# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Von der Graefestraße nach Damaskus | |
> Wenn ich in der Berliner Graefestraße bin, schaue ich in die Schaufenster | |
> des Hutmachers, freue mich über den Bücherturm und denke an Damaskus. | |
Bild: Wer weiß, wie viele Winter, Sommer, Schnee- und Sonnentage die Bücher s… | |
Jedes Mal, wenn ich in der Graefestraße in Berlin-Kreuzberg bin, kommt es | |
mir vor, als erlebte ich ein neues Kapitel eines Romans eines Autors mit | |
begnadeter Fantasie. Dabei bilde ich mir ein, ich wäre in diesen Autor | |
verliebt wegen seiner Gabe der genauen Beschreibung, mit der er jedes noch | |
so kleine Detail auf beiden Seiten der Straße festhält und schöne Bars | |
skizziert, in denen sich Menschen unterschiedlichster Nationen, Sprachen | |
und Bekleidung friedlich begegnen. | |
Einige dieser Bars [1][erinnern mich an Lokale in der Altstadt in | |
Damaskus], wo ich mich an Wochenendabenden regelmäßig mit Freunden traf. In | |
der Graefestraße war ich abends noch nie in einer dieser Bars, obwohl sie | |
mir gut gefallen. Ich bin einfach nicht mehr in der Stimmung wie früher in | |
Damaskus. Ich verbringe meine Abende lieber gemütlich mit einer Handvoll | |
Freunden zu Hause. | |
In der Graefestraße gibt es eine kleine, aus allen Nähten platzende | |
Buchhandlung. Im Schaufenster grüßt eine niedliche Eule aus Holz; ich nenne | |
sie die Hüterin der Bücher. Auf dem Bürgersteig vor der Buchhandlung türmen | |
sich haufenweise alte Bücher. Wer weiß, wie viele Winter, Sommer, Schnee-, | |
Wind- und Sonnentage sie schon erlebt haben? Einige sind leider von | |
Schimmel befallen, trotzen dennoch standhaft ihrem Schicksal. Sie werden | |
von keiner Leserhand angerührt, doch sie strahlen Freude aus und regen die | |
Fantasie an. | |
## Geschichten vom Hutmacher | |
Auf beiden Straßenseiten gibt es Bekleidungsgeschäfte, in deren kleinen | |
Schaufenstern Kleidung ausgestellt wird. Anders als große Geschäfte bieten | |
diese oftmals Unikate an, haben zwar weniger, dafür aber individuellere | |
Kunden und sind etwas ausgefalleneres. | |
Die Restaurants [2][in der Graefestraße] bieten hauptsächlich | |
asiatische-nahöstliche und teils westliche Küche an – jedes mit seiner | |
persönlichen Note. Doch alle strahlen sie eine freundliche, warme | |
Atmosphäre aus. | |
In der Graefestraße gibt es auch einen Hutmacher. Ich weiß nicht, wie oft | |
ich das Schaufenster dieses Geschäfts schon fotografiert habe. Mich | |
faszinieren die Hüte im Schaufenster, die saisonal ausgewechselt werden. Es | |
erinnert mich an ein Hutmachergeschäft in Damaskus. Der Besitzer war ein | |
älterer Herr, dessen Namen ich nie wusste. Er erzählte mir damals | |
ausführlich über seinem Beruf, den er von seinem Vater gelernt hatte und | |
der eine Familientradition war. Damals dachte ich, er und seine Familie | |
müssten eigentlich „Hutmacher“ heißen, denn einst wurden die Damaszener | |
Familien nach ihren Berufen benannt. | |
In der Graefestraße bleibe ich stets wie gebannt vor den vor den | |
vielfältigen Schaufensterauslagen stehen. Immer wieder bin ich versucht, | |
sie mit Damaskus zu vergleichen. In der Graefestraße entsteht bei mir ein | |
neues Gedächtnisareal, das mein Damaszener Gedächtnis neu formiert und es | |
damit wachhält. | |
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
3 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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