| # taz.de -- Gleichstellung in Polen: Lodz – Stadt der Frauen | |
| > In der einstigen Textilmetropole Lodz bringen seit jeher Frauen das Geld | |
| > nach Hause. Nun verlangen sie mehr Anerkennung. | |
| Bild: Oberbürgermeisterin Hanna Zdanowska: „In Lodz gibt es wieder Arbeit“ | |
| Lodz taz | Der Lärm ist ohrenbetäubend. Holz und Eisen knallen aufeinander, | |
| Baumwollflusen fliegen durch die Luft, es stinkt nach Gas und nassen | |
| Textilfarben – und so geht es Tag und Nacht. | |
| Im 19. Jahrhundert stehen Zehntausende Frauen an den Webstühlen der großen | |
| Textilmagnaten von Lodz und mehren den Reichtum der Stadt. Nur die | |
| Fabriksirenen unterbrechen den Rhythmus: Heerscharen von Frauen kommen, | |
| Heerscharen gehen. Drei Schichten gibt es. Nur die Maschinen schlafen | |
| nicht. | |
| Allein in einer der großen Fabriken stampfen und rattern 70.000 Webstühle | |
| auf mehreren Stockwerken. Auch wenn heute in der zentralpolnischen Stadt | |
| Lodz kaum noch Stoffe hergestellt werden, so leben hier nach wie vor | |
| wesentlich mehr Frauen als Männer. Lodz, das ehemalige „Manchester des | |
| Ostens“, ist die Stadt der Frauen. | |
| Allerdings – im Stadtbild sind sie unsichtbar. Noch. Auf der vier Kilometer | |
| langen Prachtstraße „ulica Piotrowska“, einer zum Teil verkehrsberuhigten | |
| Zone mit eindrucksvollen Fabriken, Mietshäusern und Palästen im Stil der | |
| Gründerzeit, sind die bedeutendsten „Lodzer Menschen“ als Denkmäler | |
| verewigt – und es sind alles Männer. Unter ihnen ein Dichter, ein Pianist | |
| und ein Literatur-Nobelpreisträger, der mit „Das gelobte Land“ den | |
| wichtigsten Roman über Lodz geschrieben hat. | |
| ## Genügend bedeutende Frauen | |
| Doch wo ist das Denkmal für Irena Tuwim, die neben Gedichten hervorragende | |
| Übersetzungen verfasste und deren Wortschöpfungen bis heute in der | |
| polnischen Sprache lebendig sind? Wo das Denkmal für die Bildhauerin | |
| Katarzyna Kobro, deren Werke im Kunstmuseum MS² in der Manufaktura zu sehen | |
| sind, der ehemaligen Baumwollfabrik von Izrael Poznanski? | |
| Immerhin gibt es seit Kurzem in der Mitte des postindustriellen | |
| Manufaktura-Einkaufs- und Kunstzentrums den „Platz der | |
| Textilarbeiterinnen“. Doch an das Denkmal auf der Prachtstraße Piotrowska, | |
| das drei Textilmagnaten darstellt, reicht der Platz nicht heran. | |
| Hanna Zdanowska, die im Oktober 2018 mit über 70 Prozent der Wählerstimmen | |
| zum dritten Mal in Folge zur Oberbürgermeisterin gewählt wurde, lacht: | |
| „Alle wissen, das Lodz die Stadt der Frauen ist. Ein großer Teil der | |
| Direktoren- und Managerposten ist in Frauenhand. Alles hat seine Zeit.“ | |
| Die 59-Jährige, die der liberal-konservativen Oppositionspartei | |
| Bürgerplattform (PO) angehört, schenkt sich ein Glas Wasser ein: „Wenn man | |
| bedenkt, dass Lodz über Jahrzehnte eine vergessene Stadt war, sind wir | |
| schon ziemlich weit.“ | |
| ## Lodzerinnen auf Plakaten | |
| Im letzten Jahr habe die Stadt die Plakataktion der Stiftung „Auf den | |
| Spuren der Frauen“ unterstützt: An ausgewählten Bushaltestellen hingen | |
| große bunte Plakate, die auf berühmte Lodzerinnen aufmerksam machten, die | |
