# taz.de -- Weltnomadenspiele in Kirgistan: Auch Deutsche unter den Teilnehmern | |
> Tote Ziegen jagen, Knochenwerfen und Horsewrestling: Unser Autor hat an | |
> den Weltnomadenspielen in Kirgistan teilgenommen. | |
Bild: Unser Autor tritt in der Disziplin Toguz Korgol an. Angeblich haben die z… | |
Tscholoponata taz | Der Tag, der mich für eine Woche bewusst zu einem | |
Deutschen macht, beginnt mit einer Sicherheitskontrolle vor dem Stadion, in | |
dem normalerweise zwölf Reiter eine tote Ziege jagen, knapp 6.000 Kilometer | |
entfernt von Berlin. | |
Es ist Anfang September, die Mittagssonne wirft ein grelles Licht auf | |
Tscholponata, die kleine Stadt am Fuße des Bergsees Yssykköl, und ein | |
eifriger Polizeibeamter greift nach meinem grünen Badge mit dem Aufdruck | |
„Athlete“, mustert das Foto, dann mich und fragt schließlich: „Germanija… | |
Ich nicke. „Willkommen“, sein Mund verbreitert sich zu einem Grinsen und er | |
schiebt mich durch die Sicherheitskontrolle, hinein in ein wildes | |
Durcheinander aus bunten Farben und unbekannten Sprachen. | |
Schaschlikrauch weht mir entgegen. Orientierungslos stehe ich zwischen | |
Mongolen in bestickten Gewändern und zwei pakistanischen Ringern, die für | |
Fotos posieren. Wie jemand, der unverkleidet auf eine Faschingsparty | |
gegangen ist. Noch bin ich unsichtbar, man kann mir die Nationalität nicht | |
an der Kleidung ablesen, aber in Gedanken sehe ich schon die deutsche | |
Flagge, wie sie über mir im Wind flattert, wenn ich zusammen mit 1.500 | |
anderen Sportlern in das Stadion einlaufe. Ich bin in Kirgistan, zur | |
Eröffnung der Weltnomadenspiele 2018, einer Art Olympiade für | |
traditionelle, nomadische Wettkämpfe. | |
Wobei die Bezeichnung Sportler in meinem Fall nicht ganz zutreffend ist, | |
denn körperlich herausfordernd ist die Disziplin, in der ich antrete, | |
wirklich nicht. In der Regel sitze ich dafür auf einem bequemen Stuhl, vor | |
mir ein Tisch mit einem hölzernen Spielbrett, darauf 162 nussähnliche | |
Murmeln und mir gegenüber ein Mensch, der gerne die Mehrheit dieser Murmeln | |
für sich haben würde. Dieses Spiel nennt sich Toguz Korgol, es gehört zur | |
Gruppe der Mankalaspiele und angeblich haben die zentralasiatischen Nomaden | |
es schon vor Hunderten von Jahren gespielt. | |
Es ist eine der ungefährlicheren Disziplinen bei den Nomadenspielen. Andere | |
Sportarten wie Falkenjagd, Horsewrestling oder Kok Boru – eine Art | |
Pferdepolo, das mit einer toten Ziege gespielt wird – sind da schon | |
spektakulärer. Für die Kirgisen sind die Spiele so etwas wie ein Volksfest. | |
Das ganze Land ist im Ausnahmezustand, wenn am Yssykkölsee eine Woche lang | |
Bogenschützen, Reiter oder Ringer gegeneinander antreten. | |
Das Herz der Nomadenspiele befindet sich in der Hochebene Kyrtschyn, | |
zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Tianshangebirges, etwa eine Stunde | |
entfernt vom Stadion. Hier finden Disziplinen wie Bogenschießen, Falkenjagd | |
oder Ordo statt – Knochenwerfen. Ein Dorf aus Jurten, zwischen denen sich | |
kleine Jungen mit Adlern auf den Armen tummeln und in dem es überall nach | |
