| # taz.de -- Sineb El Masrar über muslimische Männer: „Gewalttätige Väter … | |
| > Sineb El Masrar beschäftigt sich in ihrem Buch „Muslim Men“ mit Klischees | |
| > über muslimische Männer. Die Berlinerin bekämpft gleichermaßen Tabus und | |
| > Klischees. | |
| Bild: Setzt sich für einen vielstimmigen Islam ein: Autorin Sineb El Masrar | |
| taz: Frau El Masrar, warum sind die Deutschen so fasziniert vom | |
| muslimischen Mann? | |
| Sineb El Masrar: Das ist eine Faszination, die immer da ist, wenn es eine | |
| gewisse Distanz gibt. Da entwickeln sich Mythen – oder Vorurteile –, und es | |
| gibt eben oft nicht viel echten Kontakt. Wenn man muslimische Freunde hat, | |
| verfliegt die Faszination meistens – weil man merkt, wie viele | |
| Gemeinsamkeiten es doch gibt. | |
| Sie haben diese Mythen in Ihrem Buch umrissen: vom „ungebildeten Flegel mit | |
| Hang zum Machotum“ bis zum schwarzäugigen Reiter auf dem Kamel. Woher | |
| kommen die? | |
| Solche Klischees beruhen natürlich immer auf Erlebtem, haben einen realen | |
| Hintergrund. Wer mal Urlaub in Jordanien gemacht hat, hat die | |
| kajalumrandeten Beduinenaugen gesehen. Und auch der ungehobelte junge Mann | |
| gehört zur erlebten Realität. Aber sie sind eben nie repräsentativ für | |
| alle. Sie finden bei muslimischen Männern auch noch ganz andere | |
| Lebensmodelle, wie ich sie in meinem Buch vorstelle. | |
| Was möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen? | |
| Ich möchte diese Vielfalt beschreiben, um darauf hinzuweisen, dass aus | |
| Vorurteilen nicht Handlungen abgeleitet werden dürfen. Wenn Männer mit | |
| schwarzen Haaren und dunklen Augen nicht in Clubs gelassen werden, weil der | |
| Türsteher denkt, dass die Ärger machen, dann wirkt da ein Klischee. Wir | |
| sollten aber jedem als Individuum eine Chance geben. Und auch, wenn jemand | |
| aggressiv ist, hat das seine Gründe. Ich möchte solches Verhalten nicht | |
| entschuldigen, aber ich möchte es erklären. Und Wege aufzeigen, da | |
| herauszukommen. | |
| Sie appellieren auch an muslimische Einwanderer, freier zu denken, mehr | |
| Fragen zu stellen, auch an religiöse Instanzen, Tabus zu brechen. | |
| Ja, auch sie sind Leserinnen und Leser meiner Bücher. Und ich bekomme von | |
| ihnen viele positive Rückmeldungen. Wenn ich über einen türkeistämmigen | |
| Einwanderer schreibe, der sich als alter Mann als schwul outet und | |
| daraufhin von seinen Kindern – die hier aufgewachsen sind – abgelehnt wird, | |
| dann schreiben mir Menschen, dass sie Ähnliches in ihrem Umfeld erlebt | |
| haben. Aber es wird nicht darüber geredet. Solche Dinge sichtbar zu machen | |
| und damit Tabubrüche anzustoßen, das versuche ich mit meinen Büchern. Und | |
| auch, Empathiefähigkeit zu stärken: Die Ablehnung, die der alte Mann von | |
| seinen Kindern erfährt – die erzeugt ja Schmerz. Das macht man sich aber | |
| nicht klar, wenn man nur mit der eigenen Ablehnung beschäftigt ist: was man | |
| Menschen eigentlich auch antut. Da bekomme ich viel positive Resonanz – | |
| einfach, weil ich das mal aufschreibe. | |
| Sie haben für Ihr Buch ganz verschiedene muslimische Männer mit sehr | |
| unterschiedlichen Lebenswegen interviewt: Gibt es Merkmale, die alle | |
