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# taz.de -- Poesie in Gebärdensprache: Neue Kanäle der Kommunikation
> Mit Hand- und Körperzeichen, Bewegungen und Bildern reden: Die
> Literaturinitiative „handverlesen“ vermittelt Poesie in Gebärdensprache.
Bild: Erster Workshop mit den Künstler*innen Julia Hroch, Kassandra Wedel, Raf…
Dieser Text beginnt mit einer Übersetzung. Es geht um ein Gedicht, mehr
schon eine Ballade von Julia Hroch. Sie erzählt darin Geschichten von
Menschen, die dagegen kämpfen müssen, wie sie von außen beurteilt werden:
„menschen sind scheiße zueinander. menschen sind scheiße zu mir. warum? aus
eifersucht? langeweile? neid? was habe ich falsch gemacht? ich ging
malochen. in ner schneiderei. ich höre nicht, also riss ich mir den arsch
auf. mein chef fands geil. meine kolleginnen nicht. mein chef lobte mich.
meine kolleginnen nicht. hab mehr geackert als die anderen leute. die meute
hasste mich.“
Aufgeschrieben ist dieser Textausschnitt eine Übersetzung von Tim Holland,
ebenfalls Dichter. Julia Hroch hat ihr Gedicht, „ich bin die heftigste
Blume am strauch“ in Gebärdensprache entworfen.
## Emotional und expressiv
Auf der Website von poesiehandverlesen kann man sehen, wie Julia Hroch
zusammen mit einer Kollegin ihre Ballade in Gebärdensprache performt. Es
ist tonlos, auch ohne Musik, und doch meint man den Rhythmus des Rap in den
Bewegungen der beiden Frauen zu spüren. Verstehen lässt sich die Geschichte
nicht ohne Kenntnis der Gebärdensprache, allein dass hier ausdrucksstark
und differenziert, emotional und expressiv kommuniziert wird, sieht man
schon. Und mit einer temperamentvollen Lebendigkeit, die auch durch ihre
Schönheit besticht.
Dass es das Gebärdensprachen-Gedicht von Julia Hroch in einer Übersetzung
von Tim Holland gibt, geht auf einen Workshop der Literaturinitiative
handverlesen zurück. Die wurde von Franziska Winkler und Katharina Mevissen
2017 gegründet. Die beiden hatten sich ein paar Jahre zuvor kennengelernt,
als sie in Bremen Kulturwissenschaft studierten. Über die Mitarbeit an
einem Kurzfilm mit Gebärdensprache entdeckten sie ihr gemeinsames Interesse
daran.
Franziska Winkler, die als Tochter gehörloser Eltern aufgewachsen ist, weiß
viel über die Kultur der Gehörlosen, die jenseits der schriftlichen
Fixierung entsteht, auf Bühnen und in Festivals vorgetragen wird und nur im
Medium des bewegten Bildes überliefert werden kann. Sie studiert heute Deaf
Studies an der Humboldt-Universität Berlin, dem einzigen Studiengang in
Deutschland, in dem man nicht nur die Gebärdensprache lernt, sondern sich
auch mit Kultur und Geschichte der Gehörlosen beschäftigt.
## Die Poesie der Hörenden und Gehörlosen
Dass es fast keine Schnittpunkte zwischen der Gebärdensprachenliteratur und
dem hörenden Kulturbetrieb gibt, ja, dass die meisten Hörenden kaum etwas
über die Kultur der Gehörlosen wissen, beschäftigte Winkler und Mevissen.
handverlesen haben sie gestartet, um einen Austausch zu beginnen. Das erste
Resultat waren zwei Werkstattwochenenden in diesem Frühjahr, an denen fünf
gehörlose Künstler*innen und sechs hörende Lyriker*innen aus Berlin
zusammentrafen.
Die Hürden für die Organisation waren groß, Gebärdendolmetscher mussten
dabei sein. Aber wie sinnvoll solch eine Begegnung sei, haben sie auch
gleich gemerkt, erzählt Mevissen, die als Romanautorin den Literaturbetrieb
kennengelernt hat. Es gab so viel Aufklärungsbedarf über die Unterschiede
zwischen hörenden und gehörlosen Communities und ihren Kulturbetrieben.
Beide Gruppen nutzen spezifische Kanäle; sich füreinander zu öffnen, ist
eine neue Erfahrung.
Auf der Website www.poesiehandverlesen.de findet sich eine kleine
Bibliothek, sechs Gedichte sind aus dem Schriftform in Gebärdensprache
übersetzt, drei in umgekehrter Richtung. „wind“ von Eugen Gomringer ist das
erste Beispiel, konkrete Poesie, die mit der Typografie spielt und die
Buchstaben wie vom Wind über das Blatt wehen lässt. Gleich dreimal wird es
bewegt übersetzt, von Julia Hroch, Dawei Ni und Jürgen Endress und jede der
drei virtuosen Interpretationen ist anders, aber leicht nachvollziehbar als
Wind.
Von Dawei Ni ist wiederum ein mit Händen, Mimik und Bewegung des ganzen
Körpers vorgetragenes Gedicht – „wie ein wachsen, ein wachen“ – zu seh…
das eine Art Schöpfungsgeschichte erzählt, aber auch die Geschichte von der
Entdeckung der Hörenden, dass auch die Tauben denken können.
## Eine das Mitdenken fordernde Sprache
Es ist eine anspruchsvolle Literatur in der Bibliothek der Website, die
schnell klar macht, dass es hier um mehr geht als eine funktionale
Alltagssprache. Die Poesie der Beteiligten ist fordernd, ihre Sprache
malerisch, dramatisch, differenziert artikulierend und das einzelne Wort
hat gedanklich einen großen Echoraum.
Für dieses Jahr sind mit dem Kooperationspartner Lettrétage e. V. drei
öffentliche Veranstaltungen geplant, in deutscher Laut- und
Gebärdensprache. Es beginnt am 22. Juni mit neuer Lyrik von Julia Hroch,
Anna Hetzer und Laura-Levita Valyte in der Lettrétage (Mehringdamm 61, 20
Uhr). „Es ist etwas Neues, dass Gebärdensprachenpoesie im hörenden
Literaturbetrieb sichtbar wird“, betonen Franziska Winkler und Katharina
Mevissen. Für sie bedeutet das viel. Zum einen, weil gebärdensprachliche
Literatur „die traditionelle Definition von Literatur als Text in Frage
stellt“, zum anderen, weil es auch um ein Stück Emanzipation einer
Minderheit geht.
Fast wie ein Manifest verkündet ihre Website mit großen Buchstaben:
„Gebärdensprachliche Poesie, Literatur und Performance gehört auf die
Bühnen von Literaturfestivals!“ Um dahin zu gelangen, machen sie den
Anfang.
19 Jun 2019
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Poesie
Gebärdensprache
Gehörlose
Deaf Studies
Gebärdensprache
Tanz
Katharina Mevissen
Kunst
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