gegrillten Lammspießen riecht. Es gibt eine hölzerne Bühne, auf der Gesang- | |
und Kostümwettbewerbe stattfinden, und einen „Ethnomarkt“, auf dem man | |
Wolfsfelle und Stutenmilch kaufen kann. Es ist das Kirgistan, wie man es | |
aus Filmen kennt, das Jurtendorf symbolisiert, worum es gehen soll bei den | |
Spielen: um die Pflege nomadischer Traditionen und Lebensweisen. | |
Ein Teil des deutschen Teams hat sein nomadisches Erbe irgendwo zwischen | |
Mittelalter und Oktoberfest verortet. Da ist Frank, der Bogenschütze, der | |
eigentlich aus Berlin-Lichtenberg kommt und nur hier Lederhosen trägt, weil | |
„hier passt dit irgendwie“. Da sind der Michi und der Stefan aus | |
Regensburg, drei Bogenschützinnen, die alle zu verschiedenen Turnieren auf | |
der ganzen Welt reisen. Zwei Ringer, Lehrer Viktor mit seiner Gruppe | |
Tänzerinnen und Tänzer, die extra für das Pausenprogramm eingeflogen wurden | |
und alle aus russlanddeutschen Familien stammen und Deutschlandkappen | |
tragen. Und eben wir, die drei Brettspieler, mein Freund Jojo, Katharina | |
und ich, die wir so völlig aus der Reihe fallen, ohne irgendetwas, das | |
erkennbar auf unser Zugehörigkeit zum deutschen Team hinweist. | |
## Wie ein Faschingszug | |
Als Frank gerade die Legende über den Yssykkölsee mit dem Satz „Ik find dit | |
so ne geile Jeschichte“ beendet hat, setzt sich die Kolonne langsam in | |
Bewegung, hinunter auf die Sandbahn, vorneweg Frank, die Fahne schwenkend. | |
Wieder das Gefühl: wie ein Faschingszug. Dann wird es plötzlich hell, denn | |
wir laufen in ein Meer aus Scheinwerfern, „Germanija. Germany“ ertönt es | |
aus den Lautsprechern, die Zuschauer jubeln uns zu. Vor mir winken die | |
beiden Frauen im Dirndl in Richtung Tribüne, eine der beiden ermahnt mich, | |
nicht aus der Reihe zu tanzen („Das sieht scheiße aus“), Katharina filmt, | |
Viktor, der Tanzlehrer, springt wild herum wie einer, der zu lange | |
stillgestanden ist, die Zuschauer flippen aus, also winke ich einfach auch, | |
und es fühlt sich gar nicht so komisch an wie gedacht. | |
Wir laufen vorbei an der VIP-Tribüne, ich spüre, wie meine Hand inzwischen | |
automatisch winkt, als wäre sie darauf programmiert, und erst später | |
erfahre ich, dass sie auch dem türkischen Präsidenten Erdoğan zugewinkt | |
hat, und ich verfluche sie für dieses unpolitische Gewinke. Aber nach drei | |
Minuten ist alles vorbei, bis auf Frank, der sich mit den anderen | |
Fahnenträgern in der Mitte des Stadions positioniert, werden wir | |
hinausgeleitet. Als der kirgisische Präsident die Spiele offiziell | |
eröffnet, sitze ich schon wieder im Bus zurück zum Hotel. Hinter mir höre | |
ich den türkischen Ringer, der irgendwas von „Schweinsteiger“ und | |
„Schnitzel“ erzählt, aber da fallen mir schon die Augen zu. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass ich so weit gereist bin, um Murmeln über | |
ein hölzernes Spielbrett zu bewegen. Vor zwei Jahren fanden die Spiele zum | |
zweiten Mal statt. Ich machte zu der Zeit gerade ein Praktikum bei einer | |
deutschen Zeitung in Kasachstan, und der Kollege meiner Chefin, Moritz, | |
damals Sprachassistent am Goethe-Institut in Bischkek, war eingeladen | |
