# taz.de -- World Nomad Games in Kirgistan: Mehr Kadaverkontrolle | |
> Reiterwettstreit mit totem Tier: Bei den dritten World Nomad Games | |
> gewinnt der Gastgeber Kirgistan das Prestigeduell im „Kök Börü“ – | |
> Ziegen-Polo. | |
Bild: Angetreten wird auf den World Nomad Games in 37 verschiedenen Disziplinen | |
Cholpon-Ata taz | Ein klarer Montagmorgen im Hippodrom von Cholpon-Ata; die | |
Wolken hängen noch in den Berggipfeln, die hinter dem Issyk-Kul-See in die | |
Höhe ragen. Aus der Stadionanlage dröhnt ein Männerchor, der in gutturalem | |
Gesang zwei kirgisische Schlagworte wiederholt: Ey Jigitter, ooh Kök Börü – | |
Männer, auf geht’s zum Kök Börü. Fahnenschwenkend galoppieren die Teams d… | |
Gastgebers Kirgistan und der Mongolei in die Arena, berühren jeweils kurz | |
ihren Tay Kazan, ein kesselförmiges Äquivalent zum Tor im Fußball, und | |
begrüßen das Publikum. Dann geht es los: Eine tote Ziege wird in die Mitte | |
des Feldes geworfen. Auf Pfiff des Schiedsrichters reiten beide Teams auf | |
sie zu und versuchen den Kadaver vom Boden zu hieven. Es ist der Auftakt | |
der dritten World Nomad Games, der Olympiade für nomadische Sportarten. | |
Die groben Regeln des Kök Börü sind schnell erklärt: Man braucht einen | |
frisch geschlachteten, kopflosen und rund 35 Kilogramm schweren | |
Ziegenkadaver, eine Fläche von ungefähr anderthalb Fußballfeldern mit einem | |
Tay Kazan von 80 Zentimetern Durchmesser an beiden Enden des Spielfelds | |
sowie zwei Teams aus jeweils vier Reitern. Gewinner ist, wer in dreimal 20 | |
Minuten öfter die Ziege im gegnerischen Tay Kazan versenken kann. Mit | |
leichten Abweichungen wird der Sport in vielen Ländern Zentralasiens | |
gespielt. Oft wird er als Ziegen-Polo bezeichnet, dabei ähnelt der Sport | |
taktisch und in seiner Intensität eher körperbetonten Ballsportarten. | |
Zwar wurde dieses Jahr mit zwölf Teilnehmerländern, inklusive Teams aus | |
Frankreich und den USA, ein so breites Feld wie noch nie gestellt – wenn | |
alles normal läuft, machen aber Kasachstan und Kirgistan die Turniersiege | |
unter sich aus. Während die kasachischen und kirgisischen Spieler nahezu | |
mühelos im Galopp kopfunter vom Pferd hängend den schweren Ziegenkörper auf | |
den Sattel hieven, fällt es den kleineren Teams deutlich schwerer, die | |
Ziege zu kontrollieren. | |
Das eigentlich dynamische Spiel wirkt dann wie eine zähe Aneinanderreihung | |
schmerzhafter Slapstickeinlagen. Es gleicht einem Wunder, dass sich in | |
Cholpon-Ata bei all den Abwürfen und dem brutalen Ineinanderrasseln von | |
Tier und Mensch niemand ernsthaft verletzt. | |
## Kampf der nomadischen Kulturen | |
Die größeren Stars sind meist die Pferde. Die Namen Boyka, Tornado und | |
Achilles kennt in der Arena jeder Fan. Bei Transfers innerhalb der | |
nationalen Profiligen werden teils bis zu sechsstellige Dollarbeträge | |
gezahlt. Seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren hat der kirgisische | |
Kök-Börü-Verband kontinuierlich an der Professionalisierung des Sports | |
gearbeitet. Mittlerweile gibt es ein standardisiertes Regelwerk – welches | |
allerdings nur für Kirgistan gilt. In Kasachstan heißt Kök Börü Kökpar und | |
statt mit Tay Kazans wird nur mit Tormarkierungen auf dem Boden gespielt. | |
Die marginalen Unterschiede der Traditionen hat eine große Rivalität | |
