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# taz.de -- Gastkommentar Schweizer Sozialdetektive: Neoliberale Abrissbirnen
> Die Schweiz stimmt über die weitreichende Überwachung von
> Sozialversicherten ab. Es geht auch um die vergiftete Sozialpolitik im
> Land.
Bild: Ginge es nach den Versicherungen und der SVP, würden Sozialversicherte n…
Im Frühling erließ das Schweizer Parlament ein Gesetz, das die
weitreichende Überwachung aller Sozialversicherten ermöglichen soll –
vorgeblich, um Missbrauch von Leistungen zu verhindern. Ob Kranken- oder
Unfallversicherte, Rentner*innen oder Menschen mit Behinderung: Alle sollen
von „Sozialdetektiven“ überwacht werden können, mit Maßnahmen wie
verdeckter Videoüberwachung und detaillierten Bewegungsprofilen. An diesem
Sonntag stimmen nun auch die Schweizer*innen in einem Referendum darüber
ab.
Was viele Rechtsprofessor*innen zum Aufschrei zwingt: Kein Richter kann
über die Maßnahme entscheiden. Und mit der Überwachung bis in Privaträume
hinein erhalten die Versicherungen mehr Mittel als die Polizei und
Staatsanwaltschaften. Um den Rechtsstaat kümmerte sich das Parlament bei
seiner Zustimmung also nicht so sehr.
Der Überwachungsartikel steht symptomatisch für die vergiftete Stimmung in
der Schweizerischen Sozialpolitik: Wer es nicht alleine schafft, dem wir
auch nicht geholfen. Stetig wird der Spardruck auf die Institutionen
erhöht, Leistungsbezüger*innen schikaniert, Beiträge gekürzt und
Überwachungsmassnahmen verschärft. Ein bitterer Mix aus Klassismus und
Fremdenfeindlichkeit feuert die Versicherungslobby und die Rechte in ihrem
Feldzug gegen solidarische Einrichtungen und eine ernst gemeinte
Sozialpolitik an.
Nicht ohne Grund hat Christoph Blocher, Übervater der rechtsnationalen
Partei SVP, im Wahlkampf 2003 den Begriff «Scheininvalide» kreiert und mit
populistischer Stimmungsmache die Empörung in der Stimmbevölkerung
hochgekocht. Mit der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung schaffte
er fruchtbaren Boden für massive Verschärfungen des Sozialrechts – und
einen Sieg für seine Partei.
## Das staatliche Gewaltmonopol würde in Frage gestellt
Das Trauerspiel der Schweizer Sozialpolitik: Institutionen, die früher als
Auffangnetze für Arme, Schwache, Kranke und Alte eingesetzt wurden, werden
von neoliberalen Abrissbirnen in den Parlamente zugrunde gerichtet. Schritt
für Schritt. Gesetz um Gesetz.
Deshalb haben wir eine Bürger*innen-Bewegung gegründet und über 75.000
Unterschriften gegen das Gesetz gesammelt. Am Sonntag wird nach einigen
Monaten Abstimmungskampf die Schweizer Stimmbevölkerung entscheiden, ob die
Versicherungen neu auch Polizeiarbeit machen sollen und wir das staatliche
Gewaltmonopol damit in Frage stellen wollen.
Weder linke Organisationen noch Parteien wollten das Referendum anfangs
unterstützen. Sie verwiesen auf strategische Entscheide und ließen
verlauten, dass es ungeschickt sei, den Neoliberalen und Rechten mit dieser
Abstimmung knapp ein Jahr vor den nationalen Wahlen in die Hände zu
spielen.
Das kann eine Haltung sein. Was aber, wenn gerade jetzt die Zeit gekommen
ist, nicht mehr abzuwarten und in alte wahlstrategische Muster zu
verfallen, sondern die Grundrechte zurückzufordern und das zu beschützen,
was doch eigentlich lange als selbstverständlich galt?
Wir können demonstrieren und Petitionen sammeln, Songs und Kolumnen
schreiben. Und wir können uns vernetzen. Was es jetzt braucht, ist ein
Aufstand der Zivilgesellschaft, die dafür einsteht, worauf wir uns
eigentlich einmal geeinigt hatten: Eine solidarische und demokratische
Gesellschaft, in der alle in Würde krank und alt sein dürfen.
Dimitri Rougy studiert Kulturwissenschaften. Mit der Schriftstellerin
Sibylle Berg und anderen Mitstreiter*innen hat er die Initiative
[1][„Versicherungsspione NEIN“] ins Leben gerufen, die das Referendum über
das Gesetz angestrengt hat.
25 Nov 2018
## LINKS
[1] https://versicherungsspione-nein.ch/
## AUTOREN
Dimitri Rougy
## TAGS
Schweiß
Volksabstimmung
Sozialversicherung
SVP
Neoliberalismus
Schweiz
Referendum
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