| miteinander verbinden? Gibt es DEN muslimischen Mann? | |
| Nein. Aber es gibt drei Tabus, mit denen sie alle konfrontiert sind: | |
| Familie, Sexualität und Islam. Alle stammen aus Regionen, die hochgradig | |
| patriarchal geprägt sind. Dann eint sie natürlich die Zugehörigkeit zu | |
| einer Religion. Das sind Punkte, die, egal wie gebildet die Männer waren, | |
| mit denen ich gesprochen habe, sie nicht so sehr durchbrechen können. Was | |
| noch dazukommt, ist die Tendenz, eine Art Doppelleben zu führen: Zu Hause | |
| muss man sich auf eine bestimmte Art verhalten, draußen geht es anders. | |
| Da kommen Familienstrukturen ins Spiel. | |
| Ja. Für viele muslimische Söhne ist der Vater keine Hilfe dabei, ein | |
| eigenes Lebensmodell zu entwickeln. Er ist vielleicht selten zu Hause, ist | |
| in der Familie vor allem den Söhnen gegenüber gewalttätig, kümmert sich | |
| aber nicht um Sachen wie Schule oder Hausaufgaben. Einen gewalttätigen | |
| Vater braucht niemand. | |
| „Zu Hause ist Papa Hitler“, sagt einer der jungen Männer, mit denen Sie | |
| gesprochen haben. Welche Rolle spielen die Mütter dabei? | |
| Oft sehen die Söhne die Mütter als schwach, weil sie sich vom Vater | |
| unterdrücken lassen – und wiederholen dann doch in ihrer eigenen Familie | |
| dasselbe Rollenmodell, weil sie nichts anderes kennengelernt haben. Man | |
| wiederholt oft unbewusst erlebte Verhaltensmuster. | |
| Das gilt für alle, nicht nur für Muslime. | |
| Ja. Das zu zeigen, darum geht es mir auch. Wenn man aber bestimmte | |
| Praktiken oder Rollenverteilungen in der Familie religiös begründet, dann | |
| wird es schwieriger, sie zu kritisieren. Denn dann kritisiert man | |
| gleichzeitig die Religion. Und das ist ein Tabu. Wir müssen deshalb diese | |
| Tabus durchbrechen. Die Familie ist die erste kleine Gesellschaft, die ein | |
| Mensch kennenlernt. Wenn man dort nicht offen über Gefühle, über | |
| Bedürfnisse reden kann, schadet das der Persönlichkeitsentwicklung. | |
| Ihre Eltern sind aus Marokko eingewandert, Sie sind in Hannover geboren: | |
| Wie war das in Ihrer Familie? | |
| Meine Familie war auch traditionell, aber meine Eltern sind sehr großzügig | |
| und liebevoll. Außerdem war ich Einzelkind, hatte also die volle | |
| Aufmerksamkeit meiner beiden Eltern. Aber ich kenne aus der Verwandtschaft | |
| natürlich auch Fälle, wo Töchter nicht die Freiheit hatten, die ich hatte. | |
| Wie sind Sie aufgewachsen? | |
| Auf dem Land! Es gab unter meinen Mitschülern keine anderen Muslime. Mein | |
| Vater wollte bewusst keinen Kontakt zu anderen muslimischen Migranten. | |
| Warum? | |
| Mein Vater ist ein hochreligiöser Mann, aber er hatte schlechte Erfahrungen | |
| gemacht, gesehen, dass das vermeintlich Religiöse zwar vor sich | |
| hergetragen, aber nicht gelebt wird – weder Barmherzigkeit noch Ehrlichkeit | |
| oder Mitmenschlichkeit, was ja auch islamische Werte sind. Er fand, dass | |
| diese Leute auf jede Kleinigkeit achten, sich in alles einmischen. Dem | |
| wollte er mich nicht aussetzen, dass jemand sich beschwert, wenn ich abends | |
| mal spät nach Hause komme. Und mein Vater ist auch sehr direkt, hält mit | |
