| # taz.de -- Wissenschaft und Nachhaltigkeit: Sozial-Ökologie auf Erfolgskurs | |
| > Die sozial-ökologische Forschung ist auch in der etablierten Wissenschaft | |
| > angekommen. Das zeigt die Bilanz der letzten 20 Jahre. | |
| Bild: Freiwillige pflanzen einen kleinen Eichenbaum ein | |
| Berlin taz | Vor 20 Jahren gab es zwar keine Wende, aber einen kleinen | |
| Aufbruch in der deutschen Forschungspolitik. Unter der ersten rot-grünen | |
| Bundesregierung wurde die Tür zu den unabhängigen, aus der Umweltbewegung | |
| entstandenen Forschungsinstituten geöffnet und das Programm der | |
| „Sozial-Ökologischen Forschung“ (SÖF) geboren. Seitdem sind aus dem | |
| Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über 350 Millionen Euro | |
| in Forschungsprojekte der Nachhaltigkeit geflossen, die sich mit der | |
| Wechselwirkung von Gesellschaft und Umwelt beschäftigen. Derzeit wird im | |
| Ministerium die nächste Phase des SÖF-Programms vorbereitet. Forschung für | |
| eine spezialisierte Nische oder doch mit einer inzwischen erkennbaren | |
| Breitenwirkung? | |
| „So schmeckt die Zukunft“ – Wer heute die Broschüre des BMBF über die | |
| Projekte der „sozial-ökologischen Agrar- und Ernährungsforschung“ aus dem | |
| Jahre 2004 in die Hand nimmt, der kann angesichts gegenwärtigen Stillstands | |
| in der Agrarwende oder gesellschaftlichen Konsumgewohnheiten wie dem hohen | |
| Fleischverzehr doch ins Schlucken kommen. „Der Wissenschaft kommt die | |
| Aufgabe zu“, schrieb damals Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn | |
| (SPD) im Vorwort, „Umweltbelastungen durch Lebensmittel-Produktion und | |
| -Konsum zu erkennen, zu messen, Hemmnisse für eine Agrarwende aufzuzeigen | |
| und zukunftsfähige Lösungsstrategien zu entwickeln“. | |
| Hat die Wissenschaft diese Aufgabe erfüllt? Zeit genug war ja, stammt doch | |
| der Auftrag aus einer Ära, in der es zum Beispiel noch kein Smartphone gab | |
| – und wie fundamental haben sich die Verhältnisse der Digitalwelt binner | |
| weniger Jahre verändert. | |
| Wie hoch ist der Anteil der Lebensmittel, die in Deutschland unverzehrt auf | |
| dem Müll landen, wurden im September die Teilnehmer des | |
| BMBF-Agenda-Kongresses in Kassel gefragt, der über das neue | |
| SÖF-Forschungsprogramm beriet. 70 Prozent wussten die richtige Antwort: ein | |
| Drittel. Das heißt auf 18 Millionen Tonnen jährlich beläuft sich die | |
| Lebensmittelverschwendung hierzulande. Wissenschaft hat diesen fatalen | |
| Trend noch nicht drehen können. Immerhin gibt es einige Pilotprojekte (z. | |
| B. „Nahgast“ für ökologisches Kantinenessen), die daran arbeiten. Doch die | |
| Effekte sind noch nicht in der Breite angekommen. | |
| Thomas Jahn, Leiter des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE), | |
| in Frankfurt am Main, und einer der Vordenker des Wissenschaftsfeldes, | |
| lässt die Kritik zumindest teilweise gelten. Es gebe in der SÖF-Community | |
| den „Wunsch nach einer größeren Resonanz und Wirksamkeit in der Breite“, | |
| räumt er in seinem Rückblick auf die Bewegung der letzten 20 Jahre ein. | |
| ## Stärkere Zuspitzung gefordert | |
| Auch werde eine „stärkere Zuspitzung der sozial-ökologischen Forschung auf | |
| die schwierig zu lösenden Problemlagen und die konfliktbehafteten | |
| Transformationsprozesse“ gefordert. Aber von einer Erfolglosigkeit der SÖF | |
| kann aus Jahns Sicht nicht gesprochen werden. Im Gegenteil. Vor allem | |
| innerhalb des Wissenschaftssystems falle die Wirkung über Erwarten groß | |
| aus. | |
| Die Entwicklung der Sozial-Ökologischen Forschung in Deutschland gliedert | |
| Jahn in drei Phasen. Zentrales Datum für die erste Stufe war der 4. April | |
| 1998, als im Deutschen Bundestag das „Programm zur Förderung | |
| nichtstaatlicher Forschungsinstitute in der interdisziplinären | |
| Umweltforschung“ beschlossen wurde. Das zentrale Anliegen war damals, den | |
| nichtstaalichen Instituten eine „Grundanerkennung zu verschaffen“. Zu ihnen | |
| zählen neben dem ISOE unter anderem das Öko-Institut in Freiburg, das | |
| Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin und das Institut | |
| für Energie- und Umweltforschung (IFEU) in Heidelberg. | |
| Eine Evaluierung 2005 schloss diese Phase ab. Es folgte die „Öffnung in | |
