# taz.de -- Spielfilm „All My Loving“: Ans alte Leben geklammert | |
> Edward Bergers Episoden-Spielfilm „All My Loving“ erzählt von drei | |
> Geschwistern um die 40, für die sich plötzlich vieles ändert. | |
Bild: Großartige Anfangsszene: Die drei Geschwister in dem Spielfilm „All My… | |
HAMBURG taz | Zwei Männer und eine Frau, alle um die 40 Jahre alt, treffen | |
sich in einem Restaurant. Schon an der Art, wie sie sich an den Tisch | |
setzten, spätestens aber, wenn sie beginnen, in kurzen Sätzen, die | |
Außenstehende kaum verstehen würden, miteinander zu reden, wird klar, dass | |
sie Geschwister sind. Etwas über sieben Minuten dauert diese Anfangszene | |
aus Edward Bergers „All My Loving“. Sie ist in einer ungeschnittenen | |
Kameraeinstellung aufgenommen. | |
Eine geschicktere Exposition kann man in einem deutschen Film der | |
vergangenen Zeit lange suchen. Denn neben den Informationen an der | |
Oberfläche (einer muss sich um den kranken Vater kümmern, sie macht eine | |
Reise nach Turin, und wer nimmt so lange ihren Hund in Obhut?) wird auch | |
klar, wie die Machtverhältnisse zwischen den dreien sind. Der eine bietet | |
scheinbar hilfsbereit an, sich um den Hund zu kümmern, der andere merkt | |
erst zu spät, dass er deshalb zu den Eltern fahren muss und sie geht, bevor | |
es ungemütlich werden könnte. Dass der Gewitzte dann auch noch ganz | |
selbstverständlich bestellt, was der Reingelegte essen wird, ist da schon | |
fast ein wenig überdeutlich. | |
Den Gewinnertyp spielt Lars Eidinger, selber der Gewinnertyp des deutschen | |
Kinos. Ob er wirklich, wie einige behaupten, der beste deutsche | |
Schauspieler seiner Generation ist, soll dahingestellt bleiben – sicher | |
ist, dass er zu den am meisten Beschäftigten gehört. Auf der Berlinale, wo | |
„All My Loving“ in der Programmschiene Panorama lief, war Eidinger auch in | |
der Serie „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ zu sehen. | |
Hier spielt er also Stefan, der (wen wundert’s) als Pilot arbeitet und sich | |
um den schon sehr alten Hund Rocko kümmert. Ein Hedonist, der sich nicht | |
gerne Verantwortung aufladen lässt – Eidinger gelingt es, ihn nicht | |
unbedingt sympathisch, aber eben sehr gewinnend zu verkörpern. | |
## Nicht nur Schema ABCABC | |
Doch dann hören wir zusammen mit ihm, in einer Art subjektivem Sounddesign, | |
einen durchdringenden Tinnitus und das dumpfe Pumpen des Herzschlags im | |
Körper. Stefan hat einen Anfall, kann danach nur noch schlecht hören. Das | |
bedeutet, dass er nicht mehr flugtauglich ist, wodurch er in eine | |
existenzielle Krise gestürzt wird. Er geht zwar weiterhin in seiner | |
Pilotenuniform in Bars (das Motiv gab es schon bei Murnaus „Der letzte | |
Mann“) und nutzt dort seinen gesellschaftlichen Status für sexuelle | |
Eroberungen. Aber das gelingt ihm bald immer weniger. | |
Der Hund scheißt (das muss man so sagen, man mag gar nicht hinsehen) in die | |
Wohnung, eine Frau schlägt ihm die Tür vor der Nase zu, weil sie es sich | |
„anders überlegt hat“ und dann taucht seine fast erwachsene Tochter auf, | |
die seine Oberflächlichkeit genau durchschaut hat und ihn dann so verletzt, | |
wie es sonst niemand anders vermag. In einer halben Stunde wird hier ein | |
kleines, bürgerliches Drama erzählt, psychologisch und in der | |
Milieuzeichnung sehr stimmig, und mit einem klugen offenen Ende, das den | |
Protagonisten nicht in seiner Misere sitzen lässt. | |
Noch während der letzten Einstellung mit Stefan erklingt zum ersten Mal | |
Filmmusik, das Filmbild wird schwarz und die zweite Geschichte beginnt. | |
Denn dies ist ein Episodenfilm, in dem von jedem der drei Geschwister | |
getrennt erzählt wird. Im Erzählkino und bei Fernsehserien werden fast | |
immer die einzelnen Geschichten nach dem Schema ABCABC zusammenmontiert. | |
Regisseur Edward Berger hat dies in einer anderen Schnittfassung auch | |
probiert „und es wurde genau das, was ich nicht wollte, konventionell“, | |
sagt er dazu in einem Interview. Das Drehbuch hat er zusammen mit seinem | |
Kameramann Jens Harant (auch dies ist ungewöhnlich) und mit Nele | |
Mueller-Stöfen geschrieben, die auch die Rolle der Schwester Julia spielt. | |
Mueller-Stöfen ist in Hamburg geboren. Dort arbeitet sie heute noch beim | |
Theater, zum Beispiel auf Kampnagel. Dies dürfte einer der Gründe dafür | |
sein, warum die erste Episode in Wedel bei Hamburg gedreht wurde. Sich | |
selber gönnte sie dagegen (das sind die Vorteile einer Personalunion | |
Drehbuch/Schauspiel) Dreharbeiten im italienischen Turin. | |
Als Julia scheint sie dort zusammen mit ihrem Mann Christian (Godehard | |
Giese) eine unbeschwerte Urlaubsreise zu genießen, doch als sie einen | |
kleinen streunenden Hund auf der Straße findet und bemuttert, tut sie dies | |
mit einer beunruhigenden Intensität. Als das Tier nach einem Unfall halbtot | |
auf der Straße liegt, schmuggelt sie es in ihr Hotelzimmer und verlangt | |
dort nach einem Arzt, der sich nur solange darüber wundert, dass er einen | |
Hund behandeln soll, bis er erfährt, dass er es mit Deutschen zu tun hat. | |
Es gibt auch ein paar schöne Lacher in diesem Film, dessen Grundstimmung | |
eine melancholische Gelassenheit ist, auch wenn von Krankheit, Einsamkeit, | |
Verzweiflung und Tod erzählt wird. Denn Julia und Christian haben ein | |
gemeinsames Kind verloren, und wenn Julia unbedingt das Leben des Hundes | |
retten will, macht dies deutlich, wie tief ihre Schuldgefühle und ihre | |
Trauer sind. | |
In der dritten Episode spielt Hans Löw den Hausmann Tobias, der als der | |
Versager der Familie gilt, weil er immer noch sein Studium nicht | |
abgeschlossen hat und seine Frau das Geld verdient. Doch er sorgt auch | |
liebevoll und kompetent für seine drei Kinder, und ist der Einzige, der im | |
Haushalt seiner Eltern halbwegs für Ordnung sorgen kann. | |
Denn dort herrscht Chaos: Der Vater ist todkrank, doch dies verdrängen | |
sowohl er als auch seine Frau. Angesichts des nahenden Todes löst sich die | |
Ordnung des elterlichen Haushalts immer mehr auf und Tobias wird zum | |
stillen Helden des Films, wenn er sich der zunehmenden Zersetzung der | |
elterlichen Lebenswelt entgegen stemmt. Hier wirkt der Film am | |
intensivsten, hier ist er großes Gefühlskino, ohne jedoch melodramatisch zu | |
werden. Denn man spürt, dass da wenig erfunden und stattdessen aus eigenen | |
Erfahrungen geschöpft wurde. | |
23 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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