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# taz.de -- 1979 als Schicksalsjahr des Nahen Ostens: Das toxische Jahr, das Ho…
> Vor 40 Jahren kam es in den Staaten des Nahen Ostens zu grundlegenden
> Umwälzungen. Vieles hätte ganz anders kommen können in Politik und
> Gesellschaft.
Bild: Halbmond, Burka, Maschinengewehr: Vorurteilbehaftete Symbole, die jünger…
Ohne das Jahr 1979 wären der Nahe und der Mittlere Osten nicht die, die wir
heute kennen. Die Kriege, die Toten, die Flüchtlinge, die Despoten und
religiösen Fanatiker der Gegenwart sind nicht, wie manche meinen,
untrennbar mit der Region verbunden. Vieles davon nahm erst 1979 seinen
Anfang. Vieles hätte anders kommen können.
Im Jahr 1979 kommt es zur Revolution im Iran. Der vom Westen protegierte
Schah Mohammed Reza Pahlevi wird gestürzt, doch nicht die Säkularen,
Linken, nicht die Anhänger des demokratisch gewählten und von der CIA 1953
entthronten Mohammed Mossadegh setzen sich durch, sondern die Islamisten
rund um Ajatollah Ruhollah Chomeini. Wie der Autor und Exiliraner Bahman
Nirumand Ende Januar in der taz schrieb, wusste kaum jemand, was mit der
islamischen Republik gemeint war, die gerade entstanden war. Als es den
meisten allmählich dämmerte, wuchs der Widerstand. Sie kämpften.
Vielleicht hätten sie noch etwas ausrichten können, hätte sich nicht im
selben Jahr im Irak ein Verbündeter der USA an die Macht geputscht: Saddam
Hussein. Und hätte der nicht schon 1980, in dem Irrtum, ein von inneren
Querelen geschwächtes Opfer anzugreifen, dem Iran den Krieg erklärt. Ein
Wendepunkt, den die iranische Führung kaum besser hätte orchestrieren
können – Chomeini: „Der Segen des Krieges ist für uns unvorstellbar groß…
–, wusste sie doch, dass ein Krieg die Bevölkerung gegen äußere Feinde eint
und gegen innere schweigen lässt. Oder dass sie sie notfalls unauffälliger
zum Schweigen bringen kann.
Während des Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988 passierte genau das. Das
Regime im Iran festigte sich, weil der Argwohn gegen den Geistlichen
erstickt wurde vom Hass auf Saddam Hussein. Die Demokraten und Sozialisten
gingen in den Untergrund, flohen, starben in den Gefängnissen. Am Ende
dieses streckenweise barbarisch geführten Kriegs, bei dem bis zu eine
Million Menschen starben, stand kein Friedensvertrag, lediglich ein
Waffenstillstand.
## Auch Saudi-Arabien wandelte sich vor 40 Jahren
Auch Irans gegenwärtiger Erzfeind Saudi-Arabien erlebt im Jahr 1979 eine
Erosion. Ermutigt von dem religiösen Putsch in Teheran, stürmt am 20.
November 1979 Dschuhaiman Al-Otaibi die Große Moschee in Mekka, die
heiligste Stätte des Islam. Während rund 100.000 Männer im Innenhof beten,
ruft Al-Otaibi, Sohn einer Beduinenfamilie, das Ende der Welt aus; der Sieg
des Islam über den Unglauben stehe unmittelbar bevor. Er nimmt Tausende
Gläubige als Geiseln und besetzt die Moschee mit einer Gruppe von
sunnitischen Fundamentalisten für 15 Tage. Al-Otaibi verabscheut die Nähe
des saudischen Königshauses zum Westen und missbilligt den Lebenswandel in
seinem Land.
