| # taz.de -- Kommentar Politik und Individuum: Das Politische ist privatisiert | |
| > Die deutsche Gesellschaft hat sich mit der Agenda 2010 zu einem Regime | |
| > der Eigenverantwortung entwickelt. Dagegen hilft nur ein starkes Wir. | |
| Bild: Ohne Ich gibt es keine Gemeinschaft – aber ohne Wir keine Gesellschaft | |
| Das Private ist politisch. Das ist heute kein Slogan mehr, sondern eine | |
| Tautologie. Es müsste vielmehr heißen: Das Politische ist privatisiert. | |
| Zwar wird immer noch demonstriert oder im Gespräch mit der Nachbarin über | |
| „die da oben“ geschimpft. Aber die Menschen sind gefangen in der | |
| Vorstellung, auf sich allein gestellt zu sein. | |
| Das Politische scheint sich kaum mehr herauszutrauen aus den Ichs. Ich | |
| merke das an den Gesprächen, die ich im Bekanntenkreis über das Thema | |
| Broterwerb führe. Ob LehrerInnen, Hartz-IVlerInnen, MusikerInnen, | |
| HandwerkerInnen oder Angestellte – allen ist gemeinsam, dass sie sich zwar | |
| über Bezahlung, prekäre Bedingungen oder Stress im Job beschweren, das | |
| alles aber gleichzeitig irgendwie hinzunehmen scheinen. Die Verzweiflung | |
| wird oft zynisch weggelächelt oder man gibt sich selbst die Schuld. Selten | |
| wird die persönliche Misere als Indikator für den Zustand der Gesellschaft | |
| verstanden. | |
| Dabei hatte doch der anfangs zitierte 68er-Aphorismus dazu beitragen | |
| wollen, die Probleme des Individuums mit der Gesellschaft zu verschalten. | |
| Die größte Errungenschaft dieser Bewegung war es, die Gesellschaft als | |
| Kategorie ins Bewusstsein zu holen und den verrückten, abweichenden, | |
| sexuell befreiten Menschen nicht als Solitär, sondern als ein mit anderen | |
| verbundenes Wesen zu verstehen. | |
| Dieser Gedanke aber scheint immer weniger anschlussfähig. Die | |
| Nachkriegsgesellschaft war auf Disziplin gebaut – lange Haare unter Männern | |
| oder außereheliche Beziehungen galten mindestens als verdächtig. Aus diesem | |
| Korsett befreiten sich die 68er. Heute können wir zwar so rumlaufen, wie | |
| wir wollen. Gleichzeitig aber herrscht die Vorstellung, dass wir uns vor | |
| allem um unser eigenes Selbst kümmern, wir selbst sein sollen. Wir leben in | |
| einer Welt, für die der Satz Margaret Thatchers immer noch gilt: „Es gibt | |
| keine Gesellschaft, nur Individuen.“ | |
| ## Wettbewerbskultur, die Individualismus produziert | |
| Die deutsche Gesellschaft hat sich spätestens seit der Agenda 2010 mit | |
| ihren Kernzielen Senkung der Lohnnebenkosten, Flexibilisierung der Arbeit, | |
| massive Kürzung staatlicher Leistungen in ein Regime der individuellen | |
| Autonomie, persönlichen Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung | |
| entwickelt. Wir sind immer mehr auf uns selbst zurückgeworfen. | |
| Das klingt abstrakt, wird aber konkret im Job, in der Kultur, der | |
| Gesundheit oder beim Konsum sichtbar. Die meisten Jobs etwa sind heute | |
| flexibel, beruhen auf Zeitarbeit oder Teilzeitstellen. Nach der | |
| „neoliberalen“ Deregulierung sollen Menschen möglichst ihre eigenen Chefs | |
| sein, um mit anderen zu konkurrieren, sei es innerhalb oder außerhalb des | |
| Jobs. Und indem für die meisten, nicht auf Ämtern arbeitenden Menschen | |
| Arbeit und Freizeit kaum zu trennen sind, wird das, was außerhalb der | |
| Arbeit erledigt wird, zum Vermögenswert. | |
| War die Hinwendung zum Eigenen mal ein Versprechen auf Selbstbefreiung, ist | |
| es heute geradezu ein Muss, sich selbst zu sein. Die Sozialen Medien machen | |
| uns zu hypernervösen Kuratoren der eigenen Identität – immer auf der Suche | |
| nach der effektivsten Ego-Bildpolitik, sei es, wenn wir Fotos der eigenen | |
