# taz.de -- Kommentar Regierungskrise Österreich: Der Staatsumbau nebenan | |
> Das Ibiza-Video enthüllt, wohin Bündnisse neoliberaler und autoritärer | |
> Emporkömmlinge streben. Hält Straches Sturz diese Bewegung auf? | |
Bild: Tschüss, HC Strache | |
Wenn wir aus Westeuropa nach Osten schauen, mag uns ein leichtes Frösteln | |
überkommen, weil wir nicht wissen, ob wir in die Zukunft sehen oder in | |
unsere Vergangenheit. Was haben wir uns gegruselt, als wir nach Polen | |
schauten und nach Ungarn, denn da – na klar. Aber bei uns im Westen, nein, | |
da passiert so etwas nicht mehr: Autoritäre Machtübernahme, | |
Medienkontrolle, Gesetze, mit denen sich Arbeiter*innen leichter ausbeuten | |
lassen, Freunde von Politikern, die plötzlich ganz reich werden. | |
Oder…vielleicht doch? [1][Da ist ja noch dieses Österreich.] | |
Nun gibt es [2][quasi den Videobeweis] dafür, dass so etwas eben doch | |
passieren könnte in einer westeuropäischen Demokratie, auch noch einer, die | |
wie die westdeutsche nach der Niederlage gegen die Alliierten im Zweiten | |
Weltkrieg entstand, und in der ebenfalls irgendwie entnazifiziert wurde, | |
mehr oder weniger. | |
Es sei denn natürlich, wir bürgern nach der Veröffentlichung des | |
Strache-Videos auch noch Österreich hinter jene Grenze aus, hinter der | |
diese Welt liegt, in der uns das Zusammenwirken von zügelloser | |
Bereicherungspolitik und autoritärem Nationalismus etwas ungeheuer Fremdes | |
sein darf. | |
## ÖVP und FPÖ bilden ein System | |
Seit 2017 haben in Österreich die konservative ÖVP und die rechtsradikale | |
FPÖ nun regiert, und eines ist in diesen knapp anderthalb Jahren sehr | |
sichtbar geworden: Diese beiden Parteien bilden ein System. | |
Die jungen Emporkömmlinge in der ÖVP, die mit dem aktuellen Kanzler | |
Sebastian Kurz an die Macht gekommen sind, krempeln das Land nach ihrem | |
marktradikalem Gusto um. Sie senkten zum Beispiel die Hürden für einen | |
zwölfstündigen Arbeitstag. Und sie versorgen dabei ihre Freunde. Der | |
Milliardär René Benko beispielsweise konnte im vergangenen Jahr gen | |
Weihnachten ein Kaufhaus vergleichsweise billig erwerben, und es spricht | |
vieles dafür, dass ihm Kanzler Kurz dabei zur Seite sprang. | |
Die FPÖ andererseits produziert mindestens im Wochentakt einen Wort- und | |
Tatenstrom aus Gesetzen und Maßnahmen gegen schwächer gestellte Menschen | |
und faschistoider Krawallistik: [3][Kopftuchverbot für Grundschulkinder], | |
Zehn Gebote der Dankbarkeit für Geflüchtete, ein FPÖ-Politiker erzählte vor | |
ein paar Tagen in einem Interview, Muslime würden Hunde vom Balkon werfen. | |
Die Journalist*innen in Österreich kommen gar nicht mehr hinterher bei all | |
diesen „Dem müsste man mal nachgehen“-Vorfällen. Manche Kolleg*innen | |
erzählen auch, zu regierungskritische Beiträge würden aus Zeitung und | |
Programm genommen. Sebastian Kurz, obwohl offiziell der mächtigste Mann des | |
Landes, gibt den gut aussehenden Danebensteher, der seinem | |
Koalitionspartner bisher alles durchgehen ließ. Wohl weil es ihm passte. | |
## Abwesenheit von Konsequenzen | |
So gibt es viele Hinweise für eine von der konservativen ÖVP kaum gestörte | |
Einflussnahme der FPÖ auf die so genannten Sicherheitsbehörden. In die | |