| einst in der Nähe gewohnt hatten. „Die Leute haben dann tatsächlich über | |
| diese Frauen diskutiert oder sich gegenseitig gefragt, wer das denn | |
| eigentlich war. | |
| Aber es ist schon richtig: Frauen sind im Stadtbild zu wenig präsent.“ | |
| Gerade junge Frauen störe das. Doch es hat lang gedauert, bis sich dieses | |
| Bewusstsein in Lodz durchgesetzt hat. Zunächst hatte die Stadt ganz andere | |
| Sorgen. | |
| Denn die einst zweit-, heute drittgrößte Stadt Polens war durch | |
| jahrzehntelange Fehlplanung durch das Verkehrsnetz gefallen. | |
| Funktionierende Straßen- und Bahnverbindungen gab es nur Richtung Osten, | |
| nach Warschau also und ins ehemalige Russische Reich, wohin im 19. | |
| Jahrhundert ein Großteil der in Lodz produzierten Stoffe geliefert wurde. | |
| Auch die Sowjetunion war nach dem Krieg ein Großabnehmer. | |
| Doch nach der Wende 1989 brach dieser Absatzmarkt plötzlich weg, und die | |
| Erschließung neuer Märkte war durch die fehlenden Verkehrsverbindungen nach | |
| Westen, Norden und Süden extrem schwierig. „Das Ziel haben wir bereits | |
| erreicht“, lacht Oberbürgermeisterin Zdanowska. „Jetzt bauen wir noch einen | |
| Tunnel vom Bahnhof Fabryczny zum Bahnhof Kaliski, und dann können wir | |
| sagen: Alle Wege führen nach Lodz!“ | |
| ## Nicht zerstört, nicht gefördert | |
| Anders als Warschau war Lodz im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört worden. | |
| Schon einen Tag nach Kriegsende konnten die Maschinen wieder auf Hochtouren | |
| laufen, und in die vielen leer stehenden Wohnungen, die einst jüdischen – | |
| nur 800 von ursprünglich rund 250.000 Lodzer Juden überlebten den Krieg – | |
| und deutschen Lodzern gehörten, konnten vertriebene Polen aus den | |
| polnischen Ostgebieten einziehen. Für die deutsche Minderheit hingegen – im | |
| Jahre 1939 noch 60.000 Menschen – war nach dem verheerenden Krieg kein | |
| Platz mehr in Lodz. | |
| „Da die Gebäude nicht zerstört waren, wurde hier nicht investiert“, so | |
| Zdanowska. „Das Geld floss in den Wiederaufbau von Warschau, Danzig und | |
| anderen zerstörten Städten. So verfiel Lodz immer mehr. Als ich zum ersten | |
| Mal Obermeisterin wurde, glichen ganze Straßenzüge einer Geisterstadt. | |
| Ruinen, wohin man sah. 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Menschen verloren | |
| den Glauben an ihre Stadt und verließen sie. Lodz schien keine Zukunft mehr | |
| zu haben.“ | |
| Heute, neun Jahre später, strahlen einige der Gründerzeitpaläste wieder in | |
| altem Glanz. Viele der charakteristisch ziegelroten Textilfabriken und | |
| dazugehörigen Familienmietshäuser wurden modernisiert und einer neuen | |
| Bestimmung übergeben. Ein Vorzeigeobjekt ist die Manufaktura in der | |
| ehemaligen Poznanski-Fabrik. In dem heutigen Einkaufs-, Kunst- und | |
| Vergnügungszentrum pulsiert wieder das Leben. Von den 6.000 Immobilien in | |
| städtischer Hand sind viele immer noch in einem erbärmlichen Zustand. Sie | |
| alle sollen saniert werden. | |
| Auch die Arbeitslosigkeit liegt heute nur mehr bei 4 bis 5 Prozent. Dank | |
| EU-Zuschüssen und neuen Investitionen – von den schnell wechselnden | |
| Regierungen in Warschau nach der politischen Wende 1989 und der Schließung | |
