# taz.de -- Die Linke nach Wagenknechts Rückzug: Zwischen Wut und Hoffnung | |
> Der neue starke Mann der Linksfraktion scheint Dietmar Bartsch zu werden. | |
> Doch wer wird Sahra Wagenknechts Nachfolgerin? | |
Bild: Sahra Wagenknecht wirkt in diesen Tagen so entspannt wie lange nicht | |
BERLIN taz | Sahra Wagenknecht betritt am Montag um 15 Uhr den Raum 2732 im | |
Jakob-Kaiser-Haus. Das Treffen des Fraktionsvorstands ist ein | |
Routinetermin. Gut zwei Monate war die Fraktionsvorsitzende krank und nicht | |
mehr in der Fraktion. Ihr Ko-Vorsitzender Dietmar Bartsch ist da, Jan | |
Korte, der parlamentarische Geschäftsführer, Sevim Dağdelen, die | |
Stellvertreterin von Wagenknecht, und vier weitere Mitglieder des | |
13-köpfigen Fraktionsvorstands. Bartsch leitet die Sitzung, aber zunächst | |
gibt er Wagenknecht das Wort. | |
Sie sagt, dass sie nicht mehr als Fraktionschefin antreten wird. Sie habe | |
über ihre Kräfte gearbeitet, brauche eine neue Balance. Sie wirkt souverän, | |
ungewohnt offen, für ihre Verhältnisse emotional. Nach der knappen Ansage | |
schaut sie in erstaunte und betroffene Gesichter. Nur mit Bartsch und | |
einigen Vertrauten hat sie kurz zuvor gesprochen. | |
Eine Aussprache, wie es nun weitergeht, gibt es nicht. Die Sitzung ist | |
schnell zu Ende. Um 15.15 Uhr verschickt Wagenknecht eine Mail an alle | |
Fraktionsmitglieder. „Alle wussten: Das ist eine Zäsur“, so Korte am Tag | |
danach lakonisch. | |
Mit Wagenknechts Abgang aus der ersten Reihe [1][tritt die bekannteste | |
Politikerin der Partei zurück]. Wer wird diese Lücke füllen? Wie sortieren | |
sich die unterschiedlichen Lager in der Partei von ganz links bis | |
pragmatisch? Viel gerät in Bewegung. Viel ist möglich. | |
## „Das hat sie sauber gemacht“ | |
Katja Kipping, Parteichefin und Wagenknechts Antagonistin, erfährt die | |
Neuigkeit zu Hause. Sie schreibt einen Artikel, hat das Handy lautlos | |
gestellt. Als sie draufschaut, sind etliche Nachrichten eingegangen. | |
Kippings erster Reflex: Überraschung. Der zweite: Diese Entscheidung ist | |
ihr bestimmt nicht leicht gefallen. | |
Sie schreibt Wagenknecht eine Nachricht, zollt ihr Respekt. Den Abend nimmt | |
sie sich frei. Da kommt noch einiges auf uns zu, denkt sie. Der Machtkampf | |
zwischen dem Kipping- und dem Wagenknecht-Lager hat die Fraktion | |
aufgerieben. Das Letzte, was Kipping nun will, ist die Rolle der | |
Königinnenmörderin. | |
Am Dienstag erklärt sich Sahra Wagenknecht vor der Fraktion. Sie wirkt mit | |
sich im Reinen, so, als wäre eine Last von ihren Schultern gefallen. Ihre | |
Erklärung wird mit warmem, ja liebevollem Beifall quittiert. Jetzt, da sie | |
gehen wird, sind sich Fraktion und die Vorsitzende nah. | |
„Das hat sie sauber gemacht“, „Hochachtung vor ihrer Entscheidung“, hei… | |
es. Wagenknecht ist über Nacht vom Enfant terrible zur geschätztesten | |
Politikerin der Linken geworden. Niema Movassat, der wie Wagenknecht dem | |
Landesverband NRW angehörte, war jahrelang ihr Sitznachbar in der Fraktion. | |
Er ist einer jener Parteilinken, die mit Wagenknecht wegen deren | |
Migrationspolitik gebrochen haben. | |
## Ein halböffentliches Polit-Dschungelcamp | |
Seit Oktober 2017 hat er fast kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Bis zu | |
diesem Dienstag. „Unabhängig davon, dass ich sie kritisiere, habe ich | |
allergrößten Respekt vor ihrer Entscheidung“, sagt er in seinem | |
Bundestagsbüro. Bei ihm überwiege vor allem die Erleichterung. Darüber, | |
„dass wir nun zum Glück für die gesamte Partei keine öffentliche Debatte | |
