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# taz.de -- Vorausschauender Jahresrückblick Hamburg: Ein Mann verschwindet
> Rückblick 2019: Die taz nord dokumentiert die Memos des Personal Coach
> von Peter Tschentscher, dem unbekanntesten Bürgermeister der Welt.
Bild: Unbemerkt verlässt Peter Tschentscher das Hamburger Rathaus
## 1. Januar
Heute war ein harter Tag. Neujahrsempfang im Rathaus, alle wollen dem
Bürgermeister die Hand schütteln. Was hatte ich auf ihn eingeredet! „Steh
locker, schau die Leute an, versuch so zu tun, als ob du dich für sie
interessierst.“ Und was macht er? Setzt ein säuerliches, festgefrorens
Lächeln auf und vergräbt die Hände in den Taschen. Die Leute gehen an ihm
vorbei zur Fegebank, die wieder so ein knallgrünes Kleid anhat und strahlt
wie ein Atomkraftwerk. 80 Prozent der Hamburger kennen sie, dabei ist sie
nur zweite Bürgermeisterin! Bei ihm sind es 30 Prozent.
## 2. Januar
Auf den Fotos vom Neujahrsempfang im Hamburger Abendblatt steht die
Fegebank im Vordergrund. Ganz weit hinten, das kleine Männchen, ist der
Bürgermeister. Sofort Anruf bei der Chefredaktion, was das soll. Sie sagen,
der Fotograf habe versucht, auf Tschentscher zu fokussieren, ihn aber
einfach nicht scharf gekriegt.
## 15. Februar
Es ist zum Golfschlägerzertrümmern! Nach der dreiwöchigen Aktion „Hamburgs
Erster Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher spricht mit den Bürgerinnen und
Bürgern“, bei der auf den Wochenmärkten ein Bürgermeister-Stand aufgebaut
wurde, ist seine Popularität erneut gesunken: Nur noch 25 Prozent kennen
ihn. Dabei hatten wir flächendeckend plakatiert!
## 7. März
Die SPD-Bezirke Eimsbüttel, Altona und Mitte haben den Bürgermeister in
einem Brief gebeten, sich aus dem Bezirkswahlkampf herauszuhalten. „Bei
unseren KandidatInnen geht die Angst um“, heißt es in dem Brief. Offenbar
waren einige Abgeordnete, nachdem sie mit Tschentescher aufgetreten waren,
beim Einkaufen in der Nachbarschaft nicht mehr erkannt worden.
## 23. März
Nach Rücksprache mit unserem Styleberater habe ich Tschentscher zu einer
neuen Brille geraten. Am besten ein auffälliges Horngestell, oder eins mit
Glitzer, irgendwas, was sich die Leute merken können. Das und vielleicht
noch ein Haarimplantat würden schon viel helfen. Tschentscher sagt, er
überlegt es sich.
## 17. April
In einem Fernsehinterview beim NDR spricht Tschentscher schon wieder die
Sätze, die ich ihm verboten hatte. „Wir haben viel erreicht, aber es gibt
auch noch viel zu tun“, „wir haben eine zwanzigprozentige
Kapazitätsausweitung vorgenommen“, „Wir sind bei den Innovationen ganz weit
vorne“ und so weiter, grauenhaft! Der Moderator verliert den Faden und muss
von der Regie immer wieder angepiepst werden, weil er wegzunicken droht.
## 19. April
Tschentscher will sein Erscheinungsbild doch nicht ändern. „Ich werde immer
wieder auf der Straße gegrüßt, woraus ich schließe, dass die HamburgerInnen
und Hamburger mich langsam kennen“, sagt er in einem Interview auf NDR
90,3.
## 20. April
Die Ergebnisse der von Forsa betreuten großen repräsentativen
Wiedererkennungsumfrage liegen vor. Demnach sagen 80 Prozent der
WählerInnen, wenn man ihnen ein Foto von Tschentscher zeigt, sie hätten den
Mann schon einmal gesehen. Aber nur sieben Prozent wissen, dass es der
Bürgermeister ist, und nur drei Prozent, dass er „Tschentscher“ heißt.
## 1. Mai
Habe der SPD soeben angedroht, dass ich hinschmeiße, wegen mangelnder
Kooperationsbereitschaft des Bürgermeisters. Die Sozen in der
Geschäftsstelle hatten voll das Fracksausen! Jetzt doppeltes Tageshonorar,
kann jetzt endlich einen 911 Turbo leasen. Geilo!
## 10. Mai
Beim 358. Hafengeburtstag kann Tschentscher nicht die Eröffnungsrede
halten, weil er nicht durchgelassen wird. „Aber sehen Sie doch, ich fahre
einen Dienstwagen“, bettelte er die Security über die heruntergelassene
Seitenscheibe an. Darauf die Security: „Verpiss dich, du Würstchen!“ Die
Eröffnungsrede hält Katharina Fegebank.
## 26. Mai
Bei den Bezirkswahlen erzielt die SPD knapp 28 Prozent. „Das Ergebnis ist
nicht so gut wie erhofft, aber auch nicht so schlimm wie befürchtet“, sagt
Tschentscher bei der Wahlparty der SPD. Manche sagen, er habe nur seinen
Mund bewegt, es sei aber nichts herausgekommen. Parteimitglieder wollen ihn
später vor der Tür gesehen haben, wie er hastig eine Zigarette rauchte.