worden, an den Spielen teilzunehmen. Einzige Bedingung: Er müsse ein | |
Brettspiel namens Toguz Korgol spielen. | |
Wie Moritz darauf kam, mich mitzunehmen, weiß nicht mehr. Jedenfalls saß | |
ich zwei Wochen nach meiner Zusage einem liebenswerten, aber auch etwas | |
kurzsichtigen älteren Tschechen gegenüber und gewann zu unserer beider | |
Überraschung meine allererste Partie eines Spiels, dessen Namen ich mir | |
nicht merken konnte (Toguz was?) und dessen Regeln mir Moritz erst einen | |
Abend zuvor bei einem Bier erklärt hatte („Also es gibt auf jeder Seite | |
neun Kasane mit jeweils neun Korgols und das Ziel ist es, mindestens 82 | |
Korgols zu gewinnen. Dann gibt es noch den Tuss, das ist eine Art Joker, | |
aber den kann man nur legen, wenn …“). | |
Ein Foto dieses Aufeinandertreffens hängt nun in der Küche meiner Berliner | |
Wohnung – für mich war meine kurze und klanglose Toguz-Korgol-Karriere | |
damit beendet. Ich hatte daher zunächst gezögert, als Moritz mich fragte, | |
ob ich wieder mitkommen würde – aber kann man so etwas wirklich absagen? | |
Nein. Das ist jetzt halt mein Ding, dachte ich mir. So wie andere nach | |
Indien fliegen, um zu meditieren, oder nach Spanien, um sich mit Tomaten zu | |
bewerfen. | |
Kurz vor dem Flug hatte ich zum ersten Mal die App für Toguz Korgol, die | |
ich bis dahin für unbesiegbar gehalten hatte, geschlagen. Der Ehrgeiz aus | |
Fußballerzeiten meldete sich zurück, in Gedanken liebäugelte ich schon mit | |
einem Platz unter den ersten Zehn. Und dann waren wir schon da: Unser | |
Hotel, in dem auch die Spiele stattfinden, ist ein nagelneuer Komplex, | |
bestehend aus identischen Ferienhäusern. Eines davon teile ich mir mit | |
anderen deutschen Brettspielern, einem holländischen Pärchen, das – so wie | |
ich letztes Mal – schon am Namen Toguz Korgol verzweifelt und nun trotzdem | |
hier gelandet ist, weil Freunde den Spielleiter in Bischkek kennen. Und mit | |
Aibek aus Russland, der hier am Yssykkölsee geboren ist. | |
## Ein paar Russen in Badehosen | |
Bis zum Strand sind es nur wenige Meter. Davor liegt das türkisklare Wasser | |
des Yssykkölsees, des zweitgrößten Bergsees der Welt und Kirgistans größter | |
Schatz. Yssykkölsee bedeutet übersetzt warmer See. Was ein Witz ist, denn | |
richtig warm wird das Wasser hier, auf 1.500 Metern, nicht einmal im | |
Hochsommer. Im Norden ragen die kantigen, schneebedeckten Gipfel des | |
Tianshangebirges in den Himmel, als hätte man sie ausgeschnitten und auf | |
blauen Hintergrund geklebt. | |
Bis auf ein paar Russen, die in Badehosen um Bierdosen stehen, und einem | |
Angler, der morgens einsam am Wasser sitzt, ist der Strand die meiste Zeit | |
leer. Am Rand liegt eine unbenutzte Hüpfburg wie ein geplatzter Luftballon, | |
daneben sind einige Tretboote und Jetskis. Die Hauptsaison ist vorbei, die | |
Luft schon kühl, nur die Sonne wärmt noch immer. | |
Ich fühle mich wie bei einem Sanatoriumsaufenthalt. Der Tag hier hat einen | |
klaren Rhythmus: Neun Uhr Frühstück, 13 Uhr Mittagessen, 19 Uhr Abendessen. | |
Dazwischen schwimmen, Gemeinschaftsaktivitäten und Toguz Korgol spielen. | |
