# taz.de -- 200. Geburtstag von Fontane in Berlin: Bei Douglas nach links | |
> Theodor Fontane durchwanderte die Mark Brandenburg? Wir wandern mit | |
> Fontane durch Berlin! Auch hier lässt sich der Dichter (wieder)entdecken. | |
Bild: Theodor Fontane heute | |
Potsdamer Platz. „Hier war neulich ooch schon eener, der dit gefragt hat. | |
Welche Hausnummer noch ma? Ick komm aus Dessau, da is mehr Goethe und so!“ | |
„Nummer 16“, sage ich. Der Mann dreht sich und zeigt dann auf die | |
Rasenfläche, hinter der die Parkside Apartments stehen, die aussehen, als | |
bestünden sie aus grauen überdimensionierten Legosteinen. Aber zum Anfang. | |
Fontane würde am 30. Dezember so wie Gottfried Keller am 19. Juli 200 Jahre | |
alt werden, was nicht stimmt, weil niemand 200 Jahre alt werden kann. Und | |
weil die Schweizer wahrscheinlich so stolz auf Keller sind wie die | |
Brandenburger auf Fontane, die Schweiz aber auch ohne Keller gerne bereist | |
wird, gibt es überall in Brandenburg Projekte, Projekte, Projekte. | |
Auch wenn das die Hauptstadt umschließende Bundesland Fontane für sich in | |
Anspruch nimmt, so könnte es Berlin ebenso tun. Schließlich gibt es kaum | |
einen anderen Schriftsteller, der diese Stadt so penetrant und vehement zu | |
den Schauplätzen seiner Romane machte und Theater- und Kulturkritiken | |
schrieb. | |
„Theodor Fontane gelang“, so fasste Erich Kästner 1959 zusammen, „was den | |
großen ausländischen Meistern mit Paris, London und Petersburg gelungen | |
war: Er schuf Berlin zum zweiten Male.“ | |
## Orte, an denen Fontane wohnte | |
Die Kultur dreht also rund im Fontane-Karussell, und wir drehen mit. Aber | |
ich werde Ihnen weder ein Fontane-Gedicht schreiben noch einen Text, der | |
mein Verhältnis zu Fontane klärt. Ich werde weder einem Tanztheaterstück | |
beiwohnen, das sich mit seinen Frauenfiguren beschäftigt, noch werde ich | |
mir Fotos ansehen, die Brandenburg abbilden, wie Fontane es sah. Ich fahre | |
auch nicht in seine Geburtsstadt Neuruppin, in der im vergangenen Jahr eine | |
Ausstellung von 500 Fontane-Figuren von Playmobil stattfand. Nee, nee, ich | |
bleibe in Berlin und fahre zu Orten, an denen Fontane wohnte, und will | |
nachsehen, was da los ist. | |
Erste Station: Puttkamerstraße. Es ist einer dieser Tage in der Mitte | |
Europas, an denen der Himmel aussieht, als hätte ihn jemand mit einer | |
verdreckten Platte zugenagelt. Keines der Wohnhäuser Fontanes steht mehr. | |
Entweder wichen sie anderen Häusern oder sie wurden im 2. Weltkrieg | |
zerstört. An der Stelle der Hausnummer 6 steht ein ockerfarbenes Wohnhaus, | |
das unscheinbar wirkt. An der Eingangstür hängt ein Zettel, der sich | |
freundlich an den zuständigen DHL-Zusteller richtet. Nichts erinnert daran, | |
dass hier Fontane – nach Jahren in Schülerpensionen, Dienstwohnungen und | |
Mansardenzimmern und nicht zuletzt bei seinem Onkel August, dessen sozialen | |
Abstieg er erlebte – und seine Frau Emilie kurz nach der Hochzeit 1850 die | |
erste gemeinsame Wohnung fanden. Nach dem Einzug schrieb Fontane an seinen | |
Freund Friedrich Witte „Nun, bis jetzt liegt kein Grund zur Klage vor“. Das | |
ist typischer Berliner Sound und bedeutet: „Es geht uns sehr gut.“ | |
Fontane hatte seine Tätigkeit als Apotheker eingestellt und machte erste | |
