seien oft eine | |
direkte Folge von Folter und unmenschlichen Haftbedingungen. In Asmara | |
begegnet man vielen Verwirrten. | |
1 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Hellge | |
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