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# taz.de -- Debatte 70 Jahre Grundgesetz: Mazal tov!
> Freiheit, Demokratie und Sicherheit sind, trotz 70 Jahre Grundgesetz,
> keine Selbstverständlichkeit. Auch die Toleranz muss verteidigt werden.
Bild: Ganz gut gealtert: das Grundgesetz
Nichts ist selbstverständlich – erst recht nicht Freiheit, Demokratie und
Sicherheit. Niemand wusste das besser als unsere Eltern und Großeltern.
Mein Vater, ein KZ-Überlebender, verlor fast seine gesamte Familie während
des Holocaust. Meine Mutter kann ihre eigenen Kriegserlebnisse bis heute
kaum verarbeiten und trägt sie ihr ganzes Leben mit sich.
Wir, die 2. und 3. Generation, dagegen sind – zumindest im westlichen Teil
Deutschlands – in Frieden und Freiheit aufgewachsen. Vor dem Hintergrund
der furchtbaren Erfahrungen der Elterngeneration erleben wir sie als fragil
und schützenswert, obwohl Frieden und Freiheit unsere eigene Normalität
waren.
Freiheit ist nicht selbstverständlich, und wenn wir sie so behandeln, als
wäre sie es, werden wir sie verlieren. Wir Juden sind dafür sehr sensibel
und erahnen, wie Hate Speech in den sozialen Medien zu einer
gesamtgesellschaftlichen Pogromstimmung eskalieren kann. Schuldige werden
gesucht, gefunden, angegriffen. Dabei haben wir eigentlich einen idealen
Freiheitsschutz: Das Grundgesetz dient allen Menschen, die in der
Bundesrepublik Deutschland leben, als Garant ihrer Freiheit. Es ist ein
Schutzschild und bildet das Fundament, auf dem wir freiheitlich,
demokratisch und sicher miteinander leben können. Das Grundgesetz feiert in
diesen Tagen seinen 70. Geburtstag – und es wirkt so, als brauche es nun
uns. Wir müssten das Grundgesetz ehren, feiern und seine Werte durch
tägliches Handeln mit Leben erfüllen.
Alle Strukturen unterliegen dauerhaften Erosionsprozessen; sie verlieren
an Profil, werden instabil. Brücken und Bahngleise müssen gewartet werden
und Gärten brauchen Pflege, um „in Schuss“ zu bleiben. Dies gilt nicht
weniger für unsere Gesellschaft. Die Wahlbeteiligung der unter 25-Jährigen
ist immer weit unter dem Bundesdurchschnitt. Wenn Teile der jungen
Generation resignieren, sollte es uns verstehen lassen, wohin die
Entwicklung geht. Zu viele Menschen haben sich vom politischen Geschehen
und gesellschaftlicher Entscheidungsfindung abgekoppelt. Wir beklagen das
zwar, suchen aber hilflos nach dem richtigen Umgang damit.
Diese Hilflosigkeit hat gravierende Folgen: Faschisten gewinnen an
Einfluss, der Ton wird rauer und die Gesellschaft segelt in einen Sturm.
Schon jetzt setzen sich Menschen in unserem Land über das Gesetz hinweg und
verachten unsere Werte. Von [1][Rechtsextremisten in Sachsen] bis zu
[2][Islamisten in Berlin] werden Freiheitsrechte für deren
antifreiheitliche Agenda missbraucht. So marschieren Nazis von der Partei
„Dritter Weg“ immer wieder ungehindert durch Plauen, Plakate der Partei
„Die Rechte“ mit dem Aufruf „Israel ist unser Unglück“ und „Wir hän…
nicht nur Plakate“ sind seit Wochen an immer mehr Orten deutschlandweit zu
sehen.
## Die „Mitte der Gesellschaft“ ist gefordert!
Eine „funktionierende“ Gesellschaft ist das Ergebnis einer Balance: Was die
Gesellschaft stabilisiert und was von der Gesellschaft Toleranz erfordert,
muss im Gleichgewicht stehen. Stabilität erreichen wir, indem wir
beispielsweise Vereine und Gruppen fördern, die Zeit und Arbeit
investieren, um der Gesellschaft zu dienen.
Im gesellschaftlichen Diskurs ist der Begriff „Demokratie“ ein
„raumgebender Begriff“. Und auch „Toleranz“ fordert uns auf, diesen Raum
bis an den Rand der Erträglichkeit, zu erweitern. Semantisch sind dies zwei
Begriffe, die auf derselben Seite der Gleichung stehen. Beide erweitern das
gesellschaftliche Spektrum und beide fördern eine durchaus positive
Vielfalt der Gesellschaft. Sie erreichen dadurch jedoch keine Balance.
Die Gesellschaft bleibt jedoch erst ausbalanciert und gegen Erosion
geschützt, wenn in der Gleichung die „Demokratie“ auf der anderen Seite der
„Toleranz“ steht. Auf der einen Seite die wehrhafte Demokratie, welche die
Interessen der Mehrheit vertritt und Minderheiten schützt, und auf der
anderen Seite die Toleranz, die die Mehrheit herausfordert.
Anders ausgedrückt: Auf der einen Seite des Balance-Akts steht die Toleranz
und auf der anderen Seite die „schützende Intoleranz“. Sie sollte all
diejenigen treffen, die im Schutz der Toleranz die Schwachpunkte einer
freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ausnutzen. Vor allem bedeutet
„schützende Intoleranz“, dass wir nicht schweigen, wenn hart erkämpfte
Grundwerte in Zweifel gestellt werden. Autos anzündende Linke verdienen
kein Verständnis für ihre Art des „Kampfes für eine bessere Welt“, sonde…
ein Gerichtsverfahren, und Reichsbürger kein Mitgefühl, weil sie vor der
Globalisierung Angst hätten, sondern einen Therapieplatz. Das zu
gewährleisten ist Aufgabe der wehrhaften Demokratie. Hier ist die „Mitte
der Gesellschaft“ gefordert!
## Indikator für antidemokratische Gesinnung
In dieser Mitte der Gesellschaft sehen wir jüdischen Deutschen uns fest
verankert. Dabei beobachten wir, dass die politische und mediale
Aufmerksamkeit vor allem den Rändern des gesellschaftlichen Spektrums gilt.
Da die Mitte per Definition keine „Probleme macht“, wird sie wenig beachtet
und als Selbstverständlichkeit behandelt. Fühlen sich „Normalbürger“ nic…
mehr gesehen und geschätzt, haben Populisten leichtes Spiel.
Wir Juden erwarten von der deutschen Mehrheitsgesellschaft, aus der
Geschichte nicht nur etwas gelernt zu haben, sondern das Gelernte auch
umzusetzen. Wenn wir beharrlich auf antisemitische Ausfälle hinweisen, dann
im Wissen darum, dass Antisemitismus ein Indikator für eine generell
antidemokratische Gesinnung ist. Denn in einer antisemitischen Gesellschaft
sind auch die Freiheitswerte bedroht, von denen die nichtjüdischen Teile
der Bevölkerung profitieren.
Als Jude ist das Gefühl für den Wert einer freiheitlichen Demokratie Teil
meiner DNA. Zum 70. Jubiläum des Grundgesetzes wünsche ich uns viel
Demokratie, da wo nötig viel schützende Intoleranz und darauf basierend
dann Toleranz. Mazal tov, Grundgesetz!
23 May 2019
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## AUTOREN
Elio Adler
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