Schritte als freier Schriftsteller. Doch die Einkünfte waren gering, und | |
eine in der Wohnung eingerichtete Schülerpension wurde ihnen zu | |
anstrengend, sodass sie nach einem Jahr, nach der Geburt des ersten von | |
sieben Kindern, von denen allerdings drei kurz nach der Geburt starben, in | |
eine kleinere Wohnung in der Luisenstraße zogen. | |
In der Nummer 35 findet sich heute ein Verwaltungsgebäude des Deutschen | |
Bundestages. Gegenüber stehen zwei Frauen unter zwei Regenschirmen und | |
warten auf den Flughafenbus, der zum Alexanderplatz fährt. Die Spree | |
Richtung Süden und Richtung Westen das Becken am Hauptbahnhof, der frühere | |
Humboldthafen, liegen jeweils keine hundert Meter entfernt und zu jener | |
Zeit wurden die Abwässer noch direkt in die Gewässer geleitet. Es muss, | |
wenn der Wind falsch stand, enorm gestunken haben. | |
Weiter, rüber zum Potsdamer Platz. In der U-Bahn sitzen zwei junge Frauen, | |
jede eine Flasche Bier in der Hand. Neben der einen steht eine | |
waschmaschinengroße goldene Luftballon-1, neben der anderen eine 8. Sie | |
lachen nicht, sie quietschen. Das 11. Gebot lautet: Du sollst nichts | |
Schlechtes über Jugendliche sagen. Auch sie wohnen da, wo andere Urlaub | |
machen. | |
1857 hatte Berlin ungefähr 450.000 Einwohner, heute sind es mehr als 3,5 | |
Millionen und sie sind nicht schöner geworden. In der Bellevuestraße, in | |
der die Fontanes zwei Jahre wohnten, wachsen Birken aus den Stahlplatten. | |
Ich gehe in eines der Gebäude und stehe vier Menschen in Uniformen | |
gegenüber. „Ich habe eine merkwürdige Frage“, sage ich. „Gibt´s nicht!… | |
sagt einer der Männer. „Doch, Theodor Fontane, wo stand sein Haus?“ Sein | |
Mund strafft sich und dann macht er ein Geräusch, als würde man das Ventil | |
eines Reifens aufschrauben. „Na, kommse ma!“ Er steht auf, zieht seine | |
Jacke über. Ein weiterer Mann kommt hinzu. „Weeßt du dit, Theodor Fontane, | |
wo der hier jewohnt hat?“ Der Mann denkt nach, weil er aussieht, als würde | |
er es tun, und sagt dann: „Das muss mindestens 15 Jahre her sein, dann | |
wurde hier doch gebaut, oder?“ | |
## Ein überdachtes Bierbike kommt bei uns vorbei | |
Ich folge dem Jackenmann, der sofort, als wir draußen sind, eine | |
Zigarettenpackung aus seiner Jacke holt und sich eine Zigarette anzündet. | |
„Naja, nich uneigennützig“, sagt er und grinst. „Wir wissen ja einiges. … | |
vorne sind zwee Tafeln, kiekn wa ma!“ Es sind keine Fontane-Tafeln. | |
„Ick sach ma so: Wenn der noch leben würde, dann würde der jetzt im Grünen | |
wohnen.“ Der Mann weiß es nicht besser, was soll´s, er ist nett und nicht | |
zuständig für Stadtführungen. „Wo, meinen Sie, fährt der ICE Theodor | |
Fontane gerade lang?“, frage ich ihn. Er lacht und sagt: „Hannover, | |
bestimmt Hannover!“ Wo heute die Reste des legendären Grand Hotel Esplanade | |
stehen, finde ich später heraus, stand zuvor die Villa, in der die Familie | |
Fontane eine Wohnung mietete. | |
„Die Droschken sind wohl noch da, aber man bemerkt sie wenig“, so Fontane | |
in einem Brief, „weil oft in einer einzigen Minute 6 oder auch wohl 10 | |
elegante Pferdebahnwagen an einem vorüberfahren.“ Ein gelbes überdachtes | |
Bierbike, besetzt von 16 Frauen, die sich mittags schon Bier reinzimmern | |