Auf den kleinen Wegen zwischen Rosenbeeten und Akazien, auf denen sich | |
Eichhörnchen jagen, begegnet man anderen „Patienten“ mit Handtuch und | |
Badeschlappen. Da ist zum Beispiel der Hüne aus dem Commonwealthstaat | |
Antigua und Barbuda, der eigentlich wegen des afrikanischen Spiels Oware | |
hier ist und dessen stoischer, geistesabwesender Blick mich bei den letzten | |
Spielen so aus dem Konzept gebracht hatte, dass ich mich mehrmals verzählt | |
habe. Da ist Oskar aus Kolumbien, der einen Klub für intellektuelle Spiele | |
leitet und der hier eine Art Held ist, weil er der Einzige ist, der nicht | |
aus Zentralasien stammt und trotzdem eine Ahnung von Toguz Korgol hat. Oder | |
die beiden Typen aus Sri Lanka, die eigentlich nur die indische Variation | |
von Mankala spielen und die man nur zu zweit antrifft. Auch abends, wenn | |
alle in ihre Häuschen verschwinden, sitzen sie am Steg und trinken Bier mit | |
Whiskey. | |
Und dann natürlich die Kirgisen, Kasachen und Mongolen, die Profis in ihren | |
uniformen Trainingsanzügen, die man nur während der Mahlzeiten sieht. Für | |
sie geht es hier um etwas. Um den Sieg, um die Ehre, aber auch um Geld. | |
Immerhin 70.000 Som, das sind knapp 900 Euro, bekommt der Erstplatzierte. | |
Das ist ungefähr so viel wie das durchschnittliche Einkommen für ein halbes | |
Jahr. | |
Zwei Jahre lang wurden die besten Spieler Kirgistans ausgewählt, erzählt | |
mir einer der Schiedsrichter. Einer ist erst 14 Jahre alt, und mir wird | |
etwas unwohl bei dem Gedanken, von einem Zehntklässler abgezogen zu werden. | |
Aber es ist nicht nur das. Ich spüre auch so etwas wie Scham, nur zum Spaß | |
hier zu sein, während es für die Kirgisen eine Ehre ist, an den Spielen | |
teilzunehmen. | |
## „Please start now!“ | |
Dieses Gefühl verfolgt mich auch am nächsten Morgen, als wir alle im | |
Spielsaal über der Kantine des Hotels in zwei Reihen vor den zugehörigen | |
Fahnen stehen und ich noch den Wodka der letzten Nacht in meinem Atem | |
spüre. Warum wir auch gerade einen Abend vor Spielbeginn in der Disco des | |
Nachbarhotels zu russischen Popsongs tanzen mussten? Dann ertönt die | |
kirgisische Hymne und der Vizepräsident der internationalen | |
Spielervereinigung, der am vorigen Abend auch einer der letzten auf der | |
Tanzfläche war, hält seine Eröffnungsrede. | |
Der sterile Hotelraum mit dem grünen Teppichboden, die kirgisischen | |
Schiedsrichter mit ihren golden verzierten Westen und den langen Hüten, die | |
zwischen den Tischen umhergehen. Vor mir das hölzerne Spielbrett mit den | |
162 Murmeln. Alles ist in etwa so, wie ich es in Erinnerung hatte. Nur | |
sitzt mir dieses Mal Ezzeddine Bouzid aus Tunesien gegenüber, Professor für | |
Mathematik und Unesco-Experte für intellektuelle Spiele. Während er mir von | |
seiner Doktorarbeit über intellektuelle Spiele in der Antike und im 20. | |
Jahrhundert erzählt, schiele ich zu dem roten Siegertreppchen am Ende des | |
Raums und stelle mir vor, was hier wohl los wäre, wenn da ganz oben statt | |
eines Kasachen oder Kirgisen plötzlich ein unbekannter Deutscher stünde. | |
Der Beginn einer großen Karriere! Endlich hätte ich einen Grund, mein | |