| Cupcakes, des Covers des neuen Lieblingsromans oder des eigenen, vor Palmen | |
| posenden Gesichts hochladen. | |
| Jener Individualismus ist mehr als ein Kollateralschaden aus den Konflikten | |
| der wilden Siebziger, er ist auch die perfekte Voraussetzung für eine | |
| Umwelt, die davon profitiert, dass Menschen sich als Einzelkämpfer | |
| verstehen. Das spiegelt sich wiederum in einer Wettbewerbskultur, die einen | |
| neurotischen Individualismus produziert. All die Kunst-, Musik- oder | |
| Förderpreise, die Mitarbeiter-der-Woche-Auszeichnungen bei Starbucks, Obi | |
| und Co. oder Fernsehshows wie „DSDS“ oder „Kochduell“ mögen vergleichs… | |
| harmlos wirken, erzeugen aber ein ständiges Konkurrenzgefühl. | |
| ## Ein Ich, das sich um sich selbst dreht | |
| Das Politische wird damit weniger zur Frage des Ichs, das sich zum Wir | |
| öffnet, sondern eine des Ichs, das sich um sich selbst dreht. So könnte in | |
| der Privatisierung des Politischen auch eine der Ursachen dafür liegen, | |
| dass sich große Teile der Bevölkerung nicht mehr „angesprochen“ fühlen o… | |
| sie aus Frust antiliberale rechtspopulistische Parteien wählen. | |
| Das Wir wird entweder ignoriert, weil es nicht zum eigenen Stil, Geschmack | |
| oder der politischen Einstellung passt, oder gar abgelehnt, weil es nicht | |
| zur eigenen „Nationalität“ oder „Ethnie“ passt. Während Erstere ihre | |
| Vereinzelung in kleinen Zellen der kulturellen Distinktion genießen, ist | |
| für Letztere derart kulturelles Gehabe ein Zeichen einer „linksversifften“, | |
| bioessenden Elite, die es genauso wie vermeintliche Eindringlinge in ihr | |
| Territorium abzulehnen gilt. | |
| Gewiefte Demagogen haben dieses Wir-Vakuum erkannt und arbeiten emsig | |
| daran, die individuell erfahrene Ohnmacht in kollektive, fremdenfeindliche | |
| Machtfantasien zu bündeln. Dass dies in einer Zeit passiert, in der | |
| Öffentlichkeit als Raum, der verhindert, dass Menschen „gleichsam über- und | |
| ineinanderfallen“, wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb, einer | |
| zunehmenden Erosion öffentlicher Institutionen zum Opfer fällt, scheint | |
| nicht zu verwundern. Denn die Öffentlichkeit kommt heute eher zu uns als | |
| wir zu ihr. Wir sitzen zwar alleine am Schreibtisch, sind aber zugleich | |
| „connectet“. | |
| Jenes vernetzte Einsiedlertum zeigt sich auch in einem | |
| auseinanderdriftenden Alltagswissen. Stehen in Zeitungen als Organ | |
| politischer Willensbildung noch relativ ähnliche Inhalte über den | |
| Ist-Zustand der Welt, sehen die Timelines, sortiert nach politischer | |
| Gesinnung, Status und kulturellen Interessen, alle unterschiedlich aus. | |
| ## Die Filterblasen liefern allen die passenden Erklärungen | |
| Auf kuriose Weise hat sich das bei den [1][Demos der Gelbwesten in Paris] | |
| gezeigt. Dort haben sich Millionen Menschen aus ihrer Vereinzelung bewegt, | |
| doch eint sie oft nicht mehr als das Symbol, das sie tragen. Es gibt unter | |
| ihnen Rechte wie Linke, Abgehängte wie Mittelständler, die gegen zu hohe | |
| Benzinpreise oder die Arroganz der politischen Elite protestieren. Aufrufe | |
| auf Facebook haben sie mobilisiert, doch ihre Begründungen sind sehr | |
| unterschiedlich, weil die Filterblasen allen die passenden Erklärungen | |
| liefern. | |
| Und jetzt? Um das Politische wieder zu sozialisieren, wäre viel gewonnen, | |
| wenn die neoliberale Fiktion überwunden werden würde, nach der wir auf uns | |
| alleine gestellt sind. Menschen sind keine atomisierten, sondern | |
| molekulare, also miteinander verbundene Wesen. Dazu gehört auch | |
