# taz.de -- Nachruf auf Jonas Mekas: Alles immer wieder neu sehen | |
> Bekannt wurde der Filmemacher in der New Yorker Avantgardeszene der 60er. | |
> Die Gegenwart interessierte ihn bis zuletzt am meisten. | |
Bild: „Ich bin nicht nostalgisch, sondern realistisch“ | |
„Ich habe mein ganzes Leben daran gearbeitet, jung zu werden“. So lautet | |
die erste Zeile eines Gedichts von [1][Jonas Mekas]. Das letzte Wort ist | |
entscheidend: Es geht nicht darum, „jung zu bleiben“, sondern es geht um | |
die Arbeit, die Anstrengung und die Lust, die es bedeutet, jung und damit | |
offen zu werden und neugierig, und alles immer wieder neu sehen zu können; | |
darum, Sachen, die man kennt, nicht zu kennen oder wieder und noch einmal | |
kennenzulernen; darum, nicht alt zu werden mit all den Gefahren, die das | |
Älterwerden in sich birgt: den Irrglauben vor allem, man habe schon alles | |
gesehen, nichts werde sich ändern, die Menschen nicht und nicht die | |
Gesellschaft, aber auch die Gefahr der Nostalgie, die das Vergangene in ein | |
goldenes Licht stellt, das der Gegenwart fehlt. „Ich bin nicht nostalgisch, | |
sondern realistisch“: lakonischer Mekas-Satz in einem Interview aus dem | |
vergangenen Jahr. Der Verzicht darauf, alt zu sein: Das ist Jonas Mekas, | |
der jetzt mit 96 Jahren starb, bis zum Ende gelungen. | |
In die Wiege gelegt war ihm das Jungwerden nicht. Geboren wurde Mekas 1922 | |
als Bauernsohn in einem Dorf im Nordosten Litauens namens Semeniškiai (ein | |
Dorf, für das heute noch stolze 3 Bewohner verzeichnet sind), er verließ | |
das Land mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Adolfas im Jahr 1944 | |
Richtung Westen, der Zug wurde in Deutschland gestoppt, die beiden wurden | |
in ein Arbeitslager in Elmshorn gesteckt. | |
Sie flohen, versteckten sich, kamen nach dem Krieg in ein Lager für | |
„displaced persons“. Mekas blieb noch zwei Jahre in Deutschland, studierte | |
Philosophie in Mainz, emigrierte dann 1949 mit seinem Bruder in die USA, | |
landete in Williamsburg, Brooklyn, New York. „I had nowhere to go“ lautet | |
der Titel seiner erstmals 1991 veröffentlichten autobiografischen Notizen | |
aus dieser Zeit. (Der Künstler Douglas Gordon hat unter demselben Titel vor | |
zwei Jahren ein Filmporträt von Mekas gedreht.) | |
Und dann war er plötzlich haargenau da, wo er hingehörte, im New York | |
dieser Jahre. Es war die Zeit des Aufbruchs der Avantgarden, ein explosives | |
Jungwerden der Kunst und aller Künste, der Literatur, von Theater und Tanz, | |
von Architektur und Musik – und für Jonas Mekas besonders wichtig: des | |
Films. | |
All das hat Mekas aufgesogen, kennengelernt, gefördert, vor allem hat er | |
mitgemischt, wo es ging. War mit Allen Ginsberg unterwegs, ging in Andy | |
Warhols Factory ein und aus, bekam die Auftritte der Velvet Underground | |
mit, die Performances von John Cage, war mit Yoko Ono und John Lennon | |
befreundet. | |
Schon bald nach der Ankunft in New York kaufte er sich seine erste | |
16-mm-Bolex-Kamera und begann, sein eigenes Leben zu filmen, womit er dann | |
nie wieder aufgehört hat, später durchaus begeistert auch digital, nach Art | |
eines Tagebuchs, in dem alles wichtig ist, die kleinsten und die größeren | |
Dinge, alles wird notiert und irgendwann zusammenmontiert zu einem | |
kürzeren, längeren oder ganz langen Film, der keinen anderen als diesen | |
Zusammenhang hat, also das Leben; da kommen die Freundinnen und Freunde | |
drin vor, der Alltag, zu dem die Künstler und die Künste gehören, aber auch | |
das Banale. | |
„As I Was Moving Ahead, Occassionally I Saw Brief Glimpses of Beauty“ | |
lautet der sprechende Titel des vielleicht berühmtesten dieser | |
Tagebuchfilme, aus dem Jahr 2000, fast fünf Stunden lang, ein Jahrzehnte | |
umgreifendes Home-Movie-Epos, das Mekas wie gewohnt mit seinem ganz eigenen | |
trockenen Enthusiasmus kommentiert (und mit dem heftigen litauischen | |
Akzent, der immer blieb). Als „Filmemacher“ wollte Mekas dabei nie | |
bezeichnet werden: „Filmer“, befand er zu Recht, trifft die Sache viel | |
besser. | |
## Gegenwart in die Zukunft retten | |
Es gibt eine lebendige Szene von Filmern und Filmemachern und | |
Avantgardekinos im New York dieser Jahre, berühmt ist Amos Vogel, der in | |
seinem Cinema 16 Filme vorführt, die die Welt noch nicht gesehen hat. Mekas | |
ist mehr als begeistert, beginnt selbst zu kuratieren, dreht selber Filme | |
unterschiedlicher Art, nicht nur die Tagebuch-Sachen, sondern (heute eher | |
vergessene) experimentelle Fiction darunter. | |
Er macht mit anderen Filmemachern gemeinsame Sache und Sachen, sie gründen | |
die Film-Makers Cooperative mit dazugehöriger Cinemathèque; 1970 eröffnen | |
die Anthology Film Archives in der Bowery in Manhattan, bis heute ein | |
Zentrum der Film-Avantgarde, ein Kino mit laufendem Programm, ein Archiv, | |
ein Museum, für dessen Erweiterung („the Completion Project“) Mekas sich | |
bis zuletzt engagierte. | |
Zudem hat Mekas mit seinem Bruder und Mitstreiter Adolfas (der 2011 starb) | |
1954 die Filmzeitschrift Film Culture gegründet, noch einflussreicher waren | |
seine Filmkolumnen, mit denen er die Horizonte der Leserinnen und Leser der | |
Village Voice erweiterte. Die Neugier von Mekas kannte kein Ende. | |
Höchst lebendig war er noch in den letzten Jahren in aller Welt unterwegs, | |
etwa vor eineinhalb Jahren auf der Documenta, wo unter anderem seine | |
Nachkriegsfotografien aus den Lagern für Displaced Persons zu sehen waren. | |
Was von ihm bleiben würde, war Mekas egal. [2][Es war immer die Gegenwart, | |
die ihn interessierte]. Aber gerade dadurch hat er reichlich viel Gegenwart | |
in die Zukunft gerettet. | |
24 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Jonas-Mekas-im-Wiener-Filmmuseum/!5069716 | |
[2] /Avantgardefilmer-Mekas-ueber-Internet/!5171338 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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