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# taz.de -- Ein Minister stellt sich selbst ins Abseits: Der Mainstream ist jet…
> Verkehrsminister Scheuer und FDP-Chef Lindner stellen sich gegen den
> Klimaschutz. Wie einst die Grünen sind sie nun in der Minderheit.
Bild: Ins Abseits gesetzt: Verkehrsminister Scheuer agiert gegen den Mainstream…
Ohne die ganzen ungelösten Probleme der Zeit zu ignorieren, lässt die
aufgeregte Diskussion der letzten Tage über Mobilität (Stickoxide,
Tempolimit, Inlandsflüge) und ihre politische Instrumentalisierung doch
einen sehr positiven und bisher nicht thematisierten Schluss zu: Ökopolitik
ist jetzt politischer Mainstream, und ihre Kritiker heulen und schreien vom
Rand aus. Also genau umgekehrt wie früher.
Das lässt sich an den eingesetzten Instrumenten belegen. Konkret: Was
früher und vor allem in der Atomfrage die Umweltverbände und die Grünen
machten, machen jetzt Unions- und FDP-Politiker. Sie wenden eine Methodik
an, die Minderheiten in der Opposition benutzen, um sich gegen den
Mainstream Gehör zu verschaffen. Sie machen aus fachlichen Fragen der
Verkehrsregelung ideologische Grundsatzfragen, indem sie ständig den
Ideologievorwurf erheben. Sie laden kleine politische Detailfragen wie ein
Tempolimit auf Autobahnen zu letzten Fragen der Menschheit auf („Ende der
Freiheit“).
Sie stellen die Legitimität politischer Entscheidungen infrage. Sie
zweifeln wissenschaftliches Expertenwissen an. Sie greifen Gerichtsurteile
an, wenn es ihnen nicht in den Kram passt. Sie rufen – wie in Stuttgart –
zu Demonstrationen gegen Politik und Gerichte auf. Und wie früher die
Umweltminderheit hält die Diesel- und Tempo-Minderheit das für notwendigen
zivilen Ungehorsam, weil alles so schlimm läuft in diesem Land, dass
Widerstand eine notwendige Bürgertugend ist.
Zunächst einmal ist es in der Realität einer hoch regulierten Gesellschaft
nicht nachzuvollziehen, warum eine bestimmte Regulierung das Ende der
Freiheit bedeuten soll und nicht, sagen wir, die gesetzliche Festlegung der
Neigung von Dachgauben oder das Verbot, zu Hause Hanfpflanzen zu züchten.
## Scheuer und Lindner im Abseits
Vor allem aber: Der nationale, europäische und globale Mainstream hat in
Paris 2015 festgestellt, dass im Angesicht der fortschreitenden
Erderhitzung das Zeitalter des fossilen Wirtschaftens und Lebens zu Ende
sein muss, weil die Menschen sonst keine Zukunft haben. Daraus folgen, zum
Beispiel, rechtlich bindende gemeinsame Ziele auf EU-Ebene, denen
Deutschland im EU-Rat zugestimmt hat und die im Europäischen Parlament eine
Mehrheit bekommen haben.
Das beinhaltet unter anderem künftige Gesetzgebung für einen Ausstieg aus
dem fossilen Autoverkehr. Bei dieser Transformation ist ein Tempolimit nur
eine Petitesse. Völlig unspektakulär sind die geltenden Grenzwerte der
Luftreinhaltung. Es handelt es sich um langjähriges geltendes EU-Recht.
Wenn nun der deutsche [1][Verkehrsminister Scheuer (CSU)] so agiert, wie er
zuletzt agierte, dann stellt er sich außerhalb des Mainstreams. Des
politischen Mainstreams in Sachen Luftreinhaltung, des wissenschaftlichen
Mainstreams und des gesellschaftlichen Mainstreams. Das macht ihn genau wie
FDP-Chef Christian Lindner zu einem gesellschaftlichen Außenseiter.
