# taz.de -- Surreales Erziehungsmärchen: Wo Blumen nach Ekstase duften | |
> „The Wild Boys“ von Bertrand Mandico erzählt über böse Jungs. Da sie v… | |
> Frauen gespielt werden, erhält der Film einen Glanz von Gender Fluidity. | |
Bild: „The Wild Boys“ | |
„Bevor ich halb Junge, halb Mädchen war, war ich ein Junge. Ein wilder, | |
gewalttätiger Junge.“ Mit diesen Worten endet der Prolog von „The Wild | |
Boys“. Tanguy, ein hagerer Weißblonder mit einer weiblichen Brust und einem | |
Penis wird von Seeleuten bei Nacht über einen Strand geschleift. Weg von | |
einem riesigen Hund mit menschlichem Gesicht. | |
Schon hier schlägt Regisseur Bertrand Mandico jenen traumartigen Ton an, in | |
dem sich sein Film fortan bewegen wird. Mit einer Vergewaltigung und | |
ejakulierenden Geschlechtsteilen beginnt die eigentliche Geschichte. Es | |
geht in „Wild Boys“ um eine Bande fünf privilegierter weißer Jungs auf La | |
Réunion am Anfang des 20. Jahrhunderts. Nachdem Romuald, Jean-Louis, | |
Hubert, Sloane und besagter Tanguy ihre Literaturlehrerin missbraucht | |
haben, angeblich um ihrem selbst erschaffenen Gott TREVOR zu huldigen, | |
entscheiden sich die Eltern für eine drakonische Strafe. | |
Ein alter Kapitän (Sam Louwyck) soll die Gang auf seinem Segelboot | |
disziplinieren. Tatsächlich beginnt für die Bande ein Martyrium. Zu essen | |
gibt es lediglich Massen einer haarigen, undefinierbaren Frucht. Nach einer | |
gescheiterten Meuterei müssen die Jungen im Laderaum ausharren. | |
## Tattoos als Biografie | |
Jean-Louis bleibt mit einer Halskrause an Deck angekettet. Nur Hubert | |
gewinnt das Vertrauen des Kapitäns, der ihm seine Lebensgeschichte anhand | |
von Tattoos auf seinem Penis erzählt. Mit der Zeit werden die Jungen selbst | |
zur Mechanik des Schiffs und hissen ein Segel, das über und über aus Haaren | |
besteht. Schließlich landet die Gruppe auf einer tropischen Insel. | |
Als die Jungs fragen, wo sie sind, warnt sie der Kapitän, dass es diese | |
Insel eigentlich gar nicht gebe. Mit verbundenen Augen durchstreifen sie | |
üppig bewachsene Hügel, riechen an nach Ekstase duftenden Blumen, | |
irgendwann gelangen sie zu seltsamen, onanierenden Pflanzen, deren Saft | |
unvergleichbar köstlich schmeckt. Alle Bilder dieses Films sind voll mit | |
bizarrer Schönheit, es wäre eine Versuchung, sie endlos weiter zu | |
beschreiben. | |
Regisseur Mandico gelingt eine im positiven Sinne künstliche Bildsprache, | |
die sich erotisch darbietet, ohne jemals plakativ zu sein. „The Wild Boys“ | |
atmet Sexualität und Sinnlichkeit. Es ist ein reifes, vielschichtiges | |
Coming-of-Age-Märchen, gekleidet in einen Reichtum von Farben und Formen, | |
der eine unverwechselbare Filmwelt erschafft. Ein Universum des Unbewussten | |
und Triebhaften, das sich allzu leicht getroffenen Zuschreibungen entzieht. | |
## Zaubertricks, handgemacht | |
Mal wähnt man sich in einem lichtdurchfluteten Stummfilm, mal in einem | |
Horrorstreifen, mal greift der Film Motive des klassischen Abenteuerfilms | |
auf. Nachträgliche Spezialeffekte gibt es nicht, alles entsteht vor der | |
Kamera, was manchmal an das frühe Jahrmarktkino erinnert – Film als | |