Studium zu schmeißen und mein Leben lang … | |
„Please start now!“ Die Stimme des Spielleiters reißt mich aus meinen | |
Träumereien. Ezzedine Bouzid fährt die Hand aus, greift nach neun Murmeln, | |
lässt sie, die Hand leicht zittrig, aber ohne eine einzige zu verlieren, | |
eine nach der anderen zielsicher in die Kuhlen fallen – bis er die letzte | |
erreicht hat, sich den Inhalt schnappt und mit der anderen Hand auf die Uhr | |
drückt: Acht auf sieben, die Standarderöffnung. | |
Nach knapp 90 Minuten habe ich den Professor für Mathematik geschlagen. | |
Auftaktsieg, denke ich. Und dann kommt Akim, der Schiedsrichter, der zu | |
DDR-Zeiten als Soldat der Sowjetarmee in Ravensbrück stationiert war, | |
grinsend auf mich zugelaufen, „ich beglückwünsche dir“. | |
Mein nächstes Spiel gegen den dreimaligen Weltmeister aus Kasachstan findet | |
an einem jener Tische statt, deren Geschehen live per Kamera übertragen | |
wird. Hier läuft es weniger gut und ich bin froh, als mich mein | |
gelangweilter Gegner nach fünfzig Minuten endlich gehen lässt. Auch gegen | |
den schlaksigen Amerikaner, der so fürchterlich zittert, dass ich mich | |
frage, ob er mich fürchtet oder ihm einfach nur kalt ist, verliere ich | |
schließlich. | |
Doch dann, am vierten Tag, endlich das erhoffte Erfolgserlebnis: Einen der | |
beiden Teilnehmer aus Sri Lanka locke ich erfolgreich in eine Falle. Als er | |
es merkt, ist es schon zu spät und die Mehrheit der Murmeln liegt auf | |
meiner Seite. „Okay, okay, no problem“, sagt er nur und flieht in die Obhut | |
seines Teamkollegen. | |
## Die Liebe zu den Traditionen | |
Wir Brettspieler leben hier gewissermaßen in unserem eigenen kleinen | |
Kosmos, abgeschnitten von den anderen Athleten und ohne Anwesenheit von | |
Zuschauern. Man denkt vermutlich, dass wir viel Ruhe brauchen, um unsere | |
intellektuellen Fähigkeiten zu schonen. Dafür hat man uns ein eigenes | |
Programm organisiert. Abends gibt es Workshops für afrikanische und | |
asiatische Brettspiele, nachmittags eine Bootstour. | |
Während wir so unsere Tage verbringen, finden im nahegelegen Stadion | |
Pferderennen, Horsewrestling und Kok Boru, das Spiel mit der toten Ziege, | |
oder auch „Rugby on a horse“, wie die Amerikaner sagen, statt. Dabei steht | |
der Sieger schon vorher fest: Kirgistan. Vor zwei Jahren war ich beim | |
Finale zwischen Kirgistan und Kasachstan dabei. Damals fand ich es noch | |
skurril, wie das Publikum feierte, wenn die Reiter an dem Kadaver zerren, | |
ihn förmlich zerreißen, ihn sich dann einer unter den Oberschenkel klemmt | |
und schließlich per Salto samt dem toten Tier in einem der Bottiche landen. | |
Doch für die Kirgisen geht es hier um mehr als nur Unterhaltung. Die | |
Nomadenspiele sind Teil eines Landes auf Identitätssuche. „Ich bin so stolz | |
auf unser kleines Land. Die ganze Welt kann sehen, wie großartig unsere | |
Traditionen sind“, sagt mir ein Kirgise am Rande der Abschlussparty in der | |
VIP-Lounge des Stadions am vorletzten Abend. | |
Für einen Moment steht sein Heimatland im Mittelpunkt. Dieses Land, das | |