Denn Saudi-Arabien gibt im Jahr 1979 mitnichten ein so konsistentes und
uniformiertes Bild ab wie in den Jahrzehnten, die folgen sollten. Männer
und Frauen begegneten sich im öffentlichen Raum, picknickten, tanzten und
sangen auf Hochzeiten. An das multikulturelle Flair an den Küsten und die
Kinos in den Städten, insbesondere in Dschidda, erinnern sich Ältere noch
heute. Klubs, Kunstaustellungen, Fußballspiele, Fernsehen, Feiern, all das
hatten der Ölboom und die rasante wirtschaftliche Entwicklung der
vergangenen Jahre mit sich gebracht.
Erst 1932 hatte sich Saudi-Arabien gegründet, das Herrscherhaus der
Stammesfamilie Al-Saud konspirierte mit Vertretern der ultrakonservativen
Strömung des Wahhabismus. Als rund ein Fünftel der weltweit vorhandenen
Erdölreserven unter saudischem Sand entdeckt wurde, katapultierte dies das
Land binnen kürzester Zeit in avantgardistische Sphären. Und es führte zu
der Vereinbarung mit den USA „Öl gegen Sicherheit“, die bis heute gilt.
1979 hatten viele genau diese Entwicklungen bereits 40 Jahre lang
misstrauisch beäugt. Ihnen kam der Schritt von der Wüste in die Moderne zu
plötzlich, und sie sympathisierten mit al-Otaibi, als dieser die Moschee im
November 1979 in eine Festung verwandelt. Weil es der Prophet aber
untersagt, in den heiligen Stätten zu kämpfen, erlassen wahhabitische
Religionsgelehrte eine Fatwa, die es der Regierung gestattet, die
Geiselnahme gewaltsam zu beenden, und die sie im Gegenzug verpflichtet, die
gesellschaftliche Liberalisierung zurückzudrängen sowie einen Teil der
Milliardenerlöse aus dem Ölgeschäft in die globale Verbreitung und Lehre
des wahhabitischen Islam zu pumpen.
## Unterdrückte Gesellschaftsgruppen
Als eine französische Spezialeinheit die Besetzung schließlich beendet,
sind mehr als 1.000 Menschen tot, Al-Otaibi und seine verbliebenen Anhänger
werden hingerichtet. In der internationalen Dokumentation „Mekka 1979“, die
im vergangenen August auch auf Arte zu sehen war, bilanziert der saudische
Journalist Khaled Al-Maeena, Al-Otaibi habe zwar die Schlacht verloren,
den Krieg jedoch gewonnen. Ihm gelang es, das Land nachhaltig zu prägen,
ohne ihn sähe es womöglich ganz anders aus.
Vielleicht hätten Frauen nicht erst im Jahr 2018 Auto fahren, nicht erst
jetzt ins Fußballstadion gehen dürfen. Aber aus Angst vor ihren mächtigen
wahhabitischen Verbündeten kommt die saudische Regierung ab 1979 den
Konservativsten des Landes entgegen, sie fügt sich dem Rat der
Religionsgelehrten, sie instrumentalisiert die Religion für die Erhaltung
ihrer eigenen Macht. Auf Kosten einer progressiven Gesellschaft, der
Frauen, der Schiiten, zulasten jeder liberalen Tendenz.
Sie exportiert einen radikalen Islam in alle Teile der Welt, nach Pakistan,
in den Tschad, nach Turkmenistan, Albanien, Europa. Eine Aufarbeitung der
Geschehnisse in Mekka oder des 11. September 2001, als 15 der 19 Attentäter
aus Saudi-Arabien stammten, findet in dem Land nicht statt. Dabei wäre das
angesichts eines gerade angestoßenen erneuten Modernisierungsprozesses
unbedingt nötig.
Emanzipatorischen Stillstand erlebte ab 1979 auch [1][Afghanistan]. Aus den
frühen 1970er Jahren existiert ein im Internet populäres Foto, das eine
Straßenszene in der Hauptstadt Kabul zeigt. Zu sehen sind drei junge Frauen
in Miniröcken und Blusen, mit offenen dunklen Haaren und auf
Plateausandalen. Sowenig repräsentativ das Bild für die ländlichen Regionen
Afghanistans ist, in denen Frauen auch damals [2][eine Burka getragen]
haben, so zeigt es doch, wie sich die Situation der Frauen unter König
Mohammed Zahir ab 1933 verbessert hatte. Sie erhielten Zugang zu Bildung,
das Frauenwahlrecht wurde eingeführt.
