# taz.de -- Der Hausbesuch: Flucht in die freie Welt | |
> Lee floh aus Nordkorea. Heute lebt sie in Berlin, wo die Spuren des | |
> Kampfes zwischen Kapitalismus und Kommunismus noch immer sichtbar sind. | |
Bild: An Berlin liebt Lee vor allem die Freiheit, in der Stadt scheint ihr alle… | |
Bevor sie nach Berlin kam, lebte Lee in beiden Koreas. Geboren wurde sie | |
1991, im letzten Jahr des Kalten Krieges. Lee floh mit ihrer Familie über | |
China nach Südkorea. Seit fast einem Jahr lebt sie nun in Berlin. Ihr | |
voller Name soll hier nicht genannt werden, aus Sicherheitsgründen. | |
Draußen: Lee wohnt in einem großen, stattlichen Gebäude mit vielen | |
Apartments und WGs in Kreuzberg. Vor dem Fenster steht der Fichtebunker, | |
der größte Zivilbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. In der Umgebung findet | |
sich die typische Mischung aus Dönerbuden und trendigen Bars. | |
Drinnen: In der behaglichen WG empfängt Lee in ihrem Zimmer. Ein kleines | |
Gemälde einer Blume, das sie gemalt hat, schmückt die Wand. „Es ist ein | |
Anfängerjob, ich muss noch üben“, sagt Lee und wird rot. Daneben hängt ein | |
koreanisches Amulett, das Symbol für Glück. In der Ecke verbirgt ein | |
Vorhang Kisten und Müll. „Der Vorbesitzer hat das nicht mitgenommen, also | |
habe ich einfach einen Vorhang aufgehängt.“ | |
Korea: Lee wuchs in der nordkoreanischen Grenzstadt Hyesan auf. Die Stadt | |
liegt am Fluss Yalu – auf der gegenüberliegenden Seite ist die chinesische | |
Stadt Changbai. „Wir haben dort immer Lichter gesehen, ganz anders als bei | |
uns.“ Lee hat die Provinz als schön in Erinnerung. „Weil Kim Jong Il, der | |
ehemalige Führer von Nordkorea, hier geboren sein soll, ist die Natur | |
besonders gut geschützt.“ In Wirklichkeit wurde der Vater des derzeitigen | |
nordkoreanischen Diktators in Sibirien geboren, aber die Staatsmedien haben | |
diese Tatsache geändert. | |
Glück: „Ich weiß nicht, ob Sie nach einer dramatischen Geschichte suchen, | |
wie viele andere Flüchtlinge sie oft erzählen, aber ich hatte großes | |
Glück“, sagt Lee gleich zu Beginn. Sie habe kein schlechtes Leben in | |
Nordkorea gehabt. Und dass sie nach ihrer Abreise aus dem kommunistischen | |
Land auch viele schöne Dinge erlebt habe – dank eines Mannes: „Ich habe den | |
besten Vater der Welt.“ | |
Jugend in einer Diktatur: „Ich hatte nie das Gefühl, in einem | |
ungewöhnlichen Land zu leben“, sagt Lee. Sie ist glücklich, dass sie in | |
Nordkorea und nicht im Süden aufgewachsen ist. „In Südkorea haben Kinder im | |
Alter von sechs Jahren bereits ein Smartphone und die Schüler stehen | |
ständig unter extremem Druck. Ich habe noch mit Sand gespielt, als ich 12 | |
war.“ | |
Bildung: Lees Kindheitserinnerungen sind hauptsächlich durch ihre Schulzeit | |
geprägt. Sie besuchte eine Eliteschule, in der sie den Umgang mit einem | |
Computer lernte – ein Privileg in Nordkorea. Wegen ihrer herausragenden | |
Leistungen in Physik durfte sie Pjöngjang besuchen. Ein besonderes Thema in | |
der Schule war „revolutionäre Geschichte“, wo sie (oft fiktive) | |
Heldengeschichten über die Kim-Dynastie lernte. „Wir werden darin | |
unterrichtet, sobald du als Kind sprechen lernst, also fand ich es nicht | |
merkwürdig.“ | |
Abreise: Lees Vater arbeitete in Nordkorea im Im- und Export und hielt sich | |
mit Erlaubnis der Regierung häufiger für Geschäfte in China auf. Einmal | |
sollte er für einen Monat dorthin, aber er blieb zwei Jahre weg. „Er | |
arrangierte damals wahrscheinlich Geld für den Fluchtweg nach Südkorea. Am | |
Ende zahlten wir den Grenzsoldaten ein Bestechungsgeld und überquerten im | |
Winter den zugefrorenen Fluss nach China. | |
Flucht: Die Familie musste plötzlich das einzige Land verlassen, das sie | |
bisher gekannt hatte. Nordkoreaner haben keinen Zugang zu ausländischen | |
Medien und wissen oft wenig über die Welt außerhalb ihrer nationalen | |
Grenzen. Vom Vater geführt (und mit Hilfe mehrerer Menschenschmuggler) | |