zeigen will, dass es trotz siebzig Jahren Sowjetregime seine eigene | |
Identität bewahrt hat. Und das seine Zukunft nun doch wieder in der | |
Vergangenheit sucht. „Wir müssen uns an unsere Geschichte erinnern“, sagt | |
er. | |
Auf dem Dancefloor wippen ein paar betrunkene Schweden hin und her. Mein | |
letzter Gegner aus Ski Lanka tanzt mit ausgestreckten Armen in einem Kreis | |
von Bewunderern und schüttelt den Kopf dabei wie jemand, der die Kontrolle | |
über seinen Körper an eine höhere Macht abgetreten hat – oder wie jemand, | |
der Bier mit Whiskey trinkt. Ich sitze mit Katharina und einem bulgarischen | |
Bogenschützen an einem der weißglänzenden Tische. Er erzählt von seiner | |
Begeisterung für Pferde, der Liebe zu den Traditionen. In Sofia | |
unterrichtet er Kinder. Er sagt: „Sie vergessen ihre Wurzeln. Überall gibt | |
es den denselben amerikanischen Scheiß.“ | |
## Warum sind Erdoğan und Orbán hier zu Gast? | |
Und wieder einmal frage ich mich: Wie viel von diesem Event ist Show? Wie | |
viel Fasching, wie viel Politik? Wie vielen geht es hier um kulturelle | |
Identität durch Abschottung, als Gegenentwurf zu Multikulti? Und warum sind | |
ausgerechnet Erdoğan und Orbán hier zu Gast? Dabei sind ja gerade Nomaden | |
Völker, die schon immer Grenzen überschritten haben. Die man gar nicht | |
einem bestimmten Land zuordnen kann. | |
Als Teilnehmer fühle ich mich ein bisschen wie während meines ersten | |
Erasmus-Semesters in Krakau: ständig diese lästige Frage: „Where are you | |
from?“, die ollen Klischees über Deutsche, Italiener oder Franzosen. Am | |
Ende lernt man die Länder doch auf eine ganz neue Art kennen – und ist | |
gleichzeitig dafür verantwortlich, welches Bild von Deutschland im Ausland | |
vorherrscht. So auch, wenn unser kirgisischer Zimmernachbar Aibek am ersten | |
Tag ungläubig fragt, ob Katharina aufgrund ihrer Hautfarbe wirklich | |
Deutsche ist, und Moritz ihm ganz ruhig erklärt, dass nicht alle Deutschen | |
blond und blauäugig sind. | |
Für viele Kirgisen ist es die erste Begegnung mit Ausländern aus dem | |
Westen, die sie sonst nur aus dem Fernsehen kennen. Man spürt die Neugier – | |
und die Freude darüber, dass sich Menschen für ihr Land und ihre Kultur | |
interessieren. Manche können gar nicht glauben, dass es im Ausland Leute | |
gibt, die schon mal von Toguz Korgol gehört haben. | |
Toguz Korgol: Am Ende hat mich dann noch mal der Ehrgeiz gepackt. Ich | |
gewinne die letzten drei Partien. Gegen den Typ aus Uganda mit dem ernsten | |
Blick, gegen den Schweizer Psychologieprofessor, der schon seit zehn Jahren | |
spielt. Und auch gegen den Knirps aus Russland, dessen genau berechnete | |
Strategie am Ende doch nicht aufgeht. | |
Ich werde Zwölfter! Selbst Kubat, unser Trainer, der auch schon letztes Mal | |
dabei war – weniger um uns zu coachen, als um selbst eine Woche | |
Nomadenspiele erleben zu dürfen – schaut mich ungläubig an. Ganz oben aber | |
stehen natürlich wieder Kirgisen, Kasachen und Mongolen. Ein Deutscher | |
hätte da auch wirklich nichts verloren. | |
1 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Paul Toetzke | |
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