| # taz.de -- Ukraine unter Kriegsrecht: Noch mehr Macht | |
| > Nachdem Russland ukrainische Marineschiffe angegriffen hat, hat die | |
| > Ukraine das Kriegsrecht verhängt. Was bedeutet das? | |
| Bild: Petro Poroschenko im Kreise seiner Liebsten | |
| Kiew taz | Etwas über sieben Minuten braucht der ukrainische Präsident, um | |
| wenigstens den Kampf im Innern seines Landes noch irgendwie zu gewinnen. Um | |
| kurz nach fünf Uhr am Montagnachmittag übertragen Kameras Petro | |
| Poroschenko, wie er vor einer blaugrauen Wand steht und sagt, [1][er sei | |
| auch mit 30 Tagen Kriegsrecht einverstanden]. Viereinhalb Stunden später | |
| stimmen 276 von 338 registrierten Abgeordneten in der Werchowna Rada einem | |
| Vorschlag des Präsidenten zu, der ihm in 10 von 27 Regionen der Ukraine | |
| viele Sonderrechte einräumt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes | |
| gilt das Kriegsrecht. | |
| Noch kurz zuvor hatten Abgeordnete Poroschenko am Sprechen gehindert und | |
| das Pult blockiert. Sie fürchteten, der Präsident wolle das Kriegsrecht | |
| benutzen, um die im März anstehenden Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen | |
| oder doch zumindest zu verschieben. | |
| Laut einer Erhebung, welche die drei wichtigsten ukrainischen | |
| Umfrageinstitute vor zwei Wochen veröffentlichten, würden über 50 Prozent | |
| der Befragten ihren Präsidenten auf gar keinen Fall noch einmal wählen. Die | |
| Abgeordneten trotzten Poroschenko ab, die von ihm geforderten 60 Tage | |
| Kriegsrecht zu halbieren und sie verabschiedeten auch gleich ein Gesetz, | |
| das den Wahltermin am 31. März festlegt. | |
| [2][Das Kriegsrecht gilt in zehn Oblasten], die entlang der russischen | |
| Grenze, in den separatistisch kontrollierten Gebieten im Osten, dem von | |
| Russland kontrollierten Transnistrien und an der Küste liegen. | |
| Anlass für die Verhängung des Kriegsrechts ist der Angriff russischer | |
| Küstenschutzschiffe auf zwei leicht gepanzerte Patrouillenboote, die | |
| „Berdiansk“ und die „Nikopol“, und auf den mit ihnen im Konvoi fahrenden | |
| Militärschlepper „Yani Kapu“ am vergangenen Sonntagabend. Die Russen gaben | |
| dabei Schüsse ab und ihre Soldaten enterten die Schiffe aus Odessa, sechs | |
| ukrainische Seeleute wurden verletzt. Die Russen rammten außerdem mit einem | |
| ihrer Schiffe den kleineren Schlepper. Das zeigt ein Video, das offenbar | |
| ein russischer Matrose aufgenommen hat, auf dem etwas über eine Minute | |
| langen Film sind Rufe zu hören wie „Schneller, komm schon!“ und „Ramm es | |
| von der Steuerbordseite!“. | |
| Das ist der erste offene Angriff russischer Soldaten auf Ukrainer in dem | |
| seit vier Jahren dauernden Krieg im Osten des Landes, bei dem bisher etwa | |
| 10.000 Menschen gestorben sind. Bisher leugnet die russische Regierung die | |
| Beteiligung ihrer Soldaten oder sagt, es seien nur Freiwillige, die in | |
| ihrem Urlaub kämpften. | |
| Der Plan der Ukrainer war offenbar, die drei Schiffe vom Schwarzmeerhafen | |
| Odessa entlang der Küste der von Russland annektierten Halbinsel Krim durch | |
| die Straße von Kertsch in den Hafen Mariupol zu überführen. Ende September | |
| hatten sie das mit anderen Militärschiffen schon einmal getan – ohne | |
| Probleme. Dieses Mal landeten die drei ukrainischen Schiffe im Hafen von | |
| Kertsch und die ukrainischen Besatzungen, unter denen sich laut Angaben | |
| aus Kiew auch Angehörige des ukrainischen Geheimdienstes SBU befinden, in | |
| russischen Gefängnissen. | |
| Die Lage im Asowschen Meer spitzte sich bereits seit Längerem zu. Seit | |
| Russland die Krim annektiert und im März dieses Jahres die Kertsch-Brücke | |