mehr um ihre Abwahl haben.“ | |
Die Hoffnung, dass nun alles einfacher, alles besser wird, ist zu spüren. | |
Aber auch die Erschöpfung. | |
[2][Der Machtkampf währte über ein Jahr.] Ein Höhepunkt der | |
Auseinandersetzung war die Fraktionsklausur im Herbst 2017 in Potsdam, auf | |
der Bartsch und Wagenknecht wiedergewählt wurden. Eine Klausur, die | |
begleitet wurde von Drohungen und Ultimaten und einem Gespräch der vier | |
Spitzenleute hinter Glasfenstern zu nächtlicher Stunde. Ein | |
halböffentliches Polit-Dschungelcamp. | |
Vordergründig stritten beide Lager um die Migrationspolitik, tatsächlich | |
ging es um den künftigen Kurs der Linkspartei: Welchen Milieus wendet sie | |
sich zu? Während Wagenknecht auf die Abgehängten und die abstiegsbedrohte | |
Mittelschicht schielte, ein Milieu, in dem auch die AfD fischt, richteten | |
Kipping und Riexinger die Partei stärker auf die jungen abhängig | |
Beschäftigten und die weltoffenen Akademiker in den Großstädten aus. Zwei | |
Konzepte, die schwer zueinander passen. | |
## Gesetzt scheint Bartsch | |
Auf einer gemeinsamen Klausur im November 2018 nähert man sich an. Bei dem | |
umstrittenen Thema Migration findet man einen Formelkompromiss, im Januar | |
besiegeln Fraktions- und Parteispitze den Frieden. Im Kipping-Lager stellt | |
man zufrieden fest, dass Wagenknechts Rede beim Neujahrsempfang der | |
Fraktion recht milde und verbindlich ausfällt. | |
Warum erklärt Wagenknecht jetzt den Rückzug? Vielleicht genau deshalb. | |
Wagenknechts Idee, der Fraktion den Rücken zu kehren, sei schon älter | |
gewesen und langsam gereift, vermuten manche. Sie habe sich in den | |
Fraktionssitzungen zwar redlich bemüht, aufmerksam und zugewandt zu wirken. | |
Aber eigentlich, so ein Abgeordneter, „war immer zu merken, dass es ihr auf | |
die Nerven ging, sich stundenlang unter ihrem Niveau zu langweilen“. | |
Solange der Zwist mit Kipping akut war, konnte sie nicht gehen. Es hätte | |
wie eine Niederlage gewirkt. | |
Nun geht es vor allem darum, wer künftig die Fraktion führen wird. Eine | |
Vorentscheidung für 2021, wenn es darum geht, wer die Partei als | |
SpitzenkandidatIn im Bundestagswahlkampf vertritt. Gesetzt scheint Dietmar | |
Bartsch. Bartsch, der immer der zweite Mann hinter den Charismatikern zu | |
sein scheint. | |
## Reformer sind jetzt das Machtzentrum | |
Der Mecklenburger ist ein solider Redner, ein erfahrener Mechaniker der | |
Macht, der dreieinhalb Jahre im Schatten der intellektuell strahlenden, | |
divenhaften Wagenknecht stand. Die setzte die Themen, Bartsch sorgte für | |
die innere Stabilität. | |
Aber was glänzt, ist in der Politik nicht immer das Wertvolle. Was stark | |
scheint, kann Schwäche kaschieren, der Unauffällige im entscheidenden | |
Moment der wirklich Starke sein. Wie nun Bartsch. | |
Die Reformer sind jetzt das Machtzentrum in der Fraktion. Sie sind die | |
Gruppe, mit der alle koalieren wollen. Das fragile Bündnis mit den | |
Wagenknechtianern, das Hufeisen, ist Geschichte, der linke Flügel, der | |
Wagenknecht folgte, ist ein Torso. Nun werden neue Bündnisse geschmiedet. | |
Die Lage ist unübersichtlich, auch, weil die Fraktion bunter geworden ist. | |
Da sind die Frauen um Katja Kipping, die sich mit einer weiteren Gruppe, | |
die sich Bewegungslinke nennt, verbündet haben. Nun, da Wagenknecht – die | |
gemeinsame Gegnerin – weg ist, treten inhaltliche Konflikte deutlicher | |
hervor. Kippings Begeisterung für ein Grundeinkommen teilen die | |
Bewegungslinken nicht, auch das erklärte Ziel, zu regieren, fehlt ihnen. | |
