| # taz.de -- Spitzenkandidat der Grünen Sven Giegold: Der Zuverlässige | |
| > Sven Giegold ist keine Rampensau, Gefühlsäußerungen fallen bei ihm | |
| > sparsam aus. Warum kommt er bei WählerInnen trotzdem an? | |
| Bild: Besternt: Sven Giegold sitzt seit zehn Jahren im Europaparlament | |
| Solingen/Berlin taz | Sven Giegold tritt von einem Bein auf das andere und | |
| wirft noch einen kurzen Blick auf sein Manuskript. Es ist der 1. Mai, | |
| Giegold wird gleich auf dem Neumarkt in Solingen die Hauptrede halten. Dass | |
| nur Sozialdemokraten bei solchen Gelegenheiten reden dürfen, ist auch in | |
| NRW vorbei. Ein Heimspiel für Grüne ist es trotzdem nicht. | |
| Die ersten fünfzehn Meter vor der Bühne sind leer. Das Publikum, ungefähr | |
| 500 Menschen sind da, hält Distanz. Giegold achtet bei diesen Reden darauf, | |
| nicht zu akademisch zu klingen. Die Leute sollen merken, „dass eine Person | |
| dahinter steht und Energie spürbar wird“, sagt er später. Er habe eine | |
| Weile gebraucht, um das zu lernen. | |
| Giegold, 49 Jahre alt, spricht eine halbe Stunde, ohne auf das Skript zu | |
| blicken. Er warnt vor Renationalisierung und Standortwettbewerb. Ein | |
| Buchhändler in Solingen zahle 30 Prozent Steuern, der Amazon-Konzern keine, | |
| sagt er nach fünf Minuten. Zum ersten Mal erklingt Applaus. | |
| Jede Kritik an der EU federt Giegold mit einem Verweis auf Erfolge im | |
| Europäischen Parlament ab. Man dürfe, sagt er später im persönlichen | |
| Gespräch, nicht zu sehr mit Empörungs- und Skandalisierungsrhetorik | |
| arbeiten. Das komme zwar gut an, wie man an Sahra Wagenknecht sehen könne. | |
| „Aber so begeistert man nicht für Europa.“ | |
| Auf der Bühne hat Giegold nur eine Tonlage, und die klingt angelernt: laut. | |
| Doch inhaltlich schlägt er geschickt einen Bogen vom Sozialen zum | |
| Klimaschutz, verknüpft beides. Er wirbt für eine CO2-Steuer, die die | |
| BürgerInnen zurückerhielten. Der Effekt: Reiche, die viel reisen und große | |
| Wohnungen haben, zahlen drauf, Ärmere, die weniger verbrauchen, bekommen | |
| dadurch etwas heraus. Ökologie funktioniert nur über Umverteilung, nicht | |
| als Luxus. Das ist, neben Europa, seine Grundüberzeugung. | |
| ## Klimawandel ist nichts Abstraktes mehr | |
| Jackett, Jeans, Rucksack. Graue Haare, exakt geschnitten. So sieht er aus. | |
| Eine unauffällige Erscheinung, seit Jahren gleich. Er hebt auch mal den | |
| Zeigefinger, um die sozialen Vorteile der Reform der Entsenderichtlinie zu | |
| betonen. [1][Giegold ist keine Rampensau, kein Volkstribun.] Die scharfe | |
| Attacke, die überraschende Volte, die ironische Spitze, die gekonnte | |
| Ellipse, nichts davon. | |
| Trotzdem ist das anfangs verhaltene Publikum von der Mixtur aus Kritik und | |
| Konstruktivem angetan. Gerade das Abwägende und Konkrete kommen an. Den | |
| heftigsten Beifall bekommt Giegold, als er für „Fridays for future“ und | |
| mehr Klimaschutz plädiert. In Solingen, sagt eine | |
| Ex-Gewerkschaftssekretärin und Linksparteiaktivistin, waren die Talsperren | |
| im letzten Sommer nur noch halbvoll. Klimawandel ist nichts Abstraktes | |
| mehr. | |
| Giegold sitzt seit zehn Jahren im Europaparlament. Er ist einer der wenigen | |
| EU-Parlamentarier, mit dessen Namen Menschen hierzulande etwas verbinden. | |
| Antilobbyarbeit. Kontrolle der Finanzmärkte. Bürgerrechte. | |
| Er hat sich mit Verve für den Untersuchungsschuss gegen den mächtigen | |
| EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker eingesetzt – in Folge von | |
| „Luxleaks“, die die legale Steuervermeidung für Konzerne in Luxemburg | |
| enthüllten. Er hat das Gesetz angestoßen, das allen EU-Bürgern das Recht | |
| sichert, ein Bankkonto zu haben. „Das würde es ohne mich nicht geben“, sagt | |
| er. | |
