# taz.de -- Studie zur digitalen Technik: Nachhaltige Perspektiven | |
> Ein neues Gutachten liefert der Bundesregierung die Grundlagen für eine | |
> „digitale Nachhaltigkeit“ unter neuen Bedingungen. | |
Bild: Bundesverkehrsminister Scheuer und Staatsministerin für Digitalisierung … | |
Seinen Studien gibt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung | |
Globale Umweltveränderungen (WBGU) gerne prägnante Titel, ohne Scheu vor | |
Dubletten. Das wegweisende Gutachten „Gesellschaftsvertrag für eine Große | |
Transformation“ (2011) mit der Vision einer nachhaltigen Gesellschaft | |
lehnte sich an den Begriff Große Transformation des Ökonomen Karl Polanyi | |
an, der in der 40er Jahren den Übergang von der feudalen Agrar- zur | |
modernen Industriegesellschaft beschrieben hatte. Die neue Studie „Unsere | |
gemeinsame digitale Zukunft“ aktualisiert den Titel des Brundtland-Berichts | |
vom 1987 („Unsere gemeinsame Zukunft“), der den Übergang vom Umweltschutz | |
zur globalen Nachhaltigkeitspolitik markierte. | |
Einen vergleichbaren Schritt in Richtung einer neuen Ebene planetarer | |
Problembeschreibung und Lösungsorientierung hat das jüngste | |
WBGU-Hauptgutachten im Sinn: Die nachhaltige Transformation des heutigen | |
Wirtschaftssystems und gesellschaftlicher Konsummuster wird mit der | |
digitalen Transformation gekoppelt. Ziel ist, die Digitalisierung in den | |
„Dienst der nachhaltigen Entwicklung“ zu stellen. Am Donnerstag wurde die | |
Studie von der WBGU-Vorsitzenden Sabine Schlacke und Mitautorin Ina | |
Schieferdecker in Berlin an die Bundesministerin für Bildung und Forschung | |
Anja Karliczek und an die Bundesumweltministerin Svenja Schulze übergeben. | |
Für den neunköpfigen Expertenbeirat, der seit 1992 qua Amt auf die großen | |
ökologischen Entwicklungen schaut, zuletzt mit Studien zu Problemen der | |
Weltmeere und zum Wachstum großer Städte, war das Digitalthema zunächst | |
Neuland. | |
Überhaupt hatte in der Nachhaltigkeitscommunity bis vor wenigen Jahren der | |
Trend zu Digitalisierung, vernetzter Informationstechnik und künstlicher | |
Intelligenz keine bedeutende Rolle gespielt. Sogar in den 17 Zielen der | |
Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung von 2015 kommt die | |
Digitalwelt nur am Rande vor. | |
## Digitale Umbrüche | |
Das hat sich inzwischen fundamental geändert. Den Umweltwissenschaftlern | |
ist zum einen klar geworden, dass sich der Natur- und Ressourcenverbrauch | |
mit der jetzigen Form der Digitalisierung nur weiter verschärft und die | |
„planetaren Grenzen“ überschritten werden, schlimmstenfalls bis zum | |
Erreichen von „Kipp-Punkten“, die Klima und Ökosysteme auf Dauer | |
beschädigen. | |
„Nur wenn es gelingt, die digitalen Umbrüche in Richtung Nachhaltigkeit | |
auszurichten, kann die Nachhaltigkeitstransformation gelingen. | |
Digitalisierung droht ansonsten als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern | |
zu wirken, die die planetarischen Leitplanken durchbrechen“, warnt die | |
Studie. | |
Zum anderen – so die positive Grundbotschaft – böte ein anderer Einsatz der | |
digitalen Techniken die Chance, vorhandene Umweltbelastungen zu reduzieren | |
oder zu vermeiden. „Beispiele sind die Förderung der Energiewende durch | |
Einsatz intelligenter Energienetze, die Senkung des Fahrzeugaufkommens in | |
Städten durch geteilte Mobilität, die den Besitz eines Pkw überflüssig | |
macht, und die Nutzung digitaler Technologien für die Kreislaufwirtschaft“, | |
heißt es in dem Bericht. | |
Das mündet in eine der zentralen Thesen des Gutachtens: „Nur wenn der | |
digitale Wandel und die Transformation zur Nachhaltigkeit synchronisiert | |
werden, kann es gelingen, Klima- und Erdsystemschutz sowie soziale | |
Fortschritte menschlicher Entwicklung voranzubringen.“ Dazu werden eine | |