und dort leben, wo keine Bierbikes herumfahren, kommt an uns vorbei. Oder | |
sie fahren es ironisch, aber das Problem mit Ironie ist, dass man sie nicht | |
sehen kann. | |
Nach der Rückkehr aus London, wo Theodor Fontane beruflich zu tun hatte, | |
zog die Familie 1859, als Tempelhof noch nicht zu Berlin gehörte und sich | |
nördlicher befand, in die Tempelhofer Straße 51. Auf diesem Grundstück, das | |
nun zu Kreuzberg gehört, steht die Amerika-Gedenkbibliothek. Studenten, die | |
jetzt Studierende sind, rauchen vor dem Gebäude und beobachten zwei | |
Bauarbeiter, die keine Bauarbeitenden sind, und eine Schubkarre mit | |
Ziegelsteinen beladen. Die Metallschnüre werden vom Wind gegen die drei | |
Fahnenmasten, die neben Fahrradständern stehen, geschlagen. Auf der anderen | |
Seite des Parks haben Obdachlose ein Zeltcamp auf der Rückseite des | |
freistehenden Hauses errichtet, in dem sich Ferienwohnungen befinden. | |
Weiter in die Alte Jakobstraße 171. Hier zog die Familie 1862 in einen | |
gerade fertig gestellten Neubau, ein vierstöckiges Vorderhaus mit zwei | |
Seitenflügeln. Nun stehen an dieser Stelle | |
Wiedervereinigungs-Plattenbauten, die genau so mies aussehen wie ihre | |
Brüder und Schwestern weiter im Osten. Die Häuser bilden eine Hufeisenform, | |
in der Mitte ein Flachbau, in dem eine Zahnarztpraxis untergebracht ist. | |
Ich frage eine junge Frau, die einen Kinderwagen schiebt, ob ihr Fontane | |
was sage? „Nö“, sagt sie. Sie wedelt mit ihrer linken Hand, als wäre ich | |
dieses Insekt, das sie nervt, und geht zügig weiter. | |
Aus dem Gebäude der Stresemannstraße 25 kommt eine ältere Frau mit ihrem | |
kleinen, schwarzen Hund, der sofort beginnt, an der Leine zu ziehen. | |
„Fontane hat hier…“ „Das ist richtig“, unterbricht sie mich. „Wohne… | |
hier?“ „Ich habe eine Freundin besucht.“ „Haben Sie mal etwas von ihm | |
gelesen?“ „In der Schule, warten Sie mal.“ Sie kramt in ihrem Kopf nach, | |
dann richtet sich ihr Oberkörper plötzlich auf und sie beginnt: „Herr von | |
Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, / Ein Birnbaum in seinem Garten stand“ | |
Ja, gut, denke ich, den Anfang können viele. Doch sie macht weiter, | |
erinnert sich von Zeile zu Zeile, von Strophe zu Strophe, ignoriert ihren | |
Hund, der weiter will. Und als sie fertig ist, sagt sie froh und etwas | |
verblüfft: „Ich kann es noch! Wir mussten es in der Schule lernen. Tja, | |
gelernt ist gelernt!“ | |
Ja, vielleicht gibt es in dieser Stadt noch ältere Menschen, die ihre | |
verbleibende Lebenszeit nicht damit verbringen, Mandalas auszumalen. Doch | |
leider begegne ich der Frau gar nicht. Ich hoffe, dass es sie gibt und dass | |
mehr als nur sie Gedichte von Fontane auswendig können. In Wahrheit ist es | |
vor dem Haus, in dem Fontane zwischen 1863 und 1872 wohnte und das damals | |
die Adresse Hirschelstr. 14 hatte, menschenleer und schweinekalt, weil es | |
zu regnen anfängt und ein strammer Wind alles von den Straße pustet. Autos | |
fahren vorüber. | |
## Zeit der Industrialisierung | |
„Die Kochstraße zog eine Grenze zwischen Stadt und Vorstadt; diesseits lag | |
der Lärm, jenseits die Stille. (…) Die plötzlich beruhigten Nerven ließen | |