Extremismus-Abteilung des Verfassungsschutzes ließ das von der FPÖ | |
kontrollierte Innenministerium 2018 eine für ihre Härte bekannte | |
Drogeneinheit einmarschieren. Dagegen brauchte die Polizei dann vor ein | |
paar Tagen ganze 12 Minuten des Anklopfens und Hallo-ist-da-wer?-Fragens, | |
um durch die Haustür des Chefs der rechtsradikalen Identitären in dessen | |
Wohnung zu kommen. | |
Der neoliberale, korruptionsmotivierte und der autoritäre, | |
rassismusgetriebene Staatsumbau gehören zusammen. Das eine lenkt vom | |
anderen ab oder je nach Lage auch mal das andere vom einen. Die Abwesenheit | |
von Konsequenzen nach schamlosen Äußerungen und Taten von FPÖ-Männern | |
bestärkt die eigenen Anhänger. Bei ihnen hat sich der Eindruck gefestigt, | |
dass das Recht desjenigen gilt, der die Macht besitzt es zu beugen. Und das | |
sind nun eben immer mehr jener Rechtsradikalen, die das Freiheitliche im | |
Parteinamen mehr und mehr als Maßlosigkeit auslegen. Bei ihren Gegnern und | |
denen, die unentschlossen sind, ist die Resignation gewachsen. | |
In Teilen Osteuropas lässt sich beobachten, wohin so etwas führen kann: zu | |
demobilisierten oder nur noch schwer mobilisierbaren Gesellschaften, in | |
denen viele Menschen kein Vertrauen mehr darin haben, sich auf gemeinsamem | |
Grund zu widerständigen Handlungen zusammen zu finden. Auch in solchen | |
Misstrauensgesellschaften, in denen sich jeder selbst der nächste ist, gibt | |
es Skandale, weil mutige Journalist*innen und Aktivist*innen recherchieren. | |
## Diktatur der Verantwortungslosigkeit? | |
Aber weil die Handlungen ohne Konsequenzen bleiben, bringt der Skandal die | |
Machthabenden nicht mehr in Gefahr. Der Skandal nutzt ihnen vielmehr, er | |
wird eine Art Herrschaftsinstrument, zeigt seine Folgenlosigkeit doch, wie | |
wumpe es ist, wohin die Ameisen auf der Erde wuseln, wenn des großen Mannes | |
Stiefel aufstampft. | |
Diese Machthabenden sind meist Männer, die Wirtschaft und Politik ihres | |
Landes mit starker Hand zusammen kneten, ganz so wie Hans-Christian Strache | |
voll von Alkohol, Red Bull und Testosteron laut in dem veröffentlichten | |
Video träumt. Und für den Fall, dass doch mal einer zu sehr aufmuckt, hat | |
man ja Polizei und andere Behörden unter seine Kontrolle gebracht. Dazu | |
kommt der Nationalismus, eine Billigpolitik, er kostet wenig und löst kein | |
Problem, aber als Ablenkungsmanöver taugt er doch immer wieder. | |
Die Menschen, die am Samstag in Wien auf dem Ballhausplatz gestanden und | |
Neuwahlen verlangt haben, wollen keine Ameisen sein. Sie wissen, dass eine | |
Gesellschaft ohne Konsequenzen die Gefahr birgt, zu einer Diktatur der | |
Verantwortungslosigkeit zu mutieren, in der irgendwann nur noch der | |
Stärkere recht hat. Der Sturz des Heinz-Christian Strache bietet da eine | |
Chance: Dass die gefährliche Bewegung doch noch aufgehalten wird. | |
18 May 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Regierungskrise-in-Oesterreich/!5596341 | |
[2] https://www.spiegel.de/video/fpoe-chef-heinz-christian-strache-die-videofal… | |
[3] /Kommentar-Kopftuchverbot-in-Oesterreich/!5593030 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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