| vom russischen Festland auf die Halbinsel fertiggestellt hat, entsenden | |
| Militär und Grenzschutz des Landes mehr Schiffe in das von ihnen in Teilen | |
| als russisches Territorium betrachtete Gebiet. Sie kontrollieren Schiffe, | |
| die ukrainische Häfen anlaufen, teilweise sehr lange. Nach dem Angriff am | |
| Montag kommen nach Angaben des ukrainischen Infrastrukturministers [3][gar | |
| keine Schiffe mehr durch]. | |
| Noch am Montag reagierten verschiedene Diplomaten auf den Vorfall. Ihre | |
| Reaktionen wurden in ukrainischen Medien und sozialen Netzwerken aber oft | |
| eher verhöhnt. Die Wendung „I condemn“, zu deutsch „Ich verurteile“, d… | |
| etwa Donald Tusk twitterte, der Vorsitzende des Europäischen Rates, gilt | |
| vielen Ukrainern nur noch als Ausdruck taten- und letztendlich nutzloser | |
| Betroffenheit im Westen. | |
| Noch am Montagabend veröffentlichten russische Fernsehsender vom | |
| Geheimdienst FSB aufgenommene Videogeständnisse dreier ukrainischer | |
| Seeleute, in denen diese sagen, sie seien in russisches Gebiet | |
| eingedrungen. Der Kommandeur eines der Schiffe sagt, sie hätten dies in | |
| provokativer Absicht getan. Auf YouTube und in den sozialen Netzwerken | |
| machten sich daraufhin viele darüber lustig, dass einer der drei das | |
| Gesagte offensichtlich abliest. Aber auch aus anderen Gründen sind solche | |
| Geständnisse zweifelhaft: Russische Behörden foltern. In der Vergangenheit | |
| haben Menschen solche Geständnisse des Öfteren wieder zurückgezogen, weil | |
| sie unter Zwang zustande kamen. | |
| Inzwischen hat die ukrainische Marine auch Aufnahmen veröffentlicht, die | |
| den Funkverkehr zwischen den ukrainischen und den russischen Schiffen | |
| wiedergeben sollen, aber auch die Unterhaltungen zwischen den russischen | |
| Grenzern. Sie lassen sich nicht unabhängig überprüfen, aber wenn man sie | |
| mit den bekannten Fakten abgleicht, zum Beispiel mit den in Videoaufnahmen | |
| zu sehenden Beschädigungen an russischen Küstenschutzschiffen, spricht | |
| einiges für ihre Echtheit. | |
| ## Zehn unaufgeklärte Morde | |
| Die russische Regierung hält unterdessen an ihrer Version fest: „Die | |
| Verantwortlichen in Kiew kommen mit allem davon. Wenn sie nach Babys zum | |
| Frühstück verlangen, werden ihnen wahrscheinlich Babys serviert“, sagte der | |
| russische Präsident Wladimir Putin am Mittwoch im russischen Staatssender | |
| RT. Er stellte den Vorfall an der Meerenge so dar, als hätte die | |
| ukrainische Marine ihn provoziert. Der ukrainische Präsident wolle ihn dazu | |
| benutzen, um seine politischen Widersacher zu unterdrücken. | |
| Nun ist die Methode, eigenes Fehlverhalten zu leugnen und es dem Gegner | |
| zuzuschieben, nichts Neues im russischen Arsenal der Außenkommunikation. | |
| Das ließ sich bereits während der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim | |
| beobachten und später während der Besetzung großer Teile des | |
| ostukrainischen Donbass. | |
| Und doch könnte Präsident Petro Poroschenko tatsächlich von der aktuellen | |
| Lage profitieren. Denn nun wird im Land über das Kriegsrecht und die Gefahr | |
| eines russischen Angriffs geredet, die Poroschenko heraufbeschwört. Nicht | |
| mehr jedoch zum Beispiel über die massenhaften Angriffe auf Aktivisten, die | |
| sich gegen Korruption oder für die Rechte von LGBTI* einsetzen. Es gibt | |
| zehn unaufgeklärte Morde und weder die Polizei noch der Geheimdienst SBU | |
| sind bisher erfolgreich darin, die Verantwortlichen zu finden. Ebenso | |
| behindern der Präsident und seine Verbündeten im Parlament die Schaffung | |
