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# taz.de -- Spielfilm über Wohnungsnot: Ausmisten am Main
> David Nawraths Spielfilm „Atlas“ zeigt die Underdogs im Frankfurter
> Gentrifizierungsgeschäft. Der Protagonist schleppt aber nicht nur Möbel.
Bild: Das Bild des Titanen Atlas überträgt sich mühelos in Gesicht und Gesta…
Das Gewicht der Welt auf den Schultern. In David Nawraths Film „Atlas“
biegt sich der 60-jährige Walter Scholl, gespielt von Rainer Bock, unter
dieser Last. Aber man muss sich fragen, was „diese Last“ eigentlich meint.
Denn in „Atlas“ gibt es der Lasten einige und die größte ist vielleicht,
dass sie sich gegenseitig nicht nur aufaddieren, sondern sogar
multiplizieren. Grund und Schuld ist eine besondere Wechselwirkung, an der
sich Nawrath verbeißt und die ihm die Fährten für das Geschehen legt.
„Atlas“ gefällt sich nämlich in der Verquickung von Dramen. Das erste
betrifft eine ganze Gesellschaft, die sich exemplarisch in der Stadt
Frankfurt am Main ausdrückt, die wiederum Kulissen wie Figuren stellt. Ein
anderes ist ein von Walter Scholl internalisiertes, eine tragische
Familienbegebenheit, die den Antrieb liefert, Drama eins mit Drama zwei
zu verbinden.
Doch zunächst die Ausgangslage. Mittelpunkt ist der eigentlich unauffällige
Walter Scholl, der durch Bock eine eindrückliche, aber auch schmerzhafte
Physis erhält. Das Bild des aus der griechischen Mythologie stammenden
Titanen Atlas, dessen Umrisse sich auch Scholl auf seinen Körper hat
stechen lassen, überträgt sich mühelos in Gesicht und Gestalt. Das Leben
hat ihm eine wenig ruhmreiche Verdienstmöglichkeit zugespielt: Scholl
entleert, zusammen mit einigen anderen starken Kerlen, Wohnungen und
Häuser.
Die Bewohner jener Orte zeigen sich in der Regel nicht erfreut über den
zwangsverordneten Besuch. Und so zeigt „Atlas“ in den ersten Minuten einige
dieser Arbeitseinsätze, während deren eine Partei in Hysterie und Panik
über den Verlust dessen verfällt, was die andere mit nahezu drakonischer
Gelassenheit herausschafft.
Die Darstellung dieser Equipe von Muskelmännern ist gelungen, vielleicht
auch, weil es sich eben nicht nur um Muskelmänner handelt. Da ist zum
Beispiel Alfred Hoppe (Thorsten Merten), zuständig für den rechtlichen Teil
der Vollstreckungen, ein nervöses und gequältes Menschlein mit wässrigen
Augen, in dessen Jackentaschen man meint, die Schnapsfläschchen klimpern zu
hören. Oder Chef Roland Grone (Uwe Preuss), ein mittels Automatenkaffee und
Zigaretten am Laufen gehaltenes Wesen, das Auftrag um Auftrag an Land
zieht.
Menschen, die sich wohl kaum in den guten Lagen Frankfurts niederlassen
können, sondern ihren Feierabend wie Scholl in charakterlosen Wohnblöcken
zubringen. In die besseren Stadtteile zieht es sie vor allem aus
Arbeitsgründen, etwa ins Nordend, wo es aufgrund von Gewinnmaximierung
gilt, ganze Häuser von Mietern zu befreien, um diese dann um ein Vielfaches
teurer dem Immobilienmarkt wieder zuzuführen.
Mit einem solchen Trupp einige Wochen lang unterwegs zu sein, hätte ein
fabelhaftes Material für eine dokumentarische Beobachtung abgeben können.
Mit ein wenig Geschick sogar eine gar nicht mal schlechte. Weil der
Spielfilm aber mit anderen Reizketten agiert, gehören zu „Atlas“ wenigstens
noch zwei weitere Gestalten, die das Atlasdasein Walter Scholls erst so
richtig unerträglich machen. Ganz vorn mit dabei: Moussa Afsari (Roman
Kanonik), den sich Roland Grone besser nicht in die Firma geholt hätte. Wo
andere noch nach Worten suchen, ist Afsari schon längst mit den Fäusten
dabei. Mitunter betrifft das auch die eigenen Kollegen – Hoppe muss von
Scholl etwa einmal aus der Kloschüssel geborgen werden, nachdem er von
Afsari unsanft in diese gesteckt wurde.
Das cholerische Schwergewicht wird bei Nawrath zum Repräsentanten eines
anderen Frankfurts, das der Regisseur rund um das berüchtigte
Bahnhofsviertel vermutet. Zwischen Wolkenkratzern, Bordellen und offener
Drogenszene lungert man hier auch in den Spielkasinos herum, den Revolver
verborgen wie griffbereit. Natürlich hat der Neukollege auch etwas mit der
Vollstreckung im bürgerlichen Nordend zu tun. Und natürlich wohnt in der
von Menschen zu befreienden Villa nicht irgendwer, sondern Scholls
verschollener Sohn Jan Haller, leicht übereifrig dargeboten von Albrecht
Schuch, der nach Christian Schwochos Miniserie „Bad Banks“ vom Frankfurter
Extrembanker nun zum Mietaktivisten und Familienvater mutiert ist.
In Walter Scholl kommen all diese Stränge kompliziert zur Vereinigung. Und
es ist David Nawrath und seinem Drehbuchautoren Paul Salisbury („Herbert“)
durchaus anzurechnen, wie geschmeidig sie sie alle trotz teils mangelnder
Realitätstauglichkeit zu einem Strick drehen.
Kalt lässt das nicht. Kalt lassen einen aber genauso wenig die mitunter
allzu klischierten Milieuzeichnungen samt ihrer Vertreter. Oder Nawraths
Aussage, dass man Frankfurt lediglich als Handlungsort erkoren hätte, weil
man nicht immer in Berlin drehen wollen würde. Ein verständliches Ansinnen,
bei dem dennoch auch eine gewisse Ignoranz in Sachen Stadtspezifika
mitschwingt. Der Atlas jedenfalls, der dieses filmische Himmelsgewölbe vorm
Fallen bewahrt, ist Rainer Bock.
24 Apr 2019
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Deutscher Film
Räumung
Wohnungsnot
Arbeiter
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Drama
Albrecht Schuch
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