# taz.de -- Die Wahrheit: Die Adventskalender des Grauens | |
> Ein informativer Streifzug durch die völlig vermüllte Welt der 24 Türchen | |
> unter besonderer Berücksichtigung von Oswalt Kolle selig. | |
Bild: Advent, Advent, ein Lichtlein brennt – und es kommt knechtruprechtknüp… | |
„Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der | |
kleine Johann verfolgte mithilfe des Adventskalenders, den Ida ihm | |
angefertigt und auf dessen letztem Blatte ein Tannenbaum gezeichnet war, | |
pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.“ | |
Thomas Mann, der Autor der vorstehenden Zeilen der „Buddenbrooks“, konnte | |
noch nicht ahnen, wie es dereinst in „der unvergleichlichen Zeit“ aussehen | |
würde. Mann hatte keinen blassen Schimmer davon, wie es in der ersten | |
Hälfte des 21. Jahrhundert, also heute, um den wohl seltsamsten aller | |
Kalender, den Adventskalender, bestellt sein würde. Wir erinnern uns: Wenn | |
Schlag Mitternacht, also morgen, deutschlandweit Süßes und Klebriges, | |
Putziges und Schreckliches zutage kommt, dann ist weder Thomas Mann noch | |
Jens Spahn noch der Bundesverband für die Immobilienwirtschaft oder gar die | |
Kanzlerin selbst daran schuld. | |
Es handelt sich einzig und allein um eine jahreszeitlich bedingte, superb | |
verpackte Verirrung der internationalen Kalenderindustrie. Dieser | |
Wirtschaftszweig, weltweit Timer-Branche genannt, strebt ab Ende August | |
jeden Kalenderjahres diversen orgiastischen Kaufhöhepunkten zu. Ob | |
kuschelige Küken- oder vegane Oldtimer-oder virtuelle | |
Küchengeräte-Kalender: Die globale, schwer zeitlose und dann auch wieder | |
voll im Trend liegende Kalenderbranche vermüllt jedes Mal weltweit | |
Buchläden und Tankstellen, Gabentische und Amtsstuben. | |
Am knechtruprechtknüppeldicksten kommt es kalenderverkaufstechnisch bedingt | |
zum Ende des schnöden Monats November. Am | |
allerknechtruprechtknüppeldicksten kommt es dabei im deutschen Sprachraum, | |
der in diversen Lexika stets noch als „christlich orientiert“ definiert | |
wird. Denn hier ist der Adventskalender als Zählhilfe beliebt für den | |
darauffolgenden Monat Dezember (wichtig: 1 bis 24!). Auch dient er als | |
Zeitmesser – merke: noch 23 bis 1 Tag(e) zum Fest! Und das nicht nur für | |
begriffsstutzige, verfressene Kinder, sondern auch für ebensolche | |
Erwachsene. | |
## Kreide fressen auf dem Weg zum Fest | |
Die ersten Prototypen des adventlichen Kalenders stammten einst aus dem | |
Umfeld des Hengstes des Neuen Testaments, genannt Martin Luther. So hängten | |
lutherische Familienoberhäupter bereits im 16. Jahrhundert ihre 24 Bilder | |
an die Wand. Woher die frommen Ernährer die Zeit und die Muße nahmen, 24 | |
Kritzeleien an die schlichten Katenmauern zu pinseln, bleibt ihr Geheimnis. | |
Simpler war auf alle Fälle die damals ebenfalls existierende Variante, 24 | |
Kreidestriche an Wand oder Tür zu malen. Täglich durfte dann die darbende | |
Brut einen Strich in Richtung Fest der Liebe wegwischen. Man stelle sich | |
vor, wie sich unsere heutige, doch arg konsumorientierte Jugend dazu | |
positionieren würde! | |
Bei den eigentlich barocken Katholen hingegen wurden um das Jahr 1500 | |
aufwärts ganz bescheiden Strohhalme in die Krippe gelegt, für jeden Tag | |
einer, und das bis Heiligabend. Gott sei Dank waren die noch nicht aus | |
Plaste. An Weihnachten wurde dann aus den Strohhalmen lecker, und | |
selbstverständlich in Familie, Sangria geschlürft. | |
So oder so ähnlich steht es zumindest beim einst medienschaffenden Oswalt | |
Kolle. Der mittlerweile verstorbene Wahlholländer hat sich wohl nach seinem | |
Seniorenstudium in einer ursprünglich auf Niederländisch verfassten | |
Magisterarbeit von 1998 intensiv mit dem Thema „Jahreszeitliche | |
Gesellschaftsbräuche zwischen 1500 und 1968“ befasst. | |
Für die Zeit des Nationalsozialismus etwa dechiffriert Kolle darin den | |
Kalender „Vorweihnachten“, den die Reichspropagandaleitung der NSDAP | |
jährlich anfertigen ließ. Hier fanden sich Rezepte für sogenanntes | |
Sinngebäck und Basteltipps für krachhölzernen Weihnachtsbaumschmuck in Form | |
von Runen oder Sonnenrädern. Aber auch Pläne für Klausenbäume aus Erdäpfeln | |
sowie für „Weihnachtsgärtlein“, als Ersatz für die Tannenbaumkrippe, wur… | |
penetrant verbreitet . | |
## Flächendeckender Hass auf Schoko-Adventskalender | |
Kolle, Antifaschist und zeitweiliger Bettelmönch, geht in seinem | |
engagierten Schlusswort hart ins Gericht mit der „bereits in den 1920er | |
Jahren einsetzenden Abkehr von der religiösen und sinnstiftenden | |
Bebilderung adventlicher Kalender zugunsten profaner, lebensweltlicher, | |
zuweilen faschistischer Motive“. Besonders wütend zeigt sich Oswalt Kolle | |
in seinem wissenschaftlichen Werk jedoch über die „ab 1958 stattfindende | |
Vergegenständlichung der einzelnen Türchen in Form von Schokolade und | |
anderem kalorienhaltigen Süßkram“. | |
60 Jahre Schoko-Adventskalender – sollte es da nicht besser heißen: Hoch | |
die Kakaotassen? Doch Kolle kommt zu einem anderen, einem für ihn | |
niederschmetternden Fazit. Er schreibt am 30. November 1998 ernüchtert von | |
allem: „Der Adventskalender der Moderne, er hätte Besseres verdient!“ Ein | |
Fazit, dem sich die Wahrheit dies eine Mal nicht anschließt. Nennt sie doch | |
allein drei Schoko-Adventskalender ihr eigen – zur diesjährigen, mal wieder | |
24 Türchen andauernden Saison. | |
1 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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