| seiner Meinung nicht hinterm Berg. Er hätte denen gesagt: Ihr habt gefühlt | |
| 15 Kinder, kümmert Euch um die, nicht um meine Tochter. | |
| Lesen Ihre Eltern Ihre Bücher? | |
| Alles, was ich schreibe, habe ich zigmal mit meinen Eltern besprochen. | |
| Meiner Mutter war es enorm wichtig, dass ich eine unabhängige Frau werde, | |
| weil sie selber weiß, was es bedeutet, keine Schulbildung zu haben. Und es | |
| gab bei uns nie ein Tabu, auch religiöse Fragen zu stellen. | |
| Welche Rolle spielt Religion für Sie persönlich? | |
| Ich bin gläubige Muslimin. Aber ich verstehe mich als muslimische | |
| Feministin und kann deshalb bestimmte Auslegungen nicht akzeptieren. Wie | |
| kann ein barmherziger, allwissender, allverzeihender Gott so auf | |
| Äußerlichkeiten achten – wie eine Frau sich kleidet oder wie lang der Bart | |
| eines Mannes ist? Das widerstrebt mir. Das hat nichts mit Spiritualität zu | |
| tun. | |
| Sie waren von 2010 bis 2013 Mitglied der Islamkonferenz – gerade fand die | |
| erste unter dem CSU-Innenminister Horst Seehofer statt, der einen „Islam | |
| der deutschen Muslime“ fordert. Wie finden Sie das? | |
| Die Frage ist, was das für ein Islam sein solle. Die Muslime in Deutschland | |
| leben einen Islam, der ganz unterschiedlich geprägt ist – türkisch oder | |
| marokkanisch, aber auch politisch oder salafistisch. Die Frage ist: Welcher | |
| Islam soll künftig weiter gedeihen? Und da kann ich mich mit einem | |
| hochgradig patriarchalischen Islam, wie er hier teils gepflegt wird, nicht | |
| anfreunden. Beim Beten und Fasten macht der Islam keinen Unterschied | |
| zwischen Männern und Frauen, Hetero- oder Homosexuellen. Warum sollen wir | |
| also diesen Unterschied machen? Warum soll ich solche Ungerechtigkeit | |
| akzeptieren in einer Gesellschaft wie dieser, die immer für mehr | |
| Gerechtigkeit gekämpft hat? | |
| Ihre Haltung gegenüber den islamischen Organisationen in Deutschland ist | |
| sehr kritisch. Worauf beruht das? | |
| Das liegt an ihnen selbst! Sie sind doppelzüngig. Sie predigen in den | |
| Moscheen und auf ihren Veranstaltungen das eine und reden außerhalb anders. | |
| Sie nutzen die Suche hiesiger Muslime nach Identität aus. Aber sie lassen | |
| sich nicht wirklich auf deren Bedürfnisse ein. Sie sorgen nicht dafür, dass | |
| sich junge Menschen hier frei entfalten können, sondern machen ihnen | |
| Vorschriften, wie sie zu leben haben. Und wer das kritisiert, braucht | |
| Polizeischutz – wie Hamed Abdel-Samed oder Seyran Ates. | |
| Es gibt jetzt eine neue Initiative unter anderem von diesen beiden und auch | |
| Cem Özdemir, die einen „säkularen Islam“ fordert. Können Sie damit mehr | |
| anfangen? | |
| Ich bin eine Befürworterin von Vielstimmigkeit. Alle sollen ihre Themen auf | |
| die Agenda setzen dürfen – egal, ob man die jetzt richtig findet oder | |
| nicht. Es ist wichtig, dass wir die organisierten Muslime haben, die ja | |
| einen Teil der Muslime vertreten. Aber auch die andere Seite hat das Recht, | |
| sich zu positionieren. Jede neue Perspektive bereichert doch die | |
| Diskussion. | |
| Sie widmen der Gefahr der Radikalisierung junger muslimischer Männer viel | |
| Platz in Ihrem Buch – und liefern vor allem psychologische Erklärungen für | |