| der letzten Textilfabriken fühlten sich viele in Lodz alleingelassen. | |
| ## Heute Jobs auch für Männer | |
| Heute, sagt Oberbürgermeisterin Zdanowska, ist die Stadt aber über den | |
| Berg. „In Lodz gibt es wieder Arbeit, mehr und mehr im kreativen Bereich | |
| und für Hochschulabsolventen, und – auch das ist wichtig – natürlich für | |
| Frauen, aber inzwischen auch für Männer!“ | |
| Eine Frauenquote gibt es in Lodz nicht. Wie nirgendwo sonst im Land. | |
| Allerdings gibt es eine Quote für die Wahllisten. Vielmehr ist es für | |
| Lodzerinnen ganz normal, auf der Karriereleiter nach oben zu steigen und | |
| verantwortungsvolle Posten zu übernehmen. Das hat mit der Geschichte der | |
| Stadt zu tun. Die Landfrauen, die auf der Suche nach einem besseren Leben | |
| ins „gelobte Land“ kamen, hatten die Wahl, sich als Dienstmädchen bei einer | |
| „Herrschaft“ zu verdingen oder aber in einer Fabrik die schwere Arbeit | |
| einer Textilarbeiterin aufzunehmen. | |
| Dabei gab es in der Fabrik nicht nur einen freien Sonntag, sondern auch die | |
| Möglichkeit, aufzusteigen und als Vorarbeiterin mehr Geld zu verdienen. Für | |
| die Männer vom Land hingegen gab es in Lodz kaum Arbeit, sodass ein | |
| Rollentausch stattfand – die Frau arbeitete tagsüber und brachte das Geld | |
| nach Hause, während der Mann den Haushalt versorgte und sich um die Kinder | |
| kümmerte. | |
| So waren es selbst nach den Massenentlassungen der Textilarbeiterinnen nach | |
| 1989 die Frauen, die in Lodz Mann und Kinder weiter ernährten. Ohne viel | |
| Aufhebens darum zu machen. Anders als die Kohlekumpel in Oberschlesien oder | |
| die Werftarbeiter an der Ostsee protestierten die Lodzer Frauen nicht, als | |
| ihre Fabriken dichtmachten. Sie bissen die Zähne zusammen und versuchten, | |
| die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. In dieser | |
| Tradition wuchsen dann auch die nächsten Generationen heran. | |
| ## Vorbilder? Danzig! | |
| Wenig verwunderlich also, dass es in Lodz, ähnlich wie in der | |
| Ostseemetropole Danzig, eine Gleichstellungsbeauftragte gibt. „Es kann doch | |
| nicht sein“, empört sich Agnieszka Luczak, „dass eine Stadt ihren Reichtum | |
| vor allem der Ausbeutung von sogenannten Leichtlohngruppen verdankt. So | |
| einen Kapitalismus wollen wir hier nicht.“ | |
| Seit einem Jahr leitet die 58-Jährige ein Team von rund 60 Expertinnen und | |
| Experten aus allen Gesellschaftsgruppen, das ein Gleichstellungsprogramm | |
| ausarbeiten soll. „Unser großes Vorbild ist Danzig. Da funktioniert seit | |
| Kurzem ein Modell, das wir – zugeschnitten auf Lodz – auch gern unserem | |
| Stadtrat zur Diskussion und Abstimmung vorlegen wollen. Wenn alles gut | |
| geht, unsere Zahlen und Diagnosen also richtig und überzeugend sind, können | |
| wir in rund einem Jahr nachziehen“, hofft Luczak. | |
| Künftig soll es zum Beispiel nicht mehr möglich sein, dass Schwerarbeit wie | |
| in der Textilbranche zur „Leichtindustrie“ umdefiniert werden kann, sodass | |
| die dort arbeitenden Frauen als „Leichtlohngruppen“ mit Minilöhnen | |
| abgespeist werden können. „Dieses sehr unschöne Kapitel in unserer | |