## 23. Juni
Tschentscher oder jemand, der so aussieht wie er, wird beim Currywurstessen
bei Lukullus auf der Reeperbahn gesehen. In der Mopo berichtet der
Verkäufer, dass sowohl der Kunde („ich hab den schon mal irgendwo gesehen“)
als auch die Wurst verschwunden waren, als er kassieren wollte.
## 13. Juli
Beim Schlagermove fährt der „Bürgermeisterwagen“ jetzt mit einem
Tschentscher-Double, Tschentscher selbst ließ ausrichten, er wolle nur
mitmachen, wenn er Kirchenlieder singen darf. Das Tschentscher-Double singt
mit dünner Stimme „Rote Rosen aus Athen“, das Publikum kichert. So wird das
nichts!
## 3. August
Die neuesten Umfragewerte sind verheerend: Bekanntheitsgrad ist unter drei
Prozent! Die beiden Vorzimmerdamen des Bürgermeisters wollen mich nicht
durchlassen, er sei nicht in seinem Büro. Als ich drohe, die Tür
einzutreten, wollen sie mir das leere Zimmer zeigen und siehe da:
Tschentscher sitzt ganz entspannt im Schneidersitz in einer Ecke, in der
Hand seinen Rechenschieber, und liest Akten.
## 3. September
Auf einer Pressekonferenz im Rathausfoyer taucht Tschentscher auf, um die
binnen Jahresfrist um 30 Prozent gestiegenen Mietpreise zu kommentieren:
„Glauben Sie mir, wir haben das Problem erkannt und tun alles, was in
unseren Kräften steht, um an seiner Lösung zu arbeiten“, sagt er und fasst
sich an die Brille. Das soll er nicht! Hab ich ihm 1.000 Mal gesagt.
## 10. Oktober
Tschentscher macht einen Rundgang über das pfälzische Weinfest, das er vor
drei Monaten persönlich nach Hamburg geholt hat. Als ihm an einem Stand ein
Glas Riesling aus bester Mosellage angeboten wird, ergreift er die Flucht.
Die taz bringt eine witzig gemeinte Meldung: „Bürgermeister auf dem
Trockenen. “ Pappnasen!
## 1. November
Anruf von Frau Tschentscher, sie kann ihren Mann nicht mehr finden.
„Gestern Abend war er noch da, jetzt ist er weg.“ Ob er heute beim
Frühstück noch da war, kann sie nicht sagen. Sie habe ihren Gatten in
letzter Zeit nur noch schemenhaft erkennen können.
## 6. November
Tschentscher taucht überraschend beim 111. Geburtstag der ältesten
Hamburgerin in deren Seniorenresidenz in den Elbvororten auf. Er wirkt
abgerissen, so erzählt der Heimleiter am Telefon. „Sie müssen auf sich
aufpassen“, soll er der Dame gesagt haben. „Ein kleiner Schluck am Tag,
nicht mehr!“ Sie hatte ihm bei seinem Besuch vor einem Jahr gestanden,
täglich mindestens ein Glas zu leeren.
## 2. Dezember
Im Rathaus regiert Fegebank, die SPD hat einen Privatdetektiv engagiert, um
Tschentscher suchen zu lassen. Seine eine Vorzimmerdame erzählte mir
gestern, eine Freundin von ihr glaube, sie habe den Bürgermeister beim
Adventsgottesdienst gesehen.
## 7. Dezember
Anruf von der SPD-Geschäftsstelle, ich kann die Arbeit einstellen.
Tagespauschale läuft weiter. Hallo Seychellen!
## 24. Dezember
Habe am Strandkiosk die Bild am Sonntag vom 22. 12. gekauft, Titel: „Die
schmutzigen Tricks des Olaf Schol.“ Dort steht, wie es der Bundeskanzler
damals geschafft hat, das Bürgermeisteramt an Tschentscher abzudrücken: Er
hat ihn mit einem Foto erpresst, das Tschentscher in Badehose zeigt.
## Nachtrag 7. Januar
Anruf von Erika, meiner Informantin aus dem Vorzimmer: In einem Kloster in
Tibet hat sie einen Mönch gesehen, der aussah wie der verschwundene Peter
Tschentscher. Er trug sogar dieselbe Brille! Der Mönch habe sie
angelächelt, aber wohl nicht erkannt. Er sei damit beschäftigt gewesen, die
klostereigenen Gebetsmühlen zu drehen.
## Nachtrag 8. Januar:
Unser Büro in Shanghai hat den Klostervorsteher kontaktiert: Der Mönch
heißt Chen-Tse und lebt schon seit vielen Jahren in dem Kloster. Es gebe
Gerüchte, wonach er die 12. Inkarnation des verschwundenen Panchen Lama sei
und damit das geistliche Oberhaupt einer wichtigen Linie des tibetanischen
Buddhismus. Chen-Tse wolle davon aber nichts wissen. Auf das Thema
angesprochen, fange er immer an zu kichern.
30 Dec 2018
## AUTOREN
Daniel Wiese
## TAGS
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demokratischer regieren und mehr zuhören will als Olaf Scholz. Aber das
sagt er natürlich nicht so explizit.
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