| eine Anfälligkeit für den radikalen Islam. Was ist mit sozialen Gründen: | |
| gesellschaftliche Ablehnung, antimuslimischer Rassismus, | |
| Bildungsbenachteiligung? | |
| Soziale Herkunft ist nie der entscheidende Punkt bei Radikalisierung. Viele | |
| Radikalisierte kommen von den Universitäten, nicht von den Straßen | |
| Neuköllns. Für den Islamismus interessiert sich vor allem die gebildete | |
| Schicht. Der Keim liegt in der Familie, in den Konflikten in den | |
| Elternhäusern, die stabile Persönlichkeitsbildung verhindern. | |
| Sieben Mal kommt in Ihrem Buch das Wort „Integration“ vor – ein | |
| umstrittener Begriff, weil er offen lässt, wie viel Zwang zur Anpassung | |
| damit eigentlich gemeint ist. Wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung | |
| nach mehr Freiheit, die für sich persönlich zu erkämpfen Sie ja von jedem | |
| Einzelnen fordern? | |
| Wenn man Werte wie Freiheit als westliche Werte betrachtet, kann man das | |
| Streben nach Freiheit natürlich als Assimilation betrachten. Aber das | |
| stimmt ja nicht: Es sind universelle Werte, für die Menschen auf der ganzen | |
| Welt kämpfen. | |
| Wie erleben Sie das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen hier in | |
| Berlin? | |
| Die Muslime und die Nichtmuslime gibt es ja nicht. Man kann aber kurz und | |
| knapp sagen: Da, wo Menschen einander respektieren und akzeptieren trotz | |
| aller Unterschiede, da läuft es gut. Leider muss ich aber auch sagen, dass | |
| es aufseiten muslimischer Prediger noch zu viele gibt, die die Gesellschaft | |
| in Gläubige und Ungläubige, in Menschen erster und zweiter Klasse | |
| aufteilen. Das macht ein freies Leben für jemanden, der Muslim ist, nicht | |
| einfacher. Wenn das wiederum auf der anderen Seite auf Irritation stößt, | |
| entstehen auch Abwehrhaltungen. Es braucht mehr echten Dialog hier. | |
| Was hat Sie eigentlich nach Berlin gebracht? | |
| Die Arbeit! Ich war beruflich wegen meines damals gegründeten Verlags so | |
| oft hier, dass ich mich dann dazu entschied, gleich hierzubleiben. Zumal | |
| Berlin näher an meinen Eltern in Hannover war als NRW. | |
| Haben Sie Lieblingsorte hier? | |
| Besonders gern mag ich die Spree in Moabit im Ruhrpottviertel und alle | |
| Orte, wo es Grün und Natur gibt. Das Landei sucht das dann doch immer | |
| wieder. Neukölln ist hingegen nicht so meins. | |
| „Lokales Anschauungsmaterial Berlin Muslim Men“: Treibt es Ihnen dort oder | |
| in Wedding nicht manchmal die Zornesröte ins Gesicht – angesichts gelebter | |
| Klischees? | |
| Klischees über Muslime sind leider nicht die charmantesten. Das lässt einen | |
| schon manchmal mit den Augen rollen. Doch unter ihnen sind ja viele, die | |
| nicht durch das Bedienen von Klischees auffallen, sondern durch ihre | |
| freundliche, aufgeschlossene und humorvolle Art. Die bemerken wir alle oft | |
| zu wenig. Ihnen sollten wir aber auch Beachtung schenken. Defizite | |
| anzusprechen bedeutet nicht, den schönen Seiten keine Beachtung zu | |
| schenken. Ich glaube, das vergessen viele. | |
| 2 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Alke Wierth | |
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