handgemachter Zaubertrick. Untermalt wird alles mit einem traumartigen | |
Soundtrack aus überhitzten Synthesizern. | |
Mit diesen beständigen Manipulationen des Gesehenen vermeidet es Mandico, | |
auf die Absurdität der reinen Erzählung reduziert zu werden. Und so prägt | |
trotz der Unentrinnbarkeit der Handlung eine gewisse Offenheit den ganzen | |
Film. | |
## Ungestraft Privilegien auskosten | |
Dazu trägt auch ein besonderer Coup bei, der die Handlung in einem anderen | |
Licht erscheinen lässt: Die so hemmungslos maskulinen Jungen werden nämlich | |
von Schauspielerinnen dargestellt. Dank verfremdeter Stimmen fällt das | |
zunächst gar nicht auf. Allerdings spielen Pauline Lorillard, Vimala Pons, | |
Diane Rouxel, Anaël Snoek und Mathilde Warnier die „Wild Boys“ so | |
natürlich, dass beim Zuschauen fast eine Faszination für die Gewalttaten | |
entsteht. Denn die Frauen leben ihre Sexualität ungeniert, selbstbewusst | |
und manchmal gewaltsam aus, gerade weil sie in der Haut von Jungen stecken | |
und ein männliches Privileg ungestraft auskosten können. | |
Diese vulgär-befreiende Form von Gender Fluidity ist Queer Cinema im besten | |
Sinne. Auch weil die Geschlechtsidentitäten noch offener werden: Wie sich | |
herausstellt, führen der Konsum der haarigen Früchte und die magische | |
Gravitation der Insel dazu, dass Männer sich mit der Zeit in Frauen | |
verwandeln. Auch der Kapitän hat eine weibliche Brust, er ist ein | |
Zwischenwesen, ein Seefahrender ohne endgültige Bestimmung. „Wenn ich | |
nichts werde, dann werde ich Kapitän“, sagt der ebenfalls zwitterhafte | |
Tanguy am Ende. | |
## Schönheit im Begehren | |
Er wird als einziger überleben, nachdem seine Freunde allesamt zu Frauen | |
geworden sind, nur um in der Brandung alternativloser Rollenbilder den Tod | |
zu finden. Mandico macht queeres Kino, ohne Identitätspolitik zu betreiben. | |
Er lässt seine Figuren das sexuelle Begehren ausleben, was allen Menschen | |
gemein ist. Und findet darin vor allem Schönheit. | |
„The Wild Boys“ ist vielleicht der Film, den Nicolas Winding Refn zu machen | |
versucht, seitdem er mit Alejandro Jodorowsky Kaffee trinken war. Es ließe | |
sich noch viel mehr aus diesem Arthouse-Pulp dechiffrieren, selten war eine | |
Filmwelt so detailverliebt. Bertrand Mandico war bisher vor allem für seine | |
formvollendeten Kurzfilme bekannt. Nun zelebriert er sein Kino eben auf | |
Spielfilmlänge. Es ist letztlich eine Feier jugendlichen Exzesses, des | |
Punktes, an dem sich das Sein noch nicht für das So-Sein entschieden hat. | |
Immer wieder raufen, saufen, tanzen und schmusen die Jungs in den | |
leuchtendsten Farben miteinander, ganz als wüssten sie schon, dass all das | |
bald vorbei sein wird. | |
Und genau so fühlt es sich an, „The Wild Boys“ anzuschauen. Gerade in | |
seiner Liebe zum Exzess weiß Mandico um die Flüchtigkeit der Kinoerfahrung, | |
um die Begrenztheit jeden sinnlichen Genusses. Es ist ein Film, der wie ein | |
atmender Traum im Gedächtnis zurückbleibt. Wenn schon genießen, dann bitte | |
in eine dieser Welten wie dem Universum der „Wild Boys“! | |
30 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Johannes Bluth | |
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