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# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Wie konnte er noch am Leben sein?
> Im stillen Wald taucht plötzlich diese bekannte Stimme auf. Ein Traum?
> Kein Traum? Von der Gefahr zurückzublicken.
Bild: Unterwegs im dunklen Wald
Sie ging allein durch den Wald. Wolfsgeheul, dann Stille! Sie hatte keine
Angst, sondern betrachtete einfach die Finsternis. Plötzlich flog eine Eule
aus einem Baumwipfel. Eine vertraute Stimme drang aus dem Laub. Wenige
Meter weiter stieg der Weg etwas an und es erschien ein Grabmal. Sie ging
darauf zu, las den Namen, das Todesdatum. Er hatte keine Möglichkeit
gehabt, mich kennenzulernen, und ohne Bilder und Erzählungen hätte auch ich
keine Möglichkeit gehabt, etwas über ihn zu erfahren.
Sie spürte den Drang fortzugehen, doch bevor sie umkehrte, hörte sie eine
Stimme: Ich bin hier, mach mir auf. Sie blickte verzweifelt um sich, ging
noch ein paar Schritte auf das Grab zu, als die Stimme erneut rief: Mach
mir bitte auf, geliebte Tochter. Ich bin hier und ich will raus. Zitternd
und mit bloßen Händen begann sie, das Laub und die Erde wegzuräumen. Sie
spürte, wie ihre Finger bluteten und ihre Kleider voller Erde und Tränen
waren. Sie ertastete einen Holzsarg, der sich wie frisch gezimmert
anfühlte. Sie hielt einen Augenblick inne und dachte: Es kann doch nicht
sein, dass er noch am Leben ist. Laut sagte sie sich: Das ist doch Unsinn.
Du wirst nichts als verweste Überreste vorfinden. Du musst das Loch wieder
zuschütten und fortgehen.
Da flehte die Stimme sie an: Bitte, mach mir auf, dies ist kein Traum. Die
Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er wirklich noch lebte. Sie hob den
Sargdeckel, legte ihn zur Seite und rannte fort, ohne einen Blick in den
Sarg zu wagen. Sie versteckte sich hinter einem Baum und sah, wie er sich
erhob, den Körper in weiße Tücher gehüllt; sie konnte sein Gesicht nicht
sehen, bildete sich aber ein, dass es von Fäulnis bedeckt war.
Er stieg aus dem Sarg und lief zum Haus der Familie. Sie folgte ihm, blieb
vor der Tür stehen, und blickte ins Wohnzimmer. Dort saß er bei der Familie
und berichtete ihnen, wie es möglich gewesen war, all diese Jahre am Leben
zu bleiben. Er erzählte: Wir standen jeden Morgen auf und marschierten zu
einer grünen Wiese. Dort gab es reichlich zu essen, und anfangs aß ich
viel, bis ich nach wenigen Tagen feststellte, dass die, die viel aßen, viel
Schimmel im Gesicht ansetzten. Also beschloss ich, nichts mehr zu essen.
Die Zuhörer wollten nicht glauben, dass die Geschichte wahr war. Sie aber
fragte sich weiter: Wie konnte er zurückkehren, und wieso? Sie wollte es
gar nicht.
Sie lief weg von dem Haus, stieg in ein Taxi, nannte dem Fahrer die Adresse
ihrer Wohnung in Berlin und bat ihn, er möge schnell fahren. Sie blickte
kein einziges Mal zurück. Als das Taxi davonfuhr, sagte sie sich: Ich muss
aufstehen, bevor mein Vater meine Adresse erfährt.
Dieser Albtraum fiel mir heute Morgen wieder ein, als ich mich im Spiegel
betrachtete. Die Vergangenheit und die Erinnerungen holten mich ein und
ergriffen Besitz von mir. Die Familie, das Land, die Flucht aus Damaskus
und schließlich der Abschied von dem Freund, der mir sagte: Die Zukunft
liegt vor dir, schau bloß nie zurück.
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
19 Nov 2018
## AUTOREN
Keefah Deeb
## TAGS
Nachbarn
Syrische Flüchtlinge
Nachbarn
Landwehrkanal
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