# taz.de -- EU-Debatte um das Innovationsprinzip: Giftiges Wort macht Karriere | |
> Neue Ideen statt Vorsorge, so will es die Industrie. Kritiker des | |
> Innovationsprinzips fürchten eine Gefahr für Umwelt- und | |
> Gesundheitsschutz. | |
Bild: 2013 schlugen Chemieunternehmen in einem offenen Brief an die EU das Inno… | |
BERLIN taz | Es ist nur ein Wort, aber es hat Wucht, weil es Standards im | |
Umwelt- und Gesundheitsschutz ins Wanken bringen kann: Innovationsprinzip. | |
Chemiefirmen wie BASF und [1][Bayer], Computerunternehmen wie IBM oder der | |
Agrarkonzern Syngenta machen sich stark dafür. Es soll die schnellere | |
Einführung von Medikamenten, Holzschutzmitteln, Neonikotinoiden, | |
gentechnisch veränderten Pflanzen oder Techniken wie dem autonomen Fahren | |
ermöglichen. | |
Am Mittwoch stimmt das Europäische Parlament über das Forschungsprogramm | |
„Horizon Europe“ für die Jahre 2021 bis 2027 ab. Darin soll erstmals das | |
Innovationsprinzip verankert werden. Dann soll die „Festlegung | |
innovationsfreundlicher Rechtsvorschriften“ durch die EU-Kommission folgen. | |
Der Bundestag hat bereits am vergangenen Freitag darüber diskutiert. Setzt | |
sich das Prinzip durch, ändert sich der Umgang mit Risiken grundlegend, | |
warnen die Grünen sowie ein Bündnis von rund 60 Umwelt-, | |
Verbraucherverbänden und Organisationen wie Greenpeace und dem europäischen | |
Gewerkschaftsverbund ETUC. | |
Bislang ist in der deutschen und europäischen Umwelt- und | |
Gesundheitspolitik das „Vorsorgeprinzip“ verankert. Anders gesagt: die | |
Vorsicht. Demnach müssen Firmen, die eine Chemikalie auf den Markt bringen | |
wollen, nachweisen, dass es keine Schäden für Mensch und Umwelt gibt. Gibt | |
es begründete Bedenken, können Behörden und Regierungen Auflagen machen – | |
bis hin zum Verbot. | |
Die Erdüberhitzung aufhalten, den Plastikmüll eindämmen, den | |
Unkrautvernichter Glyphosat mit seiner mutmaßlichen Krebsgefahr stoppen – | |
das klappt mit dem Vorsorgeprinzip bisher nicht. Aber es kann in den oft | |
hitzigen Debatten um Genehmigungen zwischen Vertretern der Industrie, der | |
Bauern, der Umwelt- und Verbraucherlobby entscheidend sein. | |
## „Bedenken-Second-Prinzip“ | |
Ein paar Beispiele: Die EU-Agrarminister haben 2018 den Einsatz von | |
Insektengiften auf den Feldern verboten, [2][weil sie die Orientierung der | |
Bienen stören und töten können]. Dabei gab es Experten, die versuchten, die | |
Aussage zu relativieren, dass die Stoffe entscheidend sind für das | |
Schwinden der Bienen. | |
Zweitens: Als Großbritannien zu Zeiten von BSE gegen das Verbot, | |
Rindfleisch zu exportieren, das Gesetz bemühte, scheiterte es – der | |
Europäische Gerichtshof bezog sich auf das Argument der Vorsorge. Oder: | |
Jahrelang wurden Babyflaschen mit der Chemikalie Bisphenol A hergestellt, | |
bevor bekannt wurde, dass er Unfruchtbarkeit, Diabetes und andere Übel | |
auslösen kann. | |
Noch streiten die Wissenschaftler aber. Die Industrie setzt den Stoff | |
sorglos auch für Kassenbons und Lebensmittelverpackungen ein. Aus | |
Babyflaschen ist er mittlerweile verbannt – aus Vorsicht. | |
Diese Vorsicht dürfe nicht aufgegeben werden zugunsten einer | |
„industriefreundlichen Folgeabschätzung“, erklären die Grünen in einem | |
offenen Brief an den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und die | |
zuständigen Ministerinnen der Bundesregierung. Die Befürworter des | |
Innovationsprinzips wie FDP-Chef Christian Lindner erklären, es solle das | |
Vorsorgeprinzip nicht ablösen, sondern „gleichberechtigt“ mit ihm sein. | |
Grünen-Politiker Harald Ebner spricht vom „Bedenken-Second-Prinzip“. Er | |
hält auch nichts vom Argument, dass sich das Auto, die Röntgentechnik, der | |
Strom gar nicht erst durchgesetzt hätten, wäre das Vorsorgeprinzip nicht | |
erst seit den 70er Jahren, sondern schon immer da gewesen. Ebner: | |
„Digitalisierung, Internet, Smartphones, aber auch erneuerbare Energien – | |
das alles kam erst, als das Vorsorgeprinzip längst galt.“ | |
## Offener Brief an EU-Behörden | |
Der Streit begann spätestens im Oktober 2013, damals schrieben zwölf Chefs | |
von Unternehmen wie Bayer und BASF einen offenen Brief. Sie wandten sich an | |
die Präsidenten von EU-Kommission, Rat, und Parlament und schlugen das | |
Innovationsprinzip vor. Im November 2014 folgte ein weiterer Vorstoß – mit | |
22 Chefs. Dahinter stand der industrienahe Verband European Risk Forum – | |
getragen nicht nur von der Chemie- und Pharma-, sondern etwa auch von Auto | |
und Tabakindustrie. | |
Als die Bundesregierung dann 2016 Anbauverbote für Genpflanzen neu regeln | |
wollte, tauchte das Innovationsprinzip plötzlich in einem Gesetzesentwurf | |
dazu auf. Da zielte es auf eine leichtere Anerkennung von neueren | |
umstrittenen gentechnischen Verfahren wie Crispr Cas ab. Damals scheiterte | |
das Gesetz und das Wort kam somit nicht durch. Anders ist das im | |
„Bundesbericht Forschung und Innovation 2018“. Dort findet es sich wieder | |
und dazu heißt es: „Ein Ziel muss es sein, Regelungen zum Schutz des | |
Menschen und der Umwelt so zu formulieren, dass diese Regelungen | |
Innovationen nicht erschweren oder gar verhindern.“ | |
Sollte der Text inklusive dem Wort Innovationsprinzip nach der Abstimmung | |
an diesem Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg in den nächsten Monaten | |
endgültig von den EU-Institutionen verabschiedet werden – die Industrie | |
dürfte es freuen. | |
17 Apr 2019 | |
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[1] /EuGH-zum-Unkrautvernichter/!5576666 | |
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## AUTOREN | |
Hanna Gersmann | |
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