hervorgerufen, wer die reinere Form nomadischer Kultur pflegt. Dieses Jahr | |
sorgte die kasachische Mannschaft für Aufsehen, als sie aus Protest gegen | |
die Anwendung der kirgisischen Regeln zunächst nicht zu ihrer ersten Partie | |
erschien. | |
Das kasachische Team tritt letztlich doch an. Bereits nach elf Sekunden | |
liegt die Ziege zum ersten Mal im Tay Kazan des Gegners Krasnoyarsk. Der | |
kasachische Jungstar Kurmanbek Turganbek ist schlicht nicht in den Griff zu | |
bekommen. In einer flüssigen Bewegung rast er auf die Ziege zu, zieht sie | |
auf sein Pferd und klemmt sie kontrolliert zwischen seinem Oberschenkel und | |
dem Pferderücken ein. Zwei Reiter sprinten ihm hinterher, doch mit totaler | |
Kontrolle über sein Pferd stoppt er plötzlich und vollzieht eine elegante | |
Wende, die seine Verfolger aus ihren Satteln fallen lässt; Turganbek kann | |
die Ziege in aller Ruhe im Kessel platzieren. Insgesamt trifft er zwölf Mal | |
und erntet damit sogar den Applaus des kirgisischen Publikums. | |
## Professionell statt spirituell | |
Für den Historiker Eleri Bitikci ist die Rivalität um Kök Börü ein Ausdruck | |
für die Identitätssuche postkolonialer Gesellschaften: „Wir sind ein Volk | |
mit kolonialem Trauma, wir brauchen jemanden, gegenüber dem wir uns | |
überlegen fühlen können.“ Seit der Unabhängigkeit habe man sich wieder | |
stärker auf nomadische Ideale der vorsowjetischen Zeit berufen. | |
„Ursprünglich ging es bei Kök Börü um Harmonie. Man opfert eine Ziege und | |
kämpft erbarmungslos, doch nach dem Spiel sitzt man gemeinsam mit den | |
Gegnern an einem Tisch und isst die Ziege.“ Heute fehle diese spirituelle | |
Komponente; Kök Börü sei schlicht ein professioneller Sport, der von der | |
Politik für die Nationenbildung genutzt werde. Der Präsident des | |
Kök-Börü-Verbands ist einflussreich im Land, weil er über ein großes | |
Netzwerk verfügt – gespielt wird schließlich in jedem Dorf. Tritt der | |
Staatspräsident ab, wird auch im Verband ein neuer Vertrauter installiert. | |
Zurück nach Cholpon-Ata. Es passiert das Unfassbare: Kasachstan unterliegt | |
Usbekistan im Halbfinale 4:5. Das Publikum fühlt sich etwas um das | |
Traumfinale betrogen. Schnell kursieren Gerüchte, das Team hätte verloren, | |
um einer deftigen Niederlage gegen Kirgistan zu entgehen. Der kasachische | |
Anthropologe und Kökpar-Experte Ulan Bigozhin erklärt, Kasachstan sei nur | |
mit einem C-Team angetreten. „Die World Nomad Games sind von kasachischen | |
Offiziellen schon immer etwas belächelt worden – ein Turnier vom kleineren | |
und ärmeren Nachbarn im Süden ausgerichtet, bei dem es vergleichsweise noch | |
nicht einmal um großes Preisgeld geht, dafür sind die Stars bei uns kaum zu | |
motivieren.“ | |
So gerät das Finale zur Farce. Im vollbesetzten Hippodrom führt der | |
Gastgeber das usbekische Team im ersten Drittel regelrecht vor. Am Ende | |
gewinnen die Kirgisen mit 32:9. Bei den Fans herrscht indes Hoffnung, dass | |
es 2020 bei der nächsten Ausgabe der World Nomad Games wieder spannend | |
wird. Erstmals werden die Spiele nicht von Kirgistan, sondern von der | |
Türkei ausgerichtet. Auf neutralem Grund vor größerem Publikum zu | |
triumphieren, dürfte die beiden größten Kök-Börü-Nationen zusätzlich | |
motivieren. | |
9 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Dénes Jäger | |
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