| andere Sektoren der Wissenschaftslandschaft“, die erste Agenda-Konferenz | |
| zur offenen Gestaltung des Forschungsprogramms und die Formulierung des | |
| „Memorandums zur sozial-ökologischen Forschung“ im März 2012, dessen | |
| Grundaussagen nach Worten Jahns „bis heute Bestand haben“. | |
| Die dritte SÖF-Phase bekam mit dem BMBF-Wissenschaftsjahr für | |
| Nachhaltigkeit „Zukunft der Erde“ einen kräftigen Anschub und war zugleich | |
| inhaltlich von einer heftigen Debatte über die Ziele einer „Transformativen | |
| Wissenschaft“ gekennzeichnet. Die konträren Positionen wurden damals von | |
| Uwe Schneidewind von Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie auf Seiten | |
| der Veränderer und Peter Strohschneider, Chef der mächtigen Deutschen | |
| Forschungsgemeinschaft (DFG) als „Lordsiegelbewahrer“ der etablierten | |
| Exzellenz-Wissenschaft verkörpert. | |
| ## Zivilgesellschaft einbeziehen | |
| Hinzu kamen in der Forschungspraxis die ersten Probeläufe von „Reallaboren“ | |
| in Baden-Württemberg, in denen auch die Zivilgesellschaft in | |
| wissenschaftliche Feldstudien einbezogen wurde. Sowie auch neue globale | |
| Rahmungen, etwa die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) der Vereinten | |
| Nationen 2015 oder das Forschungsparadigma der „Planetaren | |
| Belastungsgrenzen“ des Stockholmer Umweltforschers Johan Rockström, der in | |
| diesem Jahr an die Spitze des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung | |
| (PIK) gewechselt ist. | |
| „Wenn man auf die 20 Jahre zurückschaut, was da alles zusammengekommen ist, | |
| so ist das ziemlich einzigartig“, urteilt Thomas Jahn heute. Für die | |
| nächsten sieben Jahre, also für die vierte Phase und darüber hinaus, | |
| wünscht er sich für die sozial-ökologische Forschung, dass sie ihr | |
| „Wirkungspotential, das in den zurückliegenden Jahren aufgebaut wurde, in | |
| voller Kraft entfaltet“. Sie solle sich auch stärker auf die kritischen, | |
| bereits in den Ursachen und nicht erst in den Zielstellungen | |
| konfliktbehafteten Problemlagen und Themen konzentrieren. | |
| Rockström sprach in seiner Eröffnungsrede in Kassel von | |
| „sozial-ökologischen Tipping Points“, die für die nachhaltige Entwicklung | |
| unbedingt zu berücksichtigen sind, weil es bei ihrem Überschreiten „kein | |
| Zurück“ mehr gibt. Tatsächlich nahm die Kasseler Agenda-Konferenz erstmals | |
| auch sozialwissenschaftliche Fragestellungen mit demokratiepolitischer | |
| Relevanz – etwa Entstehung und Gegenmaßnahmen zum Populismus – ins künfti… | |
| SÖF-Programm auf. | |
| ## Anthropozänforschung und Digitalisierung | |
| Die aus der SÖF angestoßenen interdisziplinären Verknüpfungen von | |
| Forschungsfeldern, die bisher streng auf Abgrenzung achteten, treffen | |
| inzwischen auch in anderen Bereichen des Wissenschaftssystems auf Resonanz. | |
| So haben Forscher der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) vor wenigen Wochen ein | |
| bemerkenswertes Konzept vorgestellt, das die globale Sicht der | |
| Anthropozänforschung mit dem Megatrend der Digitalisierung verknüpft. | |
| Die Forscher, zu denen unter anderem der Berliner Wissenschaftshistoriker | |
| Jürgen Renn zählt, umreißen das neue Fachgebiet der „Geo-Anthropologie“, | |
| das nicht nur die aktuelle Dynamik der „Großen Transformation“ historisch | |
| besser erklärt, sondern auch zukunftsgerichtet für globale „Tipping Points�… | |
| der Digitalisierung sensibilisiert. Sozial-ökologische Forschung ist | |
| erkennbar auch auf dem Olymp der MPG angekommen. | |
| Der nächste Schritt dort wäre konsequenterweise die Gründung einer neuen | |
| Forschungsstätte nach dem Muster des „Max-Planck-Institut zur Erforschung | |
| der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“, das 1970 für | |
| den Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg | |
| eingerichtet wurde. | |
| Wie die sozial-ökologische Forschung und Transformation besser in die | |
| Gesellschaft kommuniziert werden kann, ist im kommenden Monat Thema einer | |
| Tagung, die das ISOE mit der Schader-Stiftung im Rahmen der „Darmstädter | |
| Tage der Transformation“ veranstaltet. | |
| 23 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Manfred Ronzheimer | |
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