| Die Opposition hat im Europaparlament, zumindest in Sachfragen, mehr | |
| Spielräume als im Bundestag, wo eiserne Fraktionsdisziplin regiert. Giegold | |
| nutzt diese Räume, forciert im Brüsseler Apparat Initiativen – und | |
| verknüpft sie beharrlich mit außerparlamentarischen Kampagnen. Deshalb | |
| kennt man ihn. | |
| Sein Handwerk hat er bei Attac vor mehr als fünfzehn Jahren gelernt. Und | |
| eigentlich schon früher in einer Wohngemeinschaft in Verden südlich von | |
| Bremen in den 90er-Jahren. Dort baute Giegold mit Freunden ein florierendes | |
| Ökozentrum auf. Die WG war eine gut organisierte Polit-Kommune. Giegold | |
| wollte unbedingt ein Kompostklo – um Wasser zu sparen. | |
| Seine Wohngenossen waren davon nicht so begeistert, kapitulierten aber vor | |
| seiner Entschlossenheit zur ökologisch korrekten Lebensführung. Die | |
| Einigung: Es gab das Kompostklo, Giegold war für die Leerung des Stahltanks | |
| verantwortlich. | |
| ## Rational, überlegt, zielstrebig, kontrolliert | |
| „Herr Giegold, wir dachten, Sie kommen mit dem Fahrrad.“ So begrüßt ihn | |
| eine DGB-Funktionärin, als er in Solingen aus dem grünen | |
| Wahlkampf-Elektroauto steigt. [2][Das ist sein Image: der Öko mit dem Rad.] | |
| Der Vegetarier, der keinen Führerschein hat. Der Protestant. Jemand, den | |
| man jederzeit nach der Beitragsbemessungsgrenze für die Körperschaftssteuer | |
| in der EU fragen kann, mit dem man aber nicht unbedingt etwas trinken gehen | |
| würde. | |
| Seinen Fahrer mahnt Giegold, das E-Auto nur mit Naturstrom zu laden. Als | |
| Zivildienstleistender trug er Birkenstock und Schafswollpulli. Popkulturell | |
| waren zu der Zeit Postpunk und HipHop angesagt. Aber die Popkultur und | |
| Giegold sind zwei Kosmen, die sich nicht berühren. | |
| Mit 13 Jahren hat er, schockiert über das Waldsterben, in der Schule eine | |
| Umwelt-AG mitbegründet. Er engagierte sich bei der Jugendumweltbewegung, | |
| zählte Libellen und Vögel. Heute, sagt er mit Rückblick auf seine | |
| Biografie, sei davon fast nichts mehr da. Der Satz endet in einem | |
| unterdrückten Schluchzen. Er hat Tränen in den Augen und sagt knapp | |
| „Entschuldigung“. | |
| Sven Giegold ist rational, überlegt, zielstrebig, kontrolliert. | |
| Gefühlsäußerungen fallen bei ihm, mimisch und gestisch, eher sparsam aus. | |
| Tränen wegen Libellen und Vögeln? Bei öffentlichen Reden meidet er das | |
| Thema. Dass so viele Tierarten verschwinden, geht ihm nah. „Viele machen | |
| Politik mit innerer Distanz“, sagt er. „Ich nicht.“ | |
| Nach der Rede auf dem Solinger Marktplatz umringen ihn zehn, zwölf | |
| Interessierte. Von Nord Stream 2 über die Altschulden der NRW-Kommunen, vom | |
| Nahverkehr im Bergischen Land bis zum Eurozonenbudget – Giegold weiß auf | |
| alles eine Antwort. | |
| Der kleine Kreis liegt ihm mehr als die große Bühne, das Diskursive mehr | |
| als der Appell. Kerstin Haag, eine energische Mitfünfzigerin, gefällt, dass | |
| Giegold argumentiert und nicht nur über Umwelt geredet hat. „Ich werde | |
| wegen Ihrer Rede bei den Grünen eintreten“, sagt sie fröhlich. Ein Lächeln | |
| huscht über Giegolds Gesicht. Er lässt gleich einen Aufnahmeantrag | |
| herbeischaffen, ehe die Grüne in spe es sich anders überlegt. | |
| Als eine ältere Dame sich empört, dass die Grünen Fracking-Gas befürworten, | |
| sagt er: „Ich will nicht ausschließen, dass auch Grüne mal Fehler machen | |
| können. Aber diesen machen wir nicht.“ Er lacht kurz und heftig, den | |
| Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Er wirkt etwas steif, gerade wenn er | |
| locker sein will. | |
| ## Parteipolitik, ein liebloses Geschäft? | |
| Das Strahlende und Smarte, die Lässigkeit, mit der sich Bürgerkinder unter | |
| ihresgleichen bewegen, hat er nicht. Auch wegen seiner Herkunft. Giegold | |