Der Einmarsch der Sowjetunion, der Stellvertreterkrieg mit den USA, in dem
diese wiederum von al-Otaibi inspirierte Islamisten unterstützten, und
schließlich die Taliban stoppten diese Entwicklung. Seit 1979 kam
Afghanistan nie wieder zur Ruhe.
## Ausnahmsfall Friedenspolitik
Friedenspolitisch innovativ zeigten sich hingegen Israel und Ägypten mit
dem Abschluss des Camp-David-Abkommens im März 1979. Es war der erste
Friedensvertrag, den Israel mit einem seiner arabischen Nachbarn schloss.
Auch der hatte langwierige Folgen, eine davon: Der Westen kooperierte
fortan eng mit dem ägyptischen Militär, um Israels Sicherheit in der Region
zu garantieren. Der Friedensstifter auf ägyptischer Seite, Anwar as-Sadat,
wurde zwei Jahre nach Camp David von Islamisten aus seinem eigenen Militär
ermordet.
Der aktuell amtierende Präsident, Abdel Fattah al-Sisi, ist ein vom Westen
abgesegneter General, der seinen demokratisch gewählten Vorgänger Mohammed
Mursi bei einem Militärputsch entthronte. Die Zusammenarbeit des Westens
mit dem ägyptischen Militär hat auch dem Arabischen Frühling in Kairo ein
vorläufiges Ende bereitet, nicht, wie oft behauptet, eine generelle
Unfähigkeit der arabischen Menschen zur Demokratie.
Trotzdem war Camp David unbestritten richtig und wichtig. Heute zeigt sich,
dass auch andere arabische Staaten ihre stets vorgetäuschte Loyalität mit
den palästinensischen „Brüdern“ nicht länger für ihre machtfüllende
antisemitische Selbstvergewisserung missbrauchen. Sondern dass sie
pragmatisch denken und Israels Existenz, wenn auch noch nicht offiziell
garantieren, doch zumindest zu akzeptieren beginnen. Dann vielleicht
könnten sie irgendwann eine ehrliche und ernst gemeinte Vermittlerrolle im
Nahostkonflikt einnehmen, was angesichts einer immer breiter und stärker
werdenden Rechten in Israel zu wünschen wäre.
Das Jahr 1979 öffnete dem [3][islamischen Extremismus] Tür und Tor. Dieser
hatte schreckliche Folgen und ist in seiner Stärke doch längst nicht so
alt, wie wir mitunter denken. Er ist ein zu erklärendes Produkt: von dem –
absichtlich herbeigeführten – Ende eines erstarkenden Nationalismus in der
Region (Mossadegh, Nasser), von der Einmischung ausländischer Mächte, von
Despotismus, Korruption und Pech. Das schafft Resignation – macht aber
ungleich mehr Hoffnung. Auch der Chefredakteur des Nahostmagazins zenith,
Daniel Gerlach, kommt in seinem neuen Buch, „Der Nahe Osten geht nicht
unter“, zu diesem Schluss. Er schreibt, die Region benötige einen neuen
Gesellschaftsvertrag für ein friedliches Miteinander aller Ethnien und
Religionen.
Denn schuld sind nicht die Menschen der arabischen Welt und des Vorderen
Orients, die, wie ein rassistisches Narrativ lautet, irgendwie
grundsätzlich nicht in der Lage seien, demokratisch zu leben. Und deshalb
verdienen sie jetzt, 40 Jahre nach 1979, eine neue und ernst gemeinte
Chance.
7 Apr 2019
## LINKS
[1] /Vierzig-Jahre-Krieg-in-Afghanistan/!5574048
[2] /Ausstellung-Muslim-Fashion/!5583568
[3] /IS-Ehemalige-Carla-S/!5585906
## AUTOREN
Hanna Voß
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