| anzuerkennen, dass die Welt gemacht, kaum noch Wälder ohne menschliches | |
| Zutun gewachsen – und keine Demokratie entstanden ist, ohne ein Bewusstsein | |
| über die eigenen Stärken, vor allem aber auch Schwächen. | |
| Anknüpfen ließe sich dort, wo zuletzt ein neues demokratisches Wir sichtbar | |
| wurde, bei den Demonstrationen gegen Nazis in Chemnitz ([2][„Wir sind | |
| mehr“]) oder in Berlin ([3][„Unteilbar“]). Zudem könnte die Klassenfrage | |
| wiederbelebt werden, liegt doch gerade hier ein Zusammenhang, den zu | |
| knüpfen eine der wichtigsten Aufgaben einer inklusiven, antifaschistischen, | |
| emanzipatorischen Politik ist. | |
| Es ist ja gerade die Neue Rechte, die jenes Vakuum eines Wir-Zusammenhangs | |
| für sich zu nutzen weiß, während vermeintlich positive Ansätze wie die | |
| Sammlungsbewegung zwar die Klassenfrage stellt, diese aber mit der | |
| Identitätsfrage ausspielt, als würde die Stärkung von Minderheiten, also | |
| Differenzen, einer Mehrheit schaden – und ihr nicht einfach zugute kommen, | |
| als Zeichen einer Menschheit, die radikale Unterschiede und | |
| Mehrdeutigkeiten aushält. | |
| ## Zu oft Unterschiede, zu selten Gemeinsamkeiten | |
| Dennoch werden zu oft Unterschiede und zu selten Gemeinsamkeiten betont. | |
| Großes Potenzial birgt neben der Klassen- auch die Mietfrage, die in | |
| Großstädten zur existenziellen Bedrohung wird. Eine geflüchtete Familie, | |
| eine transsexuelle Bäckerin und ein alleinstehender Oberstudienrat, die | |
| zusammen in einem Mietshaus wohnen, haben mehr gemeinsam als sie trennt. | |
| Hier könnte das alte, eigentlich nichtliberale Phänomen der Solidarität | |
| helfen. | |
| Vorsicht ist hier nur vor bestimmten Formen von Wir geboten. Wenn sich das | |
| Ich aber wieder mehr zum Wir öffnen soll, muss es wissen, dass die | |
| Ablehnung eines Wirs teilweise aus „guten“ (neurechten) und teilweise | |
| „schlechten“ (marktradikalen) Gründen erfolgt ist. Sind es doch gerade | |
| Parteien wie die AfD, denen es gelungen ist, aus der individuellen Ohnmacht | |
| kollektive Machtfantasien zu basteln, während es neoliberale Aspekte sind, | |
| für die ein allzu stark ausgeprägtes Wir, etwa Betriebsräte oder | |
| Gewerkschaften, nur hinderlich sind. | |
| Um diesen blinden Fleck zu überbrücken, benötigt es beides: ein Subjekt, | |
| das das eigene Leiden zum Maßstab für die Bewertung der Umwelt nimmt und | |
| sich zugleich als Teil eines großen Ganzen sieht, das niemanden | |
| ausschließt. | |
| Ohne Ich gibt es keine Gemeinschaft, aber ohne Wir keine Gesellschaft. | |
| 6 Jan 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Wortfuehrer-der-Gelbwesten-in-Paris/!5560148 | |
| [2] /Chemnitzer-Konzert-der-Solidaritaet/!5530015 | |
| [3] /Demonstration-gegen-Rassismus/!5540470 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
| ## TAGS | |
| Individualismus | |
| Solidarität | |
| Agenda 2010 | |
| Neoliberalismus | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Mithulogie | |
| #Unteilbar | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rückblick auf Berlin 2018: Mehr Bewegung in der Stadt | |
| „Unteilbar“ war der Höhepunkt. Doch auch die Teilnehmerzahlen anderer Demos | |
| für die gute Sache in Berlin steigen. | |
| Kolumne Mithulogie: Liebe ist schöner als Kapitalismus | |
| Darf ich nur mit Menschen kooperieren, denen ich nie widerspreche? Nein, | |
| wir müssen Probleme gemeinsam lösen und dabei solidarisch sein. | |
| Kolumne Minority Report: „Unteilbar“, überall, jeden Tag | |
| Mit den chronischen Brandstiftern zu sprechen, hat keinen Sinn. Lasst uns | |
| lieber nach der großartigen Demo die Energie in unseren Alltag tragen! |