Der Unterschied ist allerdings – und hier wird es problematisch: Lindner
ist ein derzeit irrelevanter Oppositionspolitiker, der um Aufmerksamkeit
kämpft. Scheuer aber ist ein dem Staat und seinen Bürgern verpflichteter
Minister, der sich gegen eine seit Jahren konsistente europäische Politik
stellt, aus dem Gefühl des Augenblicks heraus, dass das Politikprodukt
namens „einfache Antworten“ unter Berufung auf eine höhere Weisheit des
Volkes im Moment wachsende Nachfrage hat. Interessanterweise widerspricht
er so der langjährigen und erfolgreichen Philosophie der Volkspartei CSU.
Die ging mit dem Wind, wenn die gesellschaftlichen Mehrheiten kippten. Nun
ist das Volk anscheinend ökologischer als früher, nur hat der CSU-Minister
dafür die Antenne nicht.
So wird die Umarmung der Stickoxid-Ärzte zum Reinfall und auch beim
ökologisch aufgeklärten bayerischen Heimpublikum nicht gut ankommen: Wenn
man wie Scheuer suggeriert, dass der gesunde Menschenverstand mehr wiegt
als die von der Politik eingesetzten Wissenschaftler und dass man eben mal
so in Brüssel die Grenzwerte aussetzen kann, dann hat man ganz
offensichtlich eine Überdosis an Trumpisierung abgekriegt (linker
Populismus ist es in Scheuers Fall ja wohl eher nicht). Das ist für den
Ökomainstream weniger empörend, als viel mehr entspannend: Es zeugt von
inhaltlicher und politischer Schwäche.
## Sie hassen ihre Vernunft
Ein gern unterschätzter Aspekt der letzten Jahre war nämlich das
vernünftige Sprechen von Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin redet einfach
keinen Bullshit, und das hat ihre und unsere Zeit positiv geprägt. Deshalb
fiel auch der frühere CSU-Vorsitzende und derzeitige Innenminister Horst
Seehofer so auf – weil er sich der Merkel-Kultur des vernünftigen Sprechens
nicht anschließen wollte und quartalsmäßig im absurden Sprechen versumpfte.
Dieses wird bei uns Medien leider stark nachgefragt, weil uns zu viel
Vernunft als geschäftsschädigend gilt, und deshalb wird das Sprechen in
bestimmten Fällen desto mehr verstärkt, je absurder es ist. Bei der FAZ
kann man mittlerweile sogar einen veritablen Hass gegen Merkels Vernunft
herauslesen.
Will sagen: Die Bewegung Merkel-muss-weg enthält auch einen kräftigen
Schuss Vernunft-muss-weg – und das meint genau diese [2][wissenschaftlich,
realpolitisch] und europäisch orientierte Merkel-Vernunft. Selbst wenn
Scheuer sich nur als strategischer Amateur erweisen sollte, so steht er
doch für einen problematischen Politikertypus – einen, der in Opposition zu
sich selbst und seiner Funktion geht.
Der Bundesverkehrsminister – um das noch mal klarzumachen – wendet sich
nicht gegen einen Umweltverband, irgendwelche graubärtigen Altökos und auch
nicht gegen eine 20-Prozent-Partei namens die Grünen. Er wendet sich gegen
die eigene Bundesregierung und die eigenen politischen Ziele mitsamt
vereinbarter EU-Grenzwerte und nationaler Gesetze. Das beinahe Tragische:
um die Ressentiments einer gesellschaftlichen Minderheit zu bewirtschaften.
Um die gesellschaftliche Unterstützung für sozialökologische
Zukunftspolitik ist es nicht so schlecht bestellt, wie man manchmal denken
könnte. Die tollkühnen Außenseiteraktionen der Scheuers und Lindners haben
das gerade bewiesen. Aber dies ist ja, Gott sei Dank, eine freie
Gesellschaft: Man kann sich hier jederzeit gegen den Mainstream stellen –
aber dann steht man halt am Rand.
17 Feb 2019
## LINKS
[1] /Verkehrsminister-sagt-Termin-ab/!5567896
[2] /Kommentar-Stickoxid-und-Tempolimit/!5565178
## AUTOREN
Peter Unfried
Martin Unfried
## TAGS
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Schwerpunkt Klimawandel
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