# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Das Leben am Landwehrkanal | |
> Wann immer man am Berliner Kanal spazieren geht, kehrt man mit | |
> Erlebnissen zurück. Eine Geschichte vom tanzenden Storch am Ufer. | |
Bild: Ganz unabhängig von der Jahreszeit: Am Landwehrkanal ist immer was los | |
In Berlin gehe ich jeden Tag am Landwehrkanal entlang – ganz gleich, wie | |
das Wetter ist, egal ob es kalt oder warm ist, regnet oder schneit. Wenn | |
ich aus dem Haus hinaustrete, gehe ich immer am Kanal entlang. | |
Eines Tages verabredete ich mich mit einer Freundin in einer Kneipe zwei | |
Straßen entfernt vom Kanal. Zehn Minuten nachdem ich das Haus verlassen | |
hatte, merke ich, dass ich mich [1][auf der Admiralbrücke] befand und in | |
die falsche Richtung gelaufen war. Ich rief meine Freundin an, um sie über | |
meine zehnminütige Verspätung zu informieren. Wie immer machte ich die | |
Straßen dafür verantwortlich. | |
Am Landwehrkanal begegnen mir stets viele Berliner Obdachlose. Sie lächeln | |
mir zu, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Auch wenn ich ihnen anderswo in | |
Berlin begegne, blicken sie mich freundlich lächelnd an, als wollten sie | |
mir sagen: Ah, wir kennen uns doch! | |
## Gerade nochmal Glück gehabt | |
Eines Morgens ging ich joggen. Dabei erblickte ich einen von ihnen von | |
Weitem. Er stand direkt am Kanal und torkelte mit einer Weinflasche in der | |
Hand hin und her. Plötzlich hörte er auf zu schwanken. Ich atmete tief | |
durch und sagte mir: Zum Glück, beinahe wäre er ins Wasser gefallen. | |
Doch dieser Zustand hielt nicht lange an, denn er begann, abwechselnd von | |
einem auf das andere Bein zu treten. Er sah aus [2][wie ein tanzender | |
Storch am Ufer]. Ich beobachtete ihn eine Weile und wandte immer wieder | |
meinen Blick ab aus Furcht, er könnte ins Wasser fallen. Dann lief ich in | |
seine Richtung und wollte schon die Polizei rufen. Ich näherte mich ihm und | |
blieb dann stehen. Er hörte auf zu tanzen und machte eine halbe Umdrehung. | |
Dann stand er mit dem Gesicht zu mir und dem Rücken zum Kanal. Er bückte | |
sich ganz langsam, stellte die Flasche auf den Boden und richtete sich | |
wieder auf. | |
Ich fühlte mich beruhigt und dachte, er würde jetzt vielleicht weitergehen | |
und ich müsste die Polizei doch nicht rufen. Doch auf einmal schwankte er | |
nach hinten, sodass ich dachte, er würde jeden Augenblick rückwärts ins | |
Wasser fallen. Dabei sah er aus wie eine Holzlatte. Während er wieder nach | |
hinten schwankte, schrie ich laut: Stop! Ich habe keine Ahnung, wie er sein | |
Gleichgewicht halten und sich wieder gerade aufrichten konnte. Jedenfalls | |
lächelte er mich an und grüßte mich mit einem „Hallo“. Noch bevor ich | |
seinen Gruß erwidern konnte, sagte er: „Tschüs, Baby.“ Dann ging er weite… | |
während er ein Lied summte. Ich blieb wie versteinert am Kanal stehen und | |
schaute ihm nach, bis er aus meiner Sicht verschwand. Mein Herz raste. | |
An beiden [3][Ufern des Landwehrkanals] gibt es allerlei Dinge, über die | |
viel zu erzählen wäre. Jedes Mal, wenn ich spazieren oder joggen gehe, | |
kehre ich mit vielen Erlebnissen zurück. Diese klären mich über das Leben | |
in Berlin auf. Jedes Erlebnis könnte Dutzende Seiten füllen. | |
Übersetzung Mustafa Al-Slaiman | |
21 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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