# taz.de -- Der Hausbesuch: Ins kalte Wasser geworfen | |
> Katharina Thieme-Hohe erfuhr erst nach der Entbindung von der Trisomie 21 | |
> ihrer Tochter. Heute ist sie Abtreibungsgegnerin. | |
Bild: Katharina Thieme-Hohe mit ihrer Tochter | |
Es ist Mittag, gerade hat der Bundestag seine Debatte über Bluttests | |
beendet. Katharina Thieme-Hohe schiebt einen Auflauf in den Ofen. | |
Normalerweise verfolgt sie das politische Tagesgeschehen nicht, über den | |
Ausgang dieser Diskussion aber hat sie online bereits die ersten Artikel | |
gelesen. Rechtfertigen musste sie sich für ihre Tochter mit Trisomie 21 | |
noch nie. Wohl auch, so mutmaßt sie, weil ihr ein Unternehmen gehört, bei | |
dem viele aus dem Ort beschäftigt sind. | |
Draußen: Direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, nicht weit von | |
Helmstedt, liegt der kleine niedersächsische Ort Grasleben. Familie | |
Thieme-Hohe wohnt in einer Siedlung etwas abseits der Hauptstraße, in einem | |
großen, weißen Haus mit weitem Garten. Die Garage ist offen, darin ein | |
schwarzer Minivan und Kinderfahrräder. Ein gepflasterter Weg führt zur | |
Haustür. | |
Drinnen: Die Familie lebt auf drei Stockwerken. Oben die Kinder, im | |
Souterrain die Eltern, in der Mitte alle zusammen. Zwei Mädchen und zwei | |
Jungen laufen im Haus herum: Der Älteste ist dreizehn, die Jüngste fast | |
vier. Im Flur hängen ein gutes Dutzend bunter Kinderjacken ordentlich | |
nebeneinander. Daneben geht es in den großen Wohn- und Essbereich. In der | |
Mitte des Raumes, zur Terrasse hin, ist eine Einbuchtung, darin ein kleines | |
helles Sofa, ein niedriger Tisch, zwei Kinderstühle und Schränke mit | |
Spielen. Katharina Thieme-Hohe setzt sich auf den Boden zwischen die Stühle | |
und greift ein Spiel für Marella. Die Kleine sagt Nein, ihr Lieblingswort. | |
„Sie kommt jetzt in die Lautsprache, das ist nicht klar gewesen. Angefangen | |
haben wir mit Gebärden-unterstützter Kommunikation.“ | |
Überraschung: Marella hat die blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und | |
trägt eine blaue Brille vor den blauen Augen. Sie ist unter dem Radar | |
durchgeschwommen, sagt ihre Mutter. Die Nackenfaltenmessung war | |
unauffällig, der kleine Herzfehler ist beim Ultraschall auch nicht | |
aufgefallen. „Sie hat sich da gut versteckt, was wunderbar ist. Ich musste | |
mich nicht entscheiden. Ich weiß nicht, ob ich es mir zugetraut hätte.“ | |
Geburt: Die jüngste Tochter wurde zu Hause geboren, das war so geplant. | |
Dass sie das Downsyndrom hat, war eine Überraschung. Als ihre Mutter sie | |
sich nach der Geburt anschaute, fiel ihr auf, dass ihr Baby anders aussah. | |
Eine befreundete Ärztin kam vorbei, hörte Marellas Herz ab und fand keine | |
großen Auffälligkeiten. „Ich hatte sie, und das war wunderschön, zwölf | |
Stunden auf mir liegen, bevor irgendein Arzt richtig an sie rangekommen | |
ist“, erzählt Thieme-Hohe. | |
Kontakt: Vor der Geburt ihrer Tochter hatte sie keinen Kontakt zu Menschen | |
mit Downsyndrom. Heute ist sie Mitglied einer regionalen Selbsthilfegruppe | |
für Eltern von Kindern mit Trisomie 21 und findet: Diese Menschen | |
bereichern unsere Gesellschaft. „Sie sind herzlich, offen, liebevoll, | |
ungefiltert.“ | |
Termine: „Es gab Phasen, in denen ich gedacht habe, scheiße, warum ich. Und | |
die gibt es immer wieder mal. Das zieht sich wie Kaugummi.“ Marella | |
entwickele sich einfach langsamer als andere Kinder. Sie sei organisch | |
gesund, das Loch in ihrem Herzen habe sich von alleine geschlossen. | |
Trotzdem habe sie viel mehr gesundheitliche Probleme als ihre Geschwister. | |
Die größte Veränderung seit der Geburt, meint Thieme-Hohe, seien die vielen | |
Termine, vor allem bei Ärzt*innen. „Deswegen sind wir aber nicht weniger | |
glücklich als andere Eltern.“ | |
Erinnerung: An ihre eigene Kindheit hat Thieme-Hohe schöne Erinnerungen. | |
Besonders der Tag der Grenzöffnung ist ihr bis heute im Gedächtnis | |
geblieben. Damals wurde die Achtjährige früh aus dem Bett geschmissen. „Das | |
ganze Dorf ist gemeinsam Richtung Sonnenaufgang gelaufen. Aus der anderen | |
Richtung kamen die aus Weferlingen. Wir haben uns in der Mitte getroffen | |
und eine riesen Straßenparty gefeiert.“ Wenn sie heute in der Grenzregion | |
spazieren geht, bleibt sie immer auf dem ehemaligen Patrouillenweg, „auch | |
wenn die Tretminen offiziell alle weg sind“. | |
Studium: Thieme-Hohe studierte an einer Privatuniversität in Hessen. Sie | |