| Geschichte soll nun endgültig geschlossen werden“, so Luczak. | |
| Sieben Aspekte will die vormalige Journalistin und aktive Frauenrechtlerin | |
| in ihrem Programm berücksichtigen. Niemand soll mehr benachteiligt werden | |
| wegen des Geschlechts oder Alters, einer Behinderung, der sexuellen | |
| Orientierung, des Glaubens, der Nationalität und Armut. „Das ist alles | |
| kompliziert und braucht seine Zeit, aber mit vereinten Kräften schaffen wir | |
| das“, schließt sie optimistisch. Sie hat guten Grund dazu. | |
| ## In Lodz lauter „Erfolgsfrauen“ | |
| Die Lodzer Unternehmerinnen und Managerinnen stellen in Polen eine so | |
| starke Fraktion dar, dass sie im letzten Jahr den jährlichen Kongress der | |
| Frauen, der normalerweise in Warschau tagt, nach Lodz in die Expo-Halle | |
| einluden. Das Medienecho war gewaltig, da Polen 2018 nicht nur 100 Jahre | |
| Unabhängigkeit und 100 Jahre Frauenwahlrecht feierte, sondern zum ersten | |
| Mal seit vielen Jahren auch wieder einen bewussten Blick auf das „gelobte | |
| Land“ warf. Der Wandel zum Positiven hin war unübersehbar. | |
| So entschied sich Monate später ein großer Zeitungsverlag, die Lodzer | |
| kobiety sukcesu, „Erfolgsfrauen“ mit einem Wirtschaftspreis zu ehren. Neben | |
| der Oberbürgermeisterin Zdanowska gehören zahlreiche sonst „unsichtbaren“ | |
| Frauen zu den Ausgezeichneten, so beispielsweise Łucja Chudzik, die | |
| Eigentümerin einer Lavendeltherme und des dazugehörigen Medical Spa Hotels. | |
| So auch Beata Konieczniak, die Organisatorin des Light Move Festivals in | |
| Lodz, die die noch immer zahlreichen Ruinen in der Stadt für zumindest ein | |
| paar Nächte zu neuem Leben erweckt. Katarzyna Ptak, die aus Lodz stammende | |
| Direktorin der sich rasant entwickelnden Warsaw Home Messe. Ewa | |
| Puszczyńska, die Filmproduzentin, die so international erfolgreiche Filme | |
| wie „Ida“ oder „Kalter Krieg“ produziert. | |
| Aber auch Jolanta Rudzka-Habisiak, die Rektorin der Akademie der Schönen | |
| Künste, Halina Zawadzka, die Eigentümerin des weltweit operierenden | |
| Textilunternehmens Hexeline, Bożena Ziemniewicz, die Eigentümerin der | |
| expandierenden Sprachschule British Centre und Tisa Żawrocka-Kwiatkowska, | |
| die Gründerin der Stiftung Gajusz, die sich um schwer behinderte Kinder und | |
| ihre Familien kümmert. | |
| ## Noch viel zu tun | |
| „Das ist ein erster Schritt zu einer öffentlichen Anerkennung“, kommentiert | |
| Ewa Kaminska-Buzalek die Preisverleihung. Sie ist Vorsitzende der Stiftung | |
| „Auf den Spuren der Frauen“. Im letzten Jahr initiierte sie die von der | |
| Stadt unterstützte Plakataktion an den Bushaltestellen von Lodz. | |
| „Normalerweise“, so die junge Aktivistin und Mutter, „bekommen erfolgreic… | |
| Frauen für ihre Leistungen weder Preise, Verdienstorden oder – nach ihrem | |
| Tod – ein Denkmal oder auch nur einen Straßennamen. Zumindest in Lodz war | |
| das so“. | |
| Das, erzählt Kaminska-Buzale weiter, soll sich jetzt endlich ändern: „Die | |
| Frauen sollen im Stadtbild so sichtbar werden, wie es die Männer schon | |
| sind.“ | |
| NaN NaN | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriele Lesser | |
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