erkennen, daß man aus der Zone des Rollwagens in die der schlafenden | |
Droschke getreten war.“ Die Stadtmauer stand noch, als Fontane hier wohnte, | |
obwohl sie keine Funktion mehr hatte, da die Steuergrenze seit 1861 weiter | |
draußen lag. Nach dem Bau der Berliner Mauer wurde die alte Stadtmauer | |
abgerissen und ein kleiner Teil in den 80er Jahren im nördlichen Teil der | |
Stresemannstraße rekonstruiert. Fontanes Zeit war die der | |
Industrialisierung. Die Stadt wuchs stetig, vor den Litfaßsäulen standen | |
Neugierige. „In langem Staunen“, schrieb Fontane, „sah ich die Stadtbahn | |
entstehen. Ich sah sie mit ihren kerbungsreichen Bogenviadukten wie eine | |
riesige Raupe über die Hauptstadt kriechen.“ | |
Weiter in die Potsdamer Platz Arkaden. Sie sind hell erleuchtet. Mario | |
Barth könnte hier jetzt auftreten, das Zielpublikum ist schon da. Ich | |
spreche die Frau an, die in dunkelblauer Arkaden-Kleidung in dem | |
Informationshäuschen sitzt und wahrscheinlich 300 Mal am Tag den Weg zu H&M | |
erklärt. Ich frage sie nach dem Fontanes Wohnhaus. Sie stutzt und sagt: | |
„Dit weeß ick nich!“ Sie lässt ihren linken Arm in der Luft stehen. „Wa… | |
Se ma, ick guck nach!“ Sie öffnet eine der Schranktüren und wuchtet einen | |
der drei Ordner auf ihren Schoß und blättert sich durch die leicht | |
vergilbten Folien, bis sie einen mit Zahlen versehenden Plan findet. „Na, | |
bei Douglas nach links, würde ick sagen. Probieren Se dit mal. Da is | |
irgendwo ’n Schild.“ Und ja, an der Außenwand der Arkaden, an dem Café | |
„brammibal’s donuts“ hat die Fontane-Gesellschaft eine Gedenktafel | |
anbringen lassen: „Theodor Fontane (1819–1898) lebte von 1872 bis zu seinem | |
Tode im Haus des Johanniter-Ordens Potsdamer Str 134c“ und darunter | |
„…Zuletzt dann vorbei an der Bismarckpforte / Kehr’ heim ich zu meinem | |
alten Orte, / Zu meiner alten Dreitreppenklause, / Hoch im Johanniterhause | |
– / Schon seh’ ich grüßen, schon hör’ ich rufen – / Aber noch | |
fünfundsiebzig Stufen!“ | |
In einem Brief an seine Frau schreibt Fontane 1884: „Wie lebe ich denn in | |
der Reichshauptstadt? Arbeit bis um 3, Mittagbrot, Schlaf, Kaffe, Buch oder | |
Zeitung, Abendspaziergang und Thee. Von 365 Tagen verlaufen 300 nach dieser | |
Vorschrift. Du denkst ‚ich wünsche es so‘. Das ist aber nicht der Fall; ich | |
dürste nach Umgang, Verkehr, Menschen, aber freilich alles muß danach sein | |
und speziell die Formen haben, die mir gefallen, sonst danke ich für Obst | |
und ziehe die Einsamkeit vor.“ | |
Sonst danke ich für Obst und ziehe die Einsamkeit vor. Was für ein Satz! | |
Hier also ist der Ort, an dem Fontane am 20. September 1898 gegen 21 Uhr | |
starb und würde ich ausharren und noch vier Stunden warten, wäre es genau | |
121 Jahre und sechs Monate her. | |
Das Café sieht aus, wie ein Café in der Mitte Europas aussieht. Menschen | |
sitzen sich mit Laptops gegenüber, die Bedienung ist ein Barista, der | |
vielleicht auch Executive and Legislative Store Manager ist und drei | |
Sprachen fließend spricht. Ein Gast hat Stöpsel in den Ohren und sieht | |
einen Film auf seinem Smartphone, in dem gerade ein Haus explodiert. | |
21 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Björn Kuhligk | |
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