ging für Studienaufenthalte nach San Francisco und Grenoble, für ein | |
Praktikum nach Japan. Während des Studiums lernte sie ihren Mann Maximilian | |
kennen und wurde schwanger mit ihrem ersten Sohn. „Da war klar, mein Mann | |
geht erst mal arbeiten.“ Sie stiegen zunächst in das Unternehmen seiner | |
Eltern ein und zogen dafür nach Bayreuth. Dort wurden die ersten drei | |
Kinder geboren. „Zum Schuleintritt des Ältesten mussten wir uns | |
entscheiden, welches Unternehmen wir langfristig führen wollen und haben | |
uns für Sport Thieme entschieden.“ 2010 bauten sie in Grasleben das | |
Fertighaus, um möglichst schnell umziehen zu können. | |
Das Unternehmen: Über 300 Mitarbeiter*innen beschäftigt Sport Thieme, der | |
laut eigenen Angaben größte Versandhändler für Sportartikel in Deutschland. | |
Die Zentrale liegt nur einen knappen Kilometer vom Wohnhaus der Familie | |
entfernt. Ihr Großvater gründete die Firma, heute gehört sie Katharina | |
Thieme-Hohe. Ihr Mann ist der Geschäftsführer. „Ich bin seit Marellas | |
Geburt zu Hause. Eigentlich wollte ich im Sommer wieder mit einsteigen, | |
aber wir haben entschieden, dass ich verlängere. Marella ist so oft krank.“ | |
Floorball: Thieme-Hohe holt einen dicken Sportkatalog und legt ihn auf den | |
Tisch. Sie schlägt die Seiten auf, die Floorball-Ausrüstung zeigen. „Wie | |
Hockey, aber mit Plastikschlägern und Plastikball und ohne Eis.“ 1997 und | |
1999, vor dem Abitur, war sie als Mitglied der deutschen Nationalmannschaft | |
bei den Weltmeisterschaften in Finnland und Schweden dabei. Die Deutschen | |
verloren haushoch. Heute ist Floorball ihr Familiensport. | |
Der Bluttest: Der Älteste nimmt den Auflauf aus dem Ofen. Er fragt seine | |
Mutter, welche Teller er nehmen soll und nimmt Marella mit zum Esstisch am | |
anderen Ende des Raumes. Thieme-Hohe erzählt von der Schwangerschaft. Sie | |
habe damals mit dem Gedanken gespielt, einen Bluttest machen zu lassen, | |
sich aber dagegen entschieden, als ihr Frauenarzt sie fragte, ob sie denn | |
in der 22. Woche wirklich noch abtreiben wollen würde. | |
Veränderter Blick: Heute ist sie in dieser Angelegenheit resolut. Sie | |
spricht von Tötung, spricht von Euthanasie. „Was ist denn der Unterschied | |
zwischen der Spritze, die ich setzte, während das Kind noch im Bauch ist, | |
und wenn es draußen ist? Das sind zehn Zentimeter Unterschied.“ Auch von | |
Abtreibungen vor der zwölften Woche hält Thieme-Hohe nicht viel, außer im | |
Fall einer Vergewaltigung. Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über den | |
eigenen Körper? „Sex hat man ja in der Regel freiwillig. Wer A sagt, muss | |
auch B sagen“. | |
Natur: Thieme-Hohe ist gegen Pränataldiagnostik. Man müsse nehmen, was die | |
Natur einem schenke. Statt Tests anzubieten, sollte man die Mütter einfach | |
ins kalte Wasser werfen. „Dann würden sie merken, dass es gar nicht kalt | |
ist, sondern lauwarm.“ Dass die Realität in Deutschland anders aussieht, | |
weiß sie. Bluttests seien besser als Fruchtwasseruntersuchungen, die eine | |
Fehlgeburt einleiten können. „Aber man darf die Frauen danach nicht alleine | |
lassen. Es sollte Beratungsmöglichkeiten geben, von Leuten, die selber in | |
der Familie Menschen mit Downsyndrom haben.“ | |
Ihr Traum: Eine zentrales Beratungstelefon. Im Moment habe sie keine Zeit | |
dafür, so etwas aufzubauen, „aber vielleicht in fünf oder sechs Jahren, | |
wenn die ersten Kinder aus dem Haus sind“. Die Inspiration für das | |
Downsyndrom-Beratungstelefon kommt von ihrer ehrenamtlichen Arbeit als | |
Stillberaterin. „Normalerweise können hier wildfremde Frauen anrufen und | |
die berate ich dann. Gerade habe ich das blocken lassen, weil ich an meine | |
Kapazitätsgrenze gekommen bin.“ Im Moment bietet sie einmal im Monat einen | |
Stilltreff an, in dem von ihr vergangenes Jahr gegründeten Familienzentrum. | |
Dafür hat sie in Grasleben ein Haus gekauft und stellt die Räumlichkeiten | |
nun kostenlos für Kurse zur Verfügung. | |
Wünsche für die Zukunft: Marella besucht einen normalen Kindergarten. Ihre | |
Mutter hofft, dass sie auf eine Regelschule gehen wird. Vielleicht kann sie | |
als Erwachsene in eine WG ziehen. Irgendwann, sagt Thieme-Hohe, würde sie | |
gerne wieder mit ihrem Mann alleine leben. | |
17 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Rebecca Stegmann | |
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