| ist ein sozialer Aufsteiger. Die Mutter war Fotolaborantin, der Vater | |
| Schlosser. Ökologe, Christ, Politiker – nichts davon war ihm in die Wiege | |
| gelegt. Bei einer Klassenfahrt hat er als 11-Jähriger mit dem | |
| Bestimmungsbuch Pflanzen angeschaut. Als Teenager ist er sonntags allein in | |
| den Gottesdienst gegangen. Er hat sich, mehr als andere, selbst erfunden. | |
| Arbeiterkinder beherrschen, wenn man dem Soziologen Pierre Bourdieu folgt, | |
| die Codes des bürgerlichen Lebensstils nie mit der gleichen | |
| Selbstverständlichkeit wie jene, die sie von klein auf gelernt haben. | |
| Giegold weiß, dass er nicht der [3][Schwiegersohn-Typ à la Robert Habeck] | |
| ist. „Robert“, sagt Giegold, „ist sprachgewandter und innerlich lockerer. | |
| Ich wirke unwirscher.“ | |
| So sieht er das. Zu beschreiben, was andere besser können, ist ungewöhnlich | |
| für einen Profipolitiker. Es birgt die Gefahr, schwach zu erscheinen. Oder | |
| die Macht nicht unbedingt zu wollen. Parteipolitik hält Giegold für „ein | |
| liebloses Geschäft“ – die Konkurrenz um die Jobs diktiert die Regeln. Er | |
| spielt mit, versucht sich aber dem Business so wenig wie möglich zu | |
| unterwerfen. | |
| In den Medien galt er nach der Jahrtausendwende als Gesicht der | |
| Attac-Bewegung und als Rebell. Das war eine Täuschung. Unter den | |
| Globalisierungskritikern war er ein Realo. Dazu passt, dass in seinem | |
| Denken Marx und die Kritische Theorie keine Rolle spielen. Beeinflusst hat | |
| ihn John Rawls, der Theoretiker des Gerechtigkeit, und Michael Sandel, der | |
| US-Kommunitarist, der die moralischen Grenzen des Markt auslotet, fernab | |
| linker Kapitalismuskritik. Sandel ist kein intellektueller Abenteurer, kein | |
| radikaler Denker, eher solide, klug, nützlich. So wie Giegold. | |
| ## Kein Kurswechsel | |
| Hat er sich gar nicht verändert? Doch, auf unvermutetem Feld. Die Religion | |
| ist für ihn wichtiger geworden. Das ist kein Lippenbekenntnis. Er sitzt im | |
| Präsidium des Evangelischen Kirchentages 2019. Er betet mit seiner Familie. | |
| Er hält als Laie Predigten. Das Glücksgefühl, die Gotteserfahrung beim | |
| Verfassen der Predigten, sagt er, sei intensiver als früher. „Ich werde | |
| seit 15 Jahren immer frommer.“ | |
| Bis 2009 hat er als Attac-Aktivist von 1.000 Euro gelebt. Seit zehn Jahren | |
| verdient er ein Vielfaches. Geld verändert subtil und millimeterweise den | |
| Blick auf die Welt. Gerade soziale Aufsteiger sind anfällig dafür, mit Geld | |
| Zutritt zur Welt des Bürgerlichen zu erwerben. | |
| Hat Geld ihn verändert? Er denkt kurz nach und sagt: „Mir ist Geld ziemlich | |
| egal. Ich bin noch immer sparsam.“ Er lebt in einer | |
| 90-Quadratmeter-Mietwohnung mit seiner Frau und den beiden Kindern. Etwas | |
| zu kaufen, wofür es keinen zwingenden Grund gibt, interessiert ihn nicht. | |
| Das Parlament, sagt einer, der ihn lange kennt, „hat ihn nicht verbogen“. | |
| Im Politbetrieb in Brüssel arbeitet er noch immer an den gleichen Themen | |
| wie bei Attac – nur auf der anderen Seite. | |
| Auch der Alltag des EU-Parlamentariers unterscheidet sich nicht gravierend | |
| von dem des Bewegungsaktivisten: organisieren, Reisen, Vorträge, | |
| Kompromisse suchen. Bei Attac musste er sich mit Feministinnen und | |
| Marxisten einigen, in Brüssel mit Liberalen und Christdemokraten. Und es | |
| gibt, abgesehen von einer kurzen Anarcho-Phase Anfang der 90er, in seiner | |
| politischer Vita keinen rabiaten Kurswechsel. | |
| Insofern ist er eine Art Anti-68er. Die 68er waren in ihrer Jugend radikal | |
| und wurden im Laufe der Jahre milder, liberaler, angepasst. Giegold | |
| verkörpert ein anderes biografisches Muster: unspektakulärer. | |
| Verlässlicher. | |
| 10 May 2019 | |
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