reiste Lee mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester anfangs durch | |
China. Sie mussten sehr vorsichtig sein, um nicht gesehen zu werden, da die | |
chinesische Polizei nordkoreanische Flüchtlinge in ihre Heimat | |
zurückschickt – wo sie oft in ein Gefangenenlager kommen. | |
Asyl: Nach einer viermonatigen Flucht durch China, Laos und Myanmar | |
erreichte die Familie schließlich die südkoreanische Botschaft in Thailand. | |
Alle Menschen aus Nordkorea, denen dies gelingt, erhalten automatisch die | |
südkoreanische Nationalität und Geld, um dort ein neues Leben zu beginnen. | |
Lee, ihre Eltern und ihre Schwester bestiegen ein Flugzeug nach Seoul. Eine | |
Stadt, die in der nordkoreanischen Propaganda als der reinste Horror | |
dargestellt worden war. | |
Eine Insel: In Südkorea lernten Lee und ihre Familie in einem dreimonatigen | |
Programm der Regierung, wie sie sich in dem freien, modernen Leben | |
zurechtfinden können. Sie lernten mit Geld zu bezahlen, Lebensmittel | |
einzukaufen und essen zu gehen. Weil die nördliche Grenze dicht ist, nennt | |
Lee Südkorea eine Insel. „Ich habe mich rasch an das schnelle Leben gewöhnt | |
und bin 2010 an die Universität in Seoul gegangen.“ Lee war jedoch | |
erschrocken, dass rund 40 Prozent der Ausbildung in englischer Sprache | |
unterrichtet wurde „Das hat mir klar gemacht: Ich kann keinen Abschluss | |
machen, ohne mein Englisch aufzubessern.“ | |
Erzfeind: Lee fragte ihren Vater, ob sie auf die Philippinen gehen könne, | |
um Englisch zu lernen. Ihr Vater hatte eine bessere Idee: „Ich möchte, dass | |
du die Welt kennenlernst, warum gehst du nicht in die USA?“ Sie verbrachte | |
2013 ein Jahr in Los Angeles, lernte Englisch und lernte viele Menschen aus | |
dieser Welt kennen, die so neu für sie war. | |
Europa: Nach ihrem Bachelor-Abschluss bewarb sich Lee in verschiedenen | |
europäischen Ländern um einen Masterplatz. Schließlich landete sie in | |
Berlin, durch einen Tipp eines Freundes, der ebenfalls aus Nordkorea | |
geflohen war. Er kannte einen südkoreanischen Pastor, Dongjoo Na, der die | |
Stiftung Hasim Missionswerk leitet, die nordkoreanischen Flüchtlingen | |
finanziell beim Studium in Deutschland hilft. „Ich konnte es zuerst nicht | |
glauben, weil es zu gut schien, um wahr zu sein“, sagt Lee. | |
Wiedervereintes Berlin: Wie hat Lee Berlin bisher erlebt? „Ich liebe es, | |
wie frei die Menschen hier sind. Hier scheint fast alles möglich.“ Es ist | |
auch eine symbolische Stadt für jemanden, dessen Heimat in einen | |
kommunistischen und einen kapitalistischen Part aufgeteilt ist. „Hier ist | |
es völlig normal, dass sich Menschen aus dem ehemaligen West- und Ostberlin | |
treffen. Man könnte fast denken, dass die Stadt nie geteilt war.“ Für eine | |
Koreanerin sei das besonders. „Ich wünsche mir, dass das auch in meiner | |
Heimat möglich wird.“ | |
Das schmutzige Berlin: Es gäbe aber auch weniger schöne Seiten, sagt Lee. | |
Sie mag es, wenn die Dinge sauber sind. „Die Leute pinkeln überall auf der | |
Straße, das machen sie in Südkorea nicht. Und dann der Rauch überall, | |
iiih.“ Außerdem komme der Bus immer zu spät, Geld überweisen dauere lange | |
und an vielen Orten werde nur Bargeld akzeptiert – in Südkorea undenkbar. | |
Aber weil das Leben hier langsamer sei als in Südkorea, werde sie auch | |
geduldiger. | |
Zuhause: „Ich suche immer noch nach einem Zuhause, Südkorea fühlte sich | |
nicht so an.“ Sie sieht sich nach ihrem Abschluss in Deutschland arbeiten, | |
„weil ich es liebe, wie leicht ich hier zwischen den EU-Ländern reisen | |
kann“. Außerdem sei es wunderbar, wie viele Urlaubstage sie hier habe. | |
Obwohl sie auch Nordkorea nicht mehr als ihre Heimat sieht, hat sie dort | |
Pläne für die Zukunft. „Wenn Nordkorea jemals frei und offen wird, möchte | |
ich dort als Umweltschützerin arbeiten.“ | |
27 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Casper van der Veen | |
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