Reihe konkreter Vorschläge an die Politik gemacht. | |
## Mensch-Maschinen-Interaktion | |
Aber der WBGU ist bei dieser Ausbalancierung von Mensch und Natur nicht | |
stehen geblieben, sondern er hat sich zwei weitere Betrachtungsebenen | |
vorgenommen und ist zu beachtenswerten Schlussfolgerungen gelangt. So wurde | |
die Frage vertieft, welche Umbrüche die Digitalisierung in der Gesellschaft | |
nach sich zieht: vom radikalen Strukturwandel in der Wirtschaft mit Folgen | |
für die Arbeitsplätze über den „Ersatz realweltlicher Erfahrungen in | |
virtuellen Räumen“ und „die vielfältigen Wirkungen von künstlicher | |
Intelligenz auf Bildung, Wissenschaft, Demokratie“ bis hin zu | |
Überwachungstechnologien und Social Scoring. | |
Schließlich wurden auch solche Umbrüche in den Blick genommen, die sich | |
langfristig abzeichnen, am gravierendsten unter anderem die aus der | |
Mensch-Maschine-Interaktion hervorgehenden „Risiken für die menschliche | |
Integrität“. Im Einsatz von Neurodaten und Neuroprothesen, durch die der | |
Mensch mit Rechner und Roboter verschmelzen kann, sieht der Beirat | |
Digitalanwendungen, „bei denen ethische Aspekte bislang unzureichend | |
berücksichtigt werden“. Daher fordert der WBGU: „Im Zeitalter der | |
Digitalisierung gilt es, unser Verständnis von „menschlicher Entwicklung“ | |
neu zu bestimmen“. | |
Die Rückwirkungen von Digitalisierung auf die Menschen werden massiv sein. | |
„Kompass für die Veränderungen ist dabei die Bewahrung menschlicher Würde�… | |
sagt Mitautor Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für | |
Klima, Umwelt, Energie. „Sie ist im Gutachten der Fluchtpunkt einer | |
ökologischen und sozial gerechten Welt, die ausreichend Räume für | |
individuelle Entfaltung lässt.“ | |
Schon in früheren Gutachten hat der WBGU in diesem Zusammenhang ein | |
einfaches Orientierungssystem („normativer Kompass“) entwickelt, das die | |
Systeme Gesellschaft und Natur verknüpft. Zentrale Kriterien waren bisher | |
„Teilhabe“, „Eigenart“ und „Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlag… | |
Neu hinzugekommen ist jetzt die unabdingbare Kategorie „Würde“. | |
In seinen Empfehlungen, die der Beirat aus seiner Analyse ableitet, werden | |
zwei bevorstehende politische Anlässe besonders hervorgehoben. Erstens | |
könnte die Bundesregierung, wenn Deutschland 2020 für ein halbes Jahr die | |
EU-Ratspräsidentschaft innehat, an einer europäischen Vision arbeiten „und | |
nachhaltige Entwicklung als Leitbild für europäische | |
Digitalisierungspolitiken verankern“, schlägt der Beirat vor. Eine | |
derartige EU-Strategie für Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter könnte | |
Möglichkeiten eröffnen, „neue Anreize und Standards mit internationaler | |
Strahlkraft zu verankern“. Auch für die Entwicklung der künstlichen | |
Intelligenz wird derzeit die Option eines „dritten europäischen Wegs“ | |
neben dem kapitalistischen Ansatz der USA und dem Zentralstaatsmodell China | |
diskutiert. | |
Zweitens wird vorgeschlagen, dass sich Deutschland und die EU zur Umsetzung | |
der UN-Agenda 2030 für einen UN-Gipfel zum Thema Digitalisierung und | |
Nachhaltigkeit engagieren sollten, der im Jahr 2022 – dann 30 Jahre nach | |
dem Erdgipfel in Rio – stattfinden könnte. „Ein zentrales Ergebnis könnte | |
eine Charta sein, in der die für nachhaltige Gestaltung des digitalen | |
Zeitalters grundlegenden Themen“ behandelt werden. Think big, das war der | |
Auftrag der Bundesregierung an ihren Wissenschaftlichen Beirat für die | |
Globale Umwelt. Der hat jetzt auf 400 Seiten geliefert. | |
13 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
## TAGS | |
Technik | |
Digitalisierung | |
Nachhaltigkeit | |
Sozial-Ökologie | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
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