## Ziemlich große Fußstapfen | |
Aber: Die Boys um Bartsch und die Kipping Girls haben gegenseitige offene | |
Rechnungen, die bis heute verhindern, dass die beiden Reformergruppen sich | |
verbünden. Hinzu kommt: Die Mehrheit der 69 ParlamentarierInnen gehört zu | |
keinem Lager und votiert mal so, mal so. Es bleibt also kompliziert. | |
Ähnlich knifflig wird auch die Entscheidung, wer Wagenknecht nachfolgt. | |
„Selten war es so unbeliebt, Fraktionschefin zu werden, wie jetzt“, scherzt | |
Movassat. Die neue Führungsfrau muss das linke Lager repräsentieren, am | |
besten aus dem Westen kommen. Und sie muss im Wahlkampf zeigen, dass sie | |
Säle füllen kann. Ziemlich große Fußstapfen. Zu große. Wenn sich gar | |
niemand findet, könnte Bartsch für den Übergang sogar alleine die Fraktion | |
führen, obwohl sich Frauen bereits jetzt dagegen aussprechen. | |
Auch nach Wagenknechts angekündigtem Rückzug gibt es in der Fraktion offene | |
Rechnungen, Misstrauen und kaum vernarbte Wunden. Fraktionsvize Sevim | |
Dağdelen versucht bereits, diese wieder aufzureißen. Sie bekam ihren Posten | |
nur, weil Wagenknecht im Oktober 2017 mit Rücktritt gedroht hatte. | |
Dağdelen ist eine toughe, rhetorisch begabte Frau türkisch-kurdischer | |
Herkunft und hat damit alle Qualifikationen für eine herausgehobene | |
Stellung in der Linken. Doch dass sie noch einmal in eine Führungsposition | |
in der Fraktion wiedergewählt wird, glaubt nicht einmal sie selbst. | |
## Die Königin geht | |
Am Dienstag sickert durch, dass sie nicht mehr für den Vorstand kandidieren | |
wird. Das Framing: Das Mobbing gegen Wagenknecht und sie seitens der | |
Parteiführung habe beide aus dem Amt gejagt. So berichtet es ein anonymer | |
„Insider“ der Bild-Zeitung. Andere sehen das nüchterner: Dağdelen möge k… | |
jemanden, deshalb möge umgekehrt kaum jemand sie. | |
In seinem geräumigen Büro, das ihm als Vorsitzender des | |
Wirtschaftsausschusses zusteht, läuft Klaus Ernst am Mittwoch hin und her. | |
„Mobbing! Dieser Vorwurf ist unerträglich, weil er in keine Weise der | |
Realität entspricht. Eine andere Meinung ist kein Mobbing! Das können Sie | |
schreiben“, ruft der einstige Parteichef, der Wagenknechts Positionen im | |
Übrigen inhaltlich teilt. | |
Er setzt sich und diktiert: „Wenn Sahra Wagenknechts Umfeld jetzt eine | |
Beschädigung der Parteiführung betreibt, wird sich die Partei das nicht | |
gefallen lassen.“ | |
Vielleicht ist die Wut im Wagenknecht-Lager verständlich: Die Königin geht | |
und überlässt die Getreuen sich selbst. Die, die zurückbleiben, müssen | |
sehen, wie sie klarkommen. Wagenknecht und die Linkspartei ziehen weiter. | |
Die Parteiführung ist jedenfalls entschlossen, Wagenknecht einen | |
würdevollen Abgang zu ermöglichen. | |
Wagenknecht wirkt in diesen Tagen so entspannt wie lange nicht. Dass sie in | |
diesem Spiel weiterhin eine wichtige Rolle spielen soll, scheint | |
ausgemacht. „Sahra ist und bleibt eine wichtige Stimme der Linken, auf die | |
wir zählen“, sagt Kipping und ist sich darin vollkommen mit ihrem | |
Ko-Vorsitzenden Bernd Riexinger einig. | |
Als Fraktionsvorsitzende ist Sahra Wagenknecht bald Geschichte. Als eine | |
Art Wolfgang Bosbach der Linken, die in Talkshows brilliert, kann sie für | |
ihre Partei unersetzlich werden. | |
17 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kommentar-Die-Linke-nach-Wagenknecht/!5578033 | |
[2] /Kommentar-Wagenknechts-Rueckzug/!5580290 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Stefan Reinecke | |
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