| eines effektiven Antikorruptionsgerichts und anderer Behörden, die gegen | |
| Vetternwirtschaft kämpfen. Auch darüber spricht gerade niemand mehr. | |
| Wie ein roter Faden zieht sich durch ukrainische Medien und Erklärungen von | |
| Politikern die Message, dass das Kriegsrecht zwar die Grundrechte massiv | |
| einschränken könne, das aber in der derartigen Situation nicht zu | |
| befürchten sei. Schließlich habe Präsident Poroschenko garantiert, dass man | |
| auch beim Kriegsrecht die Grundrechte nicht wesentlich antasten werde. Zu | |
| wirklichen Einschränkungen werde es bei einem Angriff Russlands auf dem | |
| Landweg kommen. | |
| Es bestehe kein Grund zur Panik, sagt Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman | |
| und rät den Ukrainern: „Führen Sie weiterhin ein normales Leben. Arbeiten | |
| Sie, lernen Sie, bringen Sie Kinder zur Welt.“ Hrojsman ist überzeugt, in | |
| 30 Tagen werde das Kriegsrecht aufgehoben. Und so beschreiben ukrainische | |
| Medien detailliert, was derzeit nicht zu befürchten sei. Es sei keine | |
| allgemeine Mobilisierung zu befürchten, die Präsidentschaftswahlen würden | |
| nicht verschoben, Massenveranstaltungen dürften wie geplant stattfinden. | |
| ## Kein Alkohol zwischen 23 Uhr und 6 Uhr | |
| Es gibt allerdings eine weitreichende Änderung: Die Zentrale | |
| Wahlkommission des Landes hat in den vom Kriegsrecht betroffenen Gebieten | |
| die für den 23. Dezember geplanten Kommunalwahlen abgesagt und auf einen | |
| Zeitpunkt nach Ende des Kriegsrechts verschoben. | |
| An den Grenzen werden nun Personen gründlicher kontrolliert. Russische | |
| Männer zwischen 16 und 60 Jahren dürfen überhaupt nicht mehr einreisen. Das | |
| hat die Ukraine am Freitag beschlossen. Damit wolle man eine Invasion | |
| verhindern, sagte Präsident Petro Poroschenko. Bereits am Montag waren 70 | |
| russische Staatsbürger an der Grenze abgewiesen worden. | |
| Eine Reihe von Gesundheitseinrichtungen muss außerdem Betten bereitstellen, | |
| die vorrangig für das Militär gedacht sind. Das Verbot des Fotografierens | |
| militärischer Einrichtungen wird verschärft. Außerdem dürfen keine | |
| Ausländer mehr auf die Krim reisen, dies ist nur noch für Ukrainer möglich. | |
| Die kommunalen Behörden gehen unterschiedlich mit dem Kriegsrecht um. So | |
| haben die Behörden des Bezirks Sumy ein Verbot des Verkaufs von Alkohol | |
| zwischen 23 Uhr und 6 Uhr erlassen. An Uniformierte darf nun in Sumy | |
| überhaupt kein Alkohol mehr verkauft werden. Das Kriegsrecht bietet | |
| Behörden mehr Möglichkeiten, ihren Spielraum bei der Einschränkung von | |
| Freiheitsrechten zu nutzen. | |
| So berichtet der Radiosender Hromadske am Donnerstag von Aktivisten in | |
| Odessa, die schon seit geraumer Zeit gegen einen Neubau kämpfen. Doch kaum | |
| war das Kriegsrecht eingeführt, verhielt sich die Polizei härter, drohte | |
| den Aktivsten, bei einer Fortführung der Aktion würden sie die Bestimmungen | |
| des Kriegsrechtes anwenden. Außerdem wurde in Odessa ein Kandidat für die | |
| Präsidentenwahl von 30 Schlägern angegriffen. Aktivisten machen dafür auch | |
| das Kriegsrecht verantwortlich, denn das verschaffe dem berüchtigten | |
| Oberbürgermeister, der mit dem Präsidenten verbündet ist, noch mehr Macht. | |
| Die Krise zwischen Russland und der Ukraine ist auch Thema auf dem | |
| G20-Gipfel. US-Präsident Donald Trump sagte ein Treffen mit Wladimir Putin | |
| ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel will dagegen am Samstag mit dem | |
| russischen Präsidenten